Carl Schmitts Formel des Friedens

Der Krieg ist der Kern jedes Völkerrechts. Unter solcher Prämisse untersucht Carl Schmitt in „Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum“ (1950) die Entwicklung des Völkerrechtes seit Antike. Schon im vor-globalen Völkerrecht, also bis Auftauchen von planetarischen Vorstellungen über das Recht der Völker bzw. des internationalen Rechtes, findet Schmitt die Grundsätze der Kriegsführung, deren Fäden sich bis heute strecken. Die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges, die in der modernen Geschichte erstmals die Frage gestellt hat, welcher Krieg gerecht oder ungerecht ist, spielt dabei eine besondere Rolle. Nach der verschiedenartigen Verwertung transformierte sie sich zur modernen Lehre des gerechten Krieges, die nach dem Ersten Weltkrieg zur politischen Agenda der USA und, nach Schmitt, zur größten Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden geworden ist.

Es war Schmitts Schlussfolgerung direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, in der Folge den Kriegen in Jugoslawien, Irak, Libyen, Syrien, Afghanistan, Jemen und Ukraine, steht diese grundsätzliche Frage der Kriegsführung mit neuem Kraft wider: Welche Kriege in der heutigen, sich schnell verändernden Welt als gerechte oder ungerechte Kriege angesehen werden können? (Eine Zusammenfassung des Themas finden Sie unten)

Schmitts Friedensformel in Thesen:

Mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges ist in der Folge der christlichen Missionierung entstanden und sollte spanische und portugiesische Conquista rechtfertigen

Die Ausgrenzung der Welt auf „Freund“ und „Feind“ ist das schwerste Erbe der westlichen Zivilisation

Das Gleichgewicht der souveränen Staaten ist tragende Säule des Friedens

Kriminalisierung des Krieges“ ist die größte Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden

Die Welt ist noch nicht reif für ein universelles Völkerrecht

Neutralität als Rechtsinstitut ist ein wichtiger Bestandteil des Friedens

Es ist wichtig für Frieden, wenn große Politiker ihr Wort halten

Garantie des Friedens ist keine Abschaffung, sondern Hegung des Krieges

Elemente des gerechten Krieges: justus hostis und justa causa

Bei der Erklärung, welcher Krieg gerecht oder ungerecht ist, spielen eine fundamentale Bedeutung die zwei juristischen Begriffe: „justus hostis“ und „justa causa“.

Der Begriff des justus hostis, eines „gerechten Feindes“, definiert Schmitt als rechtlich anerkannten, vom Verbrecher und vom Unmenschen unterschiedenen Feind. Die Fähigkeit, einen justus hostis anzuerkennen, ist für Schmitt der Anfang allen Völkerrechts. Die Frage ist, wer eigentlich ein gerechter oder ungerechter Feind in einem Krieg ist, während die Kriege sehr unterschiedlich sind: von Bürger- und Religionskriegen bis Welt- und Stellvertreterkriegen. Gerechte oder ungerechte Feinde können Kombattanten, Räubern, Partisanen, Separatisten oder Aufständischen sein, aber auch ganze Staaten oder barbarische, unzivilisierte Völker im Allgemeinen, je nach Zeitpunkt, Art des Krieges oder geltenden Rechtslagen.

Die Vielfalt der Kriege und ihrer Teilnehmer war bereits im vor-globalen Völkerrecht bekannt, obwohl, so Schmitt, damals „keine Raumordnung der Erde im Ganzen, kein Nomos der Erde im eigentlichen Sinne der Worte Nomos der Erde“ war. Schmitt schreibt: „Mannigfache große Machtkomplexe – ägyptische, asiatische und hellenistische Reiche, das römische Imperium, vielleicht auch Negerreiche in Afrika und Inkareich in Amerika – waren untereinander keineswegs völlig beziehungslos und isoliert; aber ihren Zwischenbeziehungen fehlte der globale Charakter. Jedes dieser Reiche betrachtete sich selbst als die Mitte der Welt, als das Kosmos, das Haus, und hielt den außerhalb dieser Welt vorhandenen Teil der Erde, soweit er nicht bedrohlich schienen, für etwas Uninteressantes oder eine seltsame Kuriosität, soweit er bedrohlich war, für ein bösartiges Chaos, jedenfalls aber für einen ihnen offenen, ‚freien‘ und herrenlosen Raum für Eroberung, Gebietserwerb und Kolonisierung.“ (1)

Die vor-globalen Reiche verhielten sich aber nicht so, wie es von den Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts und mit Bezug auf die Römer behauptet wird, und zwar, so Schmitt, „dass die antiken Völker in einer ‚natürlichen‘ Feindschaft miteinander gelebt hätten, dass jeder Fremde ein Feind und jeder Krieg ein Vernichtungskrieg, alles nicht Verbündete Ausland feindliches Ausland gewesen sei, solange kein ausdrücklicher Freundschaftsvertrag geschlossen war, weil es eben Völkerrecht im modernen, humanen und zivilisierten Sinne damals noch nicht gegeben habe.“ Schmitt hielt solche Behauptung für eine zivilisatorische Illusion, die „inzwischen durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts ihre Verifikation erfahren“ hatte. Gerade das römische Reich, so Schmitt, kannte eine Vielfalt von Kriegen, Bünden und Bündnissen. „Vor allem war das römische Recht imstande, den Feind, den hostis, vom Räuber und vom Verbrecher zu unterscheiden.“ (2)

Der zweite Begriff, die justa causa, beschäftigt sich mit der Frage der Kriegsursache, die ihrerseits eine Erklärung von vielen anderen, bei jedem Krieg entstehenden Fragen verlangt, etwa: Was ist Tatbestand des Verbrechens? Wer ist Aggressor und wer ist Verteidiger? Wer ist Ankläger und wer ist Angeklagter? Wer ist Partei? Wer ist Richter und das Gericht, und in wessen Namen ergeht das Urteil? Besonders die Kriegsschuldfrage war in allen Zeiten ein schwer gelostes Problem. Es gab immer viele Skeptiker, die betonten, „dass es kaum möglich wäre, in concreto zu entscheiden, welcher der kriegführenden Staaten denn nun wirklich und voll im Recht ist“. Die Unterscheidung von Angriff und Verteidigung wird sogar zum Kernproblem der Kriegsschuldfrage. Schmitt schreibt: „Insbesondere bleibt das Recht auf Selbstverteidigung und damit eine gewisse Entscheidung über die nötigen Mittel der Selbstverteidigung immer vorbehalten, sodass sogar der alte Satz, dass Angriff die beste Verteidigung ist, praktisch werden kann.“ Hier liegt auch die Frage, welcher Krieg überhaupt von Anfang an bis zu Ende restlos gerecht gewesen seien könnte? (3)

Die Republica Christiana und die Lehre des gerechten Krieges

Nach Schmitt war das Reich des christlich-europäischen Mittelalters (Republica Christiana) ein vor-globales Reich. Aber es hat den einzigen Rechtstitel für den Übergang zu einer ersten globalen Ordnung des Völkerrechts geliefert, nämlich für das zwischenstaatliche europäische Völkerrecht der Zeit vom 16. zum 20. Jahrhundert, genannt als Jus Publicum Europaeum. (4)

Diese beiden Völkerrechte – das Völkerrecht der Republica Christiana und das Jus Publicum Europaeum – haben die entscheidenden Fragen des gerechten Krieges, justus hostis und justa causa, prinzipiell unterschiedlich behandelt, aber beide haben auf diesem Weg bestimmte Erfolge erreicht. Seit der Auflösung des Jus Publicum Europaeum, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann und bis heute ihre Wirkung zeigt, sind diese Fragen des gerechten Krieges in Ungnade gefallen. Sie wurden vom Völkerbund nicht gelöst, sie wurden in den UN-Dokumenten nicht richtig bewertet, sie sind für einen großen Teil der Weltöffentlichkeit immer noch ein Rätsel, wie die zweideutige Haltung gegenüber dem Kosovo-Konflikt, der amerikanischen Spezialoperation im Irak, dem Anschluss der Krim an Russland, der Reaktion auf russische Spezialoperation in der Ukraine usw. zeigt. Es ist ein guter Zeitpunkt, um sich an Carl Schmitt zu erinnern, der die Grundlagen des gerechten Krieges gründlich untersucht und die Welt davor gewarnt hat, dass ihre Verfälschung unweigerlich zu einem neuen Weltkrieg führen würde.

Im europäischen Mittelalter, unter dem Einfluss des Christentums, fanden die Fragen des gerechten Krieges, justus hostis und justa causa, ihren Ausdruck in der sogenannten Lehre des gerechten Krieges, die in der Folge der christlichen Missionierung von nicht-christlichen Völkern entstand und die spanische und portugiesische Conquista rechtfertigen sollte. Nach Schmitt war der Boden nicht christlicher, heidnischer Völker ein christliches Missionsgebiet, er konnte einem christlichen Fürsten durch den päpstlichen Auftrag zur christlichen Mission zugewiesen werden. Der Boden islamischer Reiche galt als feindliches Gebiet, das durch Kreuzzüge erobert und annektiert werden konnte. Solche Kriege, wenn sie vom Papst erklärt wurden, waren sogar heilige Kriege. “Wesentlich ist, bemerkt Schmitt, dass innerhalb des christlichen Bereiches die Kriege zwischen christlichen Fürsten umhegte Kriege sind. Sie werden von den Kriegen gegen nicht-christlichen Fürsten und Völker unterschieden.“ (5)

In der Republica Christiana waren also alle christlichen Fürsten rechtlich anerkannte justus hostis, die gerechte Krieger, die sich von den Gedanken über die Schuldfrage abstrahieren könnten, weil alle formalen Fragen der justa causa auf sich die Autorität der Kirsche übernahm. Der vom Papst gegebene Missionsauftrag gab ihnen die Rechtsgrundlage, um in nicht-christlichen Gebieten zu missionieren und diese im Zuge ihrer Mission auch zu okkupieren. (6)

Das Jus Publicum Europaeum hat seinerseits alle mittelalterlichen Rechtstitel des Papstes und des Kaisers abgeschafft und löste die Fragen des justus hostis und der justa causa auf ganz andere Weise: durch die Gleichstellung von souveränen europäischen Staaten. Es war eine Zeit des europäischen Friedens, auch bekannt als Westfälischer Friede, der Europa vier Jahrhunderte lang vor Religions- und Bürgerkriegen bewahrte.

Nach dem Ersten Weltkrieg geriet das Jus Publicum Europaeum in Konflikt mit den Machtansprüchen der neuen Weltherrscher, vor allem der Vereinigten Staaten von Amerika, und wurde selbst aufgelöst. Gleichzeitig erlebte die mittelalterliche Lehre vom gerechten Krieg eine zweite Geburt, insbesondere die Vorlesungen des Theologen Francisco de Vitoria, Relecciones „de Indis et iure belli“, die aus der Zeit der ersten Conquista stammten und wegen ihrer außergewöhnlichen Unparteilichkeit, Objektivität und Neutralität großen Ruhm erlangten.

Eine besondere Rolle bei der Popularisierung von Vitorias Vorlesungen spielte weltbekannte amerikanische Völkerrechtler James Brown Scott (1866 – 1943), der den Namen Vitorias weit über die Kreise der Geschichtswissenschaft und der Völkerrechtswissenschaft hinaus bekannt machte. Es galt, so Schmitt, für zahlreiche Argumentationen und Konstruktionen, in denen z. B. Theoretiker des Genfer Völkerbundes und amerikanische Juristen und Politiker sich bemühen, die mittelalterlichen Lehren, vor allem vom gerechten Krieg, heranzuziehen und sie für die Zwecke ihres Weltbildes zu verwerten. Damit beginnt ein neues Stadium der Verwertung Vitorias, die sich bis zu politischen Mythenbildung steigert. Sogar in amtlichen und halbamtlichen Erklärungen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, so Schmitt, ist ein „Rückkehr zu älteren und gesünderen Auffassung des Krieges“ proklamiert worden, womit vor allem die Lehre Vitorias gemeint ist. (7)

Doch für Schmitt ist die ganze Geschichte des gerechten Krieges eine Geschichte des vielfachen Messverstandes und der verschiedenartigen Verwertung von Vitorias Vorlesungen, vor allem auf der Grundlage der „modernen“ Argumentation, die dazu führte, dass ihre neue Version, die sogenannte moderne Lehre des gerechten Krieges, in ihrer verfälschten Form zur einen größten Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden geworden ist. Man kann sagen, dass die USA bei der Suche nach dem neuen Rechtstitel, der ihrem Anspruch auf die globale Weltherrschaft am besten geeignet werden könnte, nicht anderes gemacht haben, als den alten Rechtstitel des Papstes und des Kaisers zu reanimieren und zu ihren Zwecken anzupassen.

Doch für Schmitt ist die ganze Geschichte des gerechten Krieges eine Geschichte des vielfachen Messverstandes und der verschiedenartigen Verwertung von Vitorias Vorlesungen, vor allem auf der Grundlage der „modernen“ Argumentation, die dazu führte, dass ihre neue Version, die sogenannte moderne Lehre des gerechten Krieges, in ihrer verfälschten Form zur einen größten Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden geworden ist. Man kann sagen, dass die USA bei der Suche nach dem neuen Rechtstitel, der ihrem Anspruch auf die globale Weltherrschaft am besten geeignet werden könnte, nicht anderes gemacht haben, als den alten Rechtstitel des Papstes und des Kaisers zu reanimieren und zu ihren Zwecken anzupassen.

Freund-Feind-Schema als das schwerste Erbe des Westens

Es handelt sich um eine mehr als 400-jährige westliche Tradition, die Welt in „Wir“ und „Andere“ aufzuteilen. Solche Tradition findet ihr Ausdruck in den sogenannten Verteilungslinien, die die europäische Zivilisation seit der Entdeckung des amerikanischen Kontinents mühsam durch die Erde zieht. Schmitt schreibt: „Sofort nach der Entdeckung der neuen Welt setzt auch der Kampf um die Land- und Seenahme dieser neuen Welt ein. Jetzt wird die Teilung und Einteilung der Erde in steigendem Maße eine gemeinsame Angelegenheit der auf derselben Erde nebeneinander existierenden Menschen und Mächten. Jetzt werden Linien gezogen, um die ganze Erde zu teilen und einzuteilen.“ Auch der gefährlichste alte Feind des Christentums, der Islam, auftauchte jetzt für europäische Fürsten und Nationen als „einen riesigen, bisher unbekannten, nicht-europäischen Raum neben sich“ (8)

Die dritte und die letzte globale Freundschaftslinie, die in der Gegenwart zieht, heißt „Westliche Hemisphäre“ und sollte die Einflusszone der USA bestimmen: von amerikanischem Kontinent im 19. Jahrhundert bis zur gesamten Erde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.

Die Teilung der Welt auf „Freund“ und „Feind“ ist zum schwersten Erbe der westlichen Zivilisation geworden, die sich in der Ausgrenzung Christen von Nicht-Christlichen, Menschen von Unmenschen, Europa von Neuen Welt, Zivilisation von Barbarei oder allgemein Guten von Bösen realisiert. Im 18. Jahrhundert hat sich das globale Liniendenken der Europäer seine Spuren in der Philosophie der absoluten Humanität hinterlassen, die Schmitt als Zwei-Seiten-Aspekt des Humanismus vorstellt. „Denn die Idee der Humanität hat zwei Seiten“, betont er, und erklärt: „Erst mit dem Menschen im Sinne der absoluten Humanität erscheint nämlich, als die andere Seite desselben Begriffs, sein spezifischer neuer Feind, der Unmensch. Der Absetzung des Unmenschen vom Menschen folgte dann in der Geschichte der Menschen im 19. Jahrhundert eine noch tiefere Aufspaltung, die des Übermenschen vom Untermenschen. Wie der Mensch den Unmenschen, so bringt der Übermensch mit dialektischer Notwendigkeit gleich den Untermenschen als einen feindlichen Zwilling mit sich in der Geschichte der Menschheit.“ (10)

Im 20. Jahrhundert spiegelte sich dieser Zwei-Seiten-Aspekt des Humanismus im Faschismus und Nationalsozialismus wider. Heute realisiert er sich in der Aufspaltung der Welt auf Demokratien und Nicht-Demokratien, „frei“ gewählten Regierungen und Autokratien, „guten“ Westen und „bösen“ Russland oder sogar bei der inneren Spaltung den westlichen Gesellschaften unter der Berufung der Impfpflicht oder des Kampfes gegen Rassismus, Rechtsextremismus oder Antisemitismus.

Der Friede in dem kontinentalen Europa von 16. bis 20. Jahrhunderten

Das Völkerrecht der Republica Christiana wurde durch das Europäische öffentliche Recht, Jus Publicum Europaeum, abgelöst, das von 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Europa herrschte. Für Schmitt war es ein einzigartiges Beispiel des Völkerrechtes, dem gelingen, die vernichtenden Religions- und Bürgerkriege des Mittelalters zu beenden und die effektiven rechtlichen Instrumente für die Einhegung der Kriege in Europa zu schaffen. Seine tragende Größe war ein souveräner Staat. Die Kriegsgegner, also die souveränen Staaten, wurden von europäischer Gemeinschaft als justus hostis anerkannt und vom Rebellen, Verbrecher und Piraten unterschieden. Der Krieg verwandelte sich in eine Beziehung zwischen beiderseitig gleichberechtigten souveränen Staaten: Die Gegner, auf beiden Seiten in gleicher Weise als justus hostis anerkannt, standen einander auf gleicher Ebene gegenüber. (11)

Gleichzeitig suchte das europäische Völkerrecht, justa causa zurückzudrängen. Schmitt erklärt: „Der formale Anhaltspunkt für die Bestimmung des gerechten Krieges ist hier nicht mehr die völkerrechtliche Autorität der Kirche, sondern die gleichberechtigte Souveränität der Staaten. Die Ordnung des interstatalen Völkerrechtes geht, statt von der justa causa, vom justus hostis aus und bezeichnet jeden zwischenstaatlichen Krieg zwischen gleichberechtigten Souveränen als rechtmäßigen Krieg.“ Nach Schmitt war es der große Fortschritt des zwischenstaatlichen europäischen Völkerrechts. Auf dieser Weise verlor der Krieg den Strafcharakter und eine Tendenz zur Diskriminierung des Gegners. Im Vergleich zu der Brutalität von vernichtenden Religions- und Parteikriegen und im Vergleich zu Kolonialkriegen, die gegen „wilde“ Völker geführt wurden, bedeutete das eine Rationalisierung und Humanisierung von stärkster Wirkung. Der Feind hört auf, etwas zu sein, das vernichtet werden muss. Dadurch wird die Beseitigung oder Vermeidung des Vernichtungskrieges möglich. So ist, nach Schmitt, dem europäischen Völkerrecht die Hegung des Krieges mithilfe des Staatsbegriffes gelungen. (12)

Das Prinzip der rechtlichen Gleichheit von souveränen Staaten, das eine Diskriminierung des Gegners ausschloss, war aber nicht das einzige Verdienst des europäischen Völkerrechtes bei der Hegung des Krieges. Nicht weniger wichtig war auch die Nicht-Kriminalisierung des Krieges als solche. Schmitt erklärt: „Der Krieg zwischen souveränen, gegenseitig sich anerkannten Staaten kann kein Verbrechen, am wenigsten ein Verbrecher im kriminellen Sinne des Wortes sein. Solange der Begriff des justus hostis nachwirkt, gibt es keine Kriminalisierung des zwischenstaatlichen Krieges. In diesem Stadium kann das Wort ‚Kriegsverbrechen‘ nicht den Sinn haben, den Krieg selbst als Verbrechen zu kennzeichnen.“ Unter Kriegsverbrechen wurden nur bestimmte, „während des Krieges begangene Handlungen“, also Verstöße gegen das sogenannte Recht im Kriege gemeint, etwa Verletzungen der Haager Landkriegsordnung, den Normen des Seekriegsrechts oder des Kriegsgefangenenrechts. „Für einen Juristen der kontinental-europäischen Denkweise, so Schmitt, war es selbstverständlich, dass die bloße Verwendung des Wortes Verbrechen für das Völkerrecht noch keine Kriminalisierung bedeutete, solange Tatbestand, Täter, Strafe und Gericht nicht mit deutlichen Worten bestimmt und umschrieben waren.“ (13)

Hegung des Krieges und Gleichgewichts-System

Die Hegung des Krieges, nach Schmitt, war das Wesen des europäischen Völkerrechts. Die Kriege waren nicht illegal und so lange gerecht, bis sie die gesamte Ordnung und das Gleichgewicht in Europa nicht störten, wie es zum Beispiel bei Napoleon-Kriegen war. Schmitt spricht um Gleichgewichts-System, das im Grunde der eurozentristischen Raumordnung und der Hegung des Krieges lag. Dabei handelt es sich nicht um eine politisch-propagandistische Gleichgewichtspolitik, sondern um große praktische Überlegenheit der Gleichgewichts-Vorstellung, in derer die Fähigkeit lag, eine Hegung des Krieges zu bewirken. Solches als gemeinsam empfundenes Gleichgewichts-System war für Schmitt sogar wichtiger als die Souveränität und Nicht-Intervention. Die europäischen Großmächte spielten dabei die führende Rolle, weil sie sich in erster Linie über Bewahrung und Pflegen des Gleichgewichtes interessierten, um die Zerstörung der bestehenden Weltordnung zu vermeiden. (14)

Übergang zum hegemonialen Gleichgewichts-System

Das Gleichgewicht der rechtlich anerkannten und wirklich souveränen Staaten war also tragende Säule des europäischen Friedens. Es wurde aber nach dem Erstem Weltkrieg, im Zusammenhang mit der Auflösung des Jus Publicum Europaeum, durch ein neues System ersetzt, das von der Vereinigten Staaten von Amerika auf dem amerikanischen Kontinent erfolgreich erprobt wurde und sich nach dem Ende des Krieges in Genfer Liga herausgebildete. Schmitt verwendet den Begriff „hegemoniales Gleichgewicht“, um die amerikanische Erfahrung beim Aufbau des neuen Systems zu beschreiben. Es ist der Fall, wenn die Hegemonie des Stärkeren für Ordnung in den Reihen der Schwächeren sorgt. Es waren zuerst die amerikanischen Staaten wie Kuba, Haiti, San Domingo, Panama und Nicaragua, die formal souverän, aber in der Wirklichkeit von Vereinigten Staaten wirtschaftlich und militärisch abhängig waren. Es führte zum modernen Typus der Intervention, wenn das amerikanische Interventionsrecht nicht nur durch Stützpunkte, militärische Besetzungen oder in anderen Formen der Gewalt gesichert wurde, sondern auch durch Verträge und Vereinbarungen mit den gelenkten Staaten, „so dass es möglich ist, zu behaupten, im rein juristischen Sinne liege hier überhaupt keine Intervention mehr vor.“ (15)

Gleichgewichts-System nach Muster des Jus Publicum Europaeum und hegemoniales Gleichgewichts-System nach amerikanischer Art sind seitdem zu zwei konkurrierten Konzepten des Weltfriedens geworden. Die europäische Gleichgewichts-Vorstellung, die eine echte, nicht nur formale Souveränität den Akteuren voraussieht, hat sicherlich einen Vorteil: Sie hat schon zwei Mal beweist, dass sie fähig ist, eine Hegung des Krieges zu bewirken – in Europa vom 16. bis zum 20. Jahrhundert und im Rahmen der bipolaren Welt des Kalten Krieges. Das hegemoniale Gleichgewichts-System, das sich auf die Lenkung von Mittleren und Kleinen durch die Hegemonie eines Stärkeres beruht, sollte man seine praktische Überlegenheit doch noch beweisen: Es hat in Zwischenkriegszeit vom 1919 bis 1939 keine Erfolge gezeigt, aber auch heute sich noch nicht überzeugend bewirkt, obwohl nach dem Ende des Kalten Krieges eine universelle Chance bekommen, die Welt in allen ihren Formen (von Finanzen bis Sport und Kultur) und in allen ihren Instituten (von NGO bis UNO) zu lenken.

Britische Empire und ein planetarisches Gleichgewicht von Land und Meer

In der Epoche des Jus Publicum Europaeum entstand auch ein planetarisches Gleichgewicht, das vom britischen Empire bewacht und bewahrt wurde. Zum ersten Mal, nach Schmitt, wird in der Geschichte der Menschheit der Gegensatz von Land und Meer die weltumfassende Grundlage eines globalen Völkerrechts. England wurde dadurch zum Träger des universalen, maritimen Bereichs einer eurozentrischen, globalen Ordnung, zum Hüter jener anderen Seite des Jus Publicum Europaeum, zum Herrn des Gleichgewichts von Land und Meer. Dieses Gleichgewicht sicherte die Stabilität und die Hegung des Krieges in Europa. Es ist zur tragenden Säule des Weltfriedens, aber auch der europäischen Prosperität und der Funktion der ganzen Ordnung, also des ersten globalen Nomos der Erde geworden.

So entwickelten sich parallel zwei Welten, zwei Systeme, die sich auf das Land und das Meer stützten. Das Land war Europa, das Meer alles, was jenseits von Europa lag, getrennt durch eine klare Freundschaftslinie. In diesen parallelen Welten entwickelten sich unterschiedliche Gesetze, Arten der Kriegsführung, Regeln für den Handel und das Leben: Landnahme gegenüber Seenahme, Landrecht gegenüber Seerecht, Landkrieg gegenüber Seekrieg, ein souveräner Staat gegenüber dem internationalen Privatrecht, Landwirtschaft gegenüber freien Seehandel usw. In Europa herrschte ein Recht der Gleichen, während in der Neuen Welt ein Recht des Stärkeren. Die Freundschaftslinien sicherten den Frieden im kontinentalen Europa, erlaubten aber eine brutale Praxis der Entdeckung und der Okkupation auf den anderen Kontinenten.

Optimismus und eurozentrischer Universalismus

Die Zeit von 1870 bis 1890 bezeichnet Schmitt als eine Zeit des größten europäischen Optimismus und wachsenden Glauben an europäische Zivilisation und Fortschritt. Es herrschte ein liberaler Konstitutionalismus, der als identisch mit Verfassung und Zivilisation im europäischen Sinne galt. Es war die Zeit der letzten Blüte des Jus Publicum Europaeum, auf die, nach Schmitt, auch die letzte gemeinsame Landnahme nicht-europäischen Bodens durch europäische Mächte gefallen ist, und zwar durch eine große internationale Kongo-Konferenz in Berlin 1884-1885. Die Kongo-Akte waren ein herausragendes Dokument des europäischen Glaubens an Zivilisation, Fortschritt und Freihandel und des auf diesen Glauben sich gründenden europäischen Anspruchs auf die freie Okkupation offen stehenden Boden des afrikanischen Kontinents. Um zivilisatorischen Geist dieser Epoche auszudrucken, zieht Schmitt zum Wort den belgischen König Leopold, der damals wörtlich sagte: „Der Zivilisation den einzigen Teil der Erdkugel öffnen, in den sie noch nicht gedrungen ist, die Finsternis durchstoßen, die ganze Bevölkerungen umhüllt, das ist, ich wage es zu sagen, ein Kreuzzug, der dieses Jahrhunderts des Fortschritts würdig ist.“ (16)

Der Optimismus war so groß, dass in Europa bis um 1890 die Auffassung herrschte, dass das spezifische europäische Völkerrecht ein allgemeines universales Völkerrecht ist. Die universalistischen Denkgewohnheiten, bemerkt Schmitt, waren damals sehr stark, und das Gesamtbild der Welt war zunächst durchaus eurozentrisch, „denn unter der Menschheit verstand man zuerst die europäische Menschheit, Zivilisation bedeutete selbstverständlich nur europäische Zivilisation, und Fortschritt war die gradlinige Entwicklung zu dieser Zivilisation“. In einem Glauben an Siege und Triumphe ihres Völkerrechts zu befangen, öffnete die europäische Familie ihr Haus auch für andere, nicht europäische Staaten und Nationen. So erscheinen in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der europäischen Völkerrechtsgemeinschaft viele amerikanische und asiatische Staaten, unter anderem die Vereinigten Staaten von Amerika, die Türkei und Japan. (17)

Das Ende der Euphorie

Doch das war, nach Schmitt, in Wirklichkeit keine bloß quantitative Ausdehnung und Erweiterung, sondern ein Übergang auf eine neue Ebene, also der Übergang zu einer neuen, nicht mehr eurozentrischen Weltordnung. Zwar hatte England den Anspruch angemeldet, „die Mitte der Welt zu sein und aus dem Handhaber des bisherigen europäischen Gleichgewichts der Träger eines neuen, die Großräume balancierenden globalen Welt-Gleichgewichts zu werden“, aber es war zu schwach, um dieses Gleichgewicht zu sichern. Das System des europäischen Gleichgewichts ließ sich also nicht einfach auf ein Welt-Gleichgewicht des Erdballs übertragen.

Auf die politische Welttribüne treten nun die anderen, nicht-europäischen Großmächte, gemeint ist zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich damit das große Problem einer neuen Raumordnung der Erde vom Westen angekündigt hatte. „Doch, schreibt Schmitt, schien das bei Beginn dieses Entwicklungsabschnittes, um 1890, kein schwieriges Problem zu sein. Man hatte, wie gesagt, immer nur eine unproblematisch gemeinsame europäische Zivilisation im Auge.“ Was jetzt als Völkerrecht, genauer als internationales Recht oder International Law rechtswissenschaftlich behandelt wurde, bemerkt Schmitt, war keine konkrete Raumordnung mehr. „Zunächst freilich war es ein Absturz in das Nichts einer raum- und bodenlosen Allgemeinheit. An die Stelle der überaus konkreten Ordnung des bisherigen Jus Publicum Europaeum trat auch nicht der Schatten einer neuen, konkreten völkerrechtlichen Raumordnung.“ Nach Schmitt war die Folge, dass das große Problem einer Raumordnung der Erde ganz aus dem Bewusstsein verschwand. „Der Kern des neuen Problems lag darin, dass mehrere nach Großräumen verschiedene Völkerrechte auftauchen, statt eines raumlos-allgemeinen Völkerrechts.“ (18)

Eurozentrisches, amerikanisches oder noch welches Völkerrecht: Schmitt zeigt, warum in einer pluralen Welt, wo noch kein weltweiter Verfassungsstandard gibt (wie etwa ein „liberaler Konstitutionalismus“, der im Jus Publicum Europaeum herrschte), ein universales Völkerrecht ausgeschlossen ist. Man könnte natürlich über die west-liberale Demokratie als gelungene Regierungsform denken, aber die erste und die letzte Frage ist, ob ein größter Teil der noch nicht west-demokratischen Weltbevölkerung bereit ist, solche Demokratieform als Standard für sich freiwillig und ohne jegliche Gewalt anzunehmen.

Epoche der Unordnung und Sinnwandel des Krieges

Die Zeit von 1890 bis 1919 bezeichnet Schmitt als die Epoche der Auflösung des Jus Publicum Europaeum. Der Wendepunkt war der Erste Weltkrieg, der als ein europäischer „Staatenkrieg alten Stils“ begonnen hat, aber bald zeigte sich die Ansätze zu einem neuen, vom bisherigen europäischen Völkerrecht abweichenden Kriegsbegriff. In dieser Zeit ging zum Ende den alten, seit 16. Jahrhundert herrschenden Nomos der Erde und begann die Suche nach neuem Nomos der Erde, die Schmitt im Kapitel „Die Frage eines Neuen Nomos der Erde“ erfasste. Die Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 war für Schmitt genau die Zeit der Bemühungen, eine neue völkerrechtliche Ordnung, unter der Führung der Vereinigten Staaten von Amerika, zu finden. Schmitt bezeichnet diesen Zeitabschnitt als Epoche der Unordnung und konzentriert sich auf die Untersuchung des Überganges des nicht-diskriminierten zwischen-staatlichen Krieges des Jus Publicum Europaeum in einen neuen – diskriminierten – Typus des Krieges, der die wichtigsten Grundsätze des europäischen Friedens zerstörte und bis heute zur größten Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden geworden ist.

Schmitt beschreibt diesen Prozess als Sinnwandel des Krieges. Den ersten Ansatz dieses Wandels des Krieges findet er schon im Versailler Friedensvertrag 1919, wo Deutscher Kaiser Wilhelm II. als einzige Angeklagte des Verbrechens genannt wurde. Es handelte sich um eine Personifizierung des Kriegsverbrechens, die das europäische Völkerrecht bisher nicht kannte, aber später und bis heute zur festen Praxis des internationalen Gerichtshofs geworden ist. Schon damals bezweifelte Schmitt, dass die bestehenden internationalen Gerichte unabhängig, zuverlässig und unparteiisch sein könnten. Die gleiche Skepsis kommt heute auf, wenn Staatsoberhäupter vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag angeklagt werden, wie es beispielsweise im Fall des jugoslawischen Präsidenten Milosevic der Fall war.

Im Friedensvertrag von Versailles versuchten die Siegermächte Frankreich und Großbritannien, dem besiegten Deutschen Reich die alleinige Schuld am Krieg zuzuschreiben. Die Kollektivschuld, die im Jus Publicum Europaeum sicherlich alle Kriegsbeteiligten tragen müssten, wurde durch Identifizierung eines bestimmten Kriegsverbrechens ersetzt, unbeachtet von Kriegsschuldfrage, von Protesten Deutschlands und von verbreiteter Meinung, unter anderem von amerikanischer Präsident W. Wilson, dass die Schuld am Ersten Weltkriege das ganze Europa tragen muss. Leider ist heute das Bewusstsein der kollektiven politischen Verantwortung wieder zum Defizit geworden.

Autorität der Siegermächte und moderne Lehre des gerechten Krieges

Nicht mehr die Gleichberechtigung der souveränen Staaten als der formale Anhaltspunkt für die Bestimmung des gerechten Krieges, sondern die Autorität der Siegermächte, als analog zur alten Autorität der Kirche, übernimmt nun das Recht zu entscheiden, was eine Gerechtigkeit im Krieg bedeutet und wer einen Kriegsverbrecher ist. Die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges taucht wieder auf, allerdings in einer völlig anderen Form. Nach Schmitt war das keine Rückkehr, sondern ein fundamentaler Wandel der in der mittelalterlichen Lehre vorausgesetzten Begriffe von Feind, von Krieg und von Gerechtigkeit. Die mittelalterliche Lehre erkannte doch in den nicht-christlichen Gegnern den justus hostis und hebe den Kriegsbegriff als solchen nicht auf. „Dagegen, betont Schmitt, erstrebt die heutige Theorie des gerechten Krieges gerade die Diskriminierung des Gegners, der den ungerechten Krieg führt. Der Krieg selbst wird zum Verbrechen in der kriminellen Bedeutung des Wortes. Der Aggressor wird zum Verbrecher im äußersten kriminellen Sinn des Wortes erklärt; er wird outlaw gestellt wie ein Pirat.“ (19)

Der Gegner wird nicht mehr als justus hostis, also als ein gerechter Feind behandeln, sondern als kriminelle Verbrecher. Gegen solche Verbrecher wird kein Krieg geführt, sondern eine Strafmaßnahme. Alle formalen Fragen der justa causa, unter anderem die Fragen der Kriegsschuld, übernimmt auf sich die Autorität der Siegermächte – in der gleichen Weise, wie es die Kirche auf Grundlage ihrer Autorität machte, um die Kreuzzüge und Missionen in den kolonisierten Gebieten zu autorisieren.

Die Kriminalisierung des Krieges und der technische Fortschritt

Schmitt sah in der Kriminalisierung des Krieges eine große Gefahr für den Weltfrieden. Jeder Krieg – gerechter oder ungerechter – ist von Waffen abhängig. Die technische Entwicklung des Vernichtungsmittels ändert den Charakter des Krieges. Schmitt beobachtete das bei der angloamerikanischen Bombardierung von deutschen Städten. Die Luftkriege tragen überhaupt einen Vernichtungscharakter, weil die Bombardierung aus der Luft „nur den Sinn und Zweck einer Vernichtung“ hat. Die modernen Kriege sind also von technischer Entwicklung der Fernwaffen stark geprägt und sind im Prinzip die Vernichtungskriege.

Seit 1945, nach den US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, ist das eigentlich die wichtigste Frage des Weltfriedens: Wer eine atomare, aber heute auch die moderne konventionelle Waffen-Überlegenheit hat, könnte im Anspruch nehmen, selbst, gemäß seinen Status quo und seiner Autorität, zu entscheiden, was gerecht oder ungerecht ist, wer einen Kriegsverbrecher ist usw., rein im Sinne der modernen Theorie des gerechten Krieges.

Seit 1989/90 stehen in dieser Position die USA als Sieger im Kalten Krieg. Man braucht keine besonderen Kenntnisse, um zu verstehen, dass gerade heute die Kriminalisierung des Krieges einen gewaltigen Auftrieb bekommen hat. Genau von solcher Entwicklung hat Schmitt in seinem Werk Der Nomos der Erde gewarnt, weil nach ihm „im gerechten Krieg der gerechten Seite jedes Mittel erlaubt sein sollte“. Das erhöht gewaltig die Risiken der möglichen Überschreitung von gerechten zum total vernichtenden Krieg, was heute ein atomarer Vernichtungskrieg bedeutet.

Das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges

Den größten Beitrag zum Sinnwandel des Krieges, nach Schmitt, haben die Vereinigten Staaten geleistet, mit dem Versuch, den Krieg als solchen abzuschaffen, rein in der amerikanischen Tradition outlawry of war, die alle Kriege als solche ächtet und verurteilt. Es waren gerade amerikanische Delegierte, die in den Beratungen der Pariser Konferenzen eine Bestrafung der Staatshäupter forderten und den Angriffskrieg als Unrecht und als ein moralisches Verbrechen gegen die Menschheit bezeichneten. Die Abschaffung des Krieges, die ursprünglich als Ideal der Freiheit und des Friedens auf dem amerikanischen Kontinent entstanden hat, sollte nun die im Jus Publicum Europaeum gut funktionierte Methode der Kriegsverhütung, also die Hegung des Krieges, ersetzen. Mit dem Briand-Kellogg-Pakt 1928 wurde outlawry of war zum Mittel der nationalen Politik Amerikas gemacht und auf den ganzen Planeten ausgedehnt. Nicht die Hegung, sondern die Abschaffung des Krieges als Rechtsinstitut sollte nun zur neuen völkerrechtlichen Konstruktion des Weltfriedens geworden werden, die nach dem Ersten Weltkrieg von amerikanischen Delegationen in der Genfer Liga aktiv gefördert wurde.

Doch der Genfer Liga ist nicht gelungen, das eigene Kriegsverhütungs-System aufzubauen und den Zweiten vernichtenden Weltkrieg zu stoppen. Es gibt natürlich viele Analysen des Scheiterns des Völkerbundes, aber Schmitt konzentriert sich nur auf die völkerrechtliche Bedeutung dieser chaotischen Übergangzeit von 1919 bis 1939. Er stellt die Frage, „ob die Versuche einer Abschaffung und outlawry des Krieges, die in dieser Zeit fallen, bereits den Sinn des Krieges wandeln und den Krieg des zwischenstaatlichen europäischen Völkerrechts durch die Aktion gegen einen kriminellen Verbrecher ersetzen“, und zeigt die Schwierigkeiten, auf denen sich die Genfer Liga mit dem Ideal der Abschaffung des Krieges gestoßen hat. Er schreibt: „Tatsächlich ist der große Versuch einer internationalrechtlichen Kriminalisierung des Krieges damals in eine Reihe schwieriger, für das Rechtsgefühl des einfachen Menschen undurchdringlicher Antithesen hineingetragen: in den Gegensatz von juristischer und politischer Denkweise, den Unterschied von moralischen und rechtlichen Verpflichtung, den Gegensatz politischer und ökonomischer Probleme.“ (20)

Schmitt weist auch auf das innere Problem der Abschaffung des Krieges als Modell des Völkerrechtes hin, das bis heute seine gefährlichste Wirkung auf die Weltentwicklung zeigt. Es handelt sich um die Übertragung der großen Kriegsprobleme aus der Kompetenz der Justiz im Bereich der Politik und Moral. Nach Schmitt war es damals für jeden europäischen Staatsmann und jeder europäische Staatsbürger selbstverständlich, dass die Frage der Abschaffung des Krieges in der Sache eine Frage der Abrüstung und Sicherheit ist. Das sind aber mehr politische und moralische als juristische Fragen. Das bedeutet, dass das große Problem des Krieges nicht nur Juristen, „sondern auch die öffentliche Meinung breiter Kreise und großer Massen“ beschäftigt, die aber die juristische Abstrahierung von der justa causa und überhaupt die juristischen Kriegsbegriffe, etwa justus hostis und justa causa, „als einen künstlichen Formalismus oder sogar als eine sophistische Ablenkung von der eigentlichen großen Aufgaben“ empfinden. Dadurch bleibt sachliches Recht oder Unrecht und die Schuld am Kriege außer Betracht. (21)

Politisierung des Krieges und Mainstream-Medien

Was eine Verbindung von Politik, Moral und öffentlicher Meinung bedeuten könnte, zeigt Schmitt auf dem Beispiel des deutschen Kaisers Wilhelm II., dem im Jahr 1920, nach der Umfrage einer amerikanischen Wochenschrift, die meisten Amerikaner die Todesstrafe oder Verbannung gewünscht hatten. Die emotionale Empfindung des Kriegsgeschehens ist stärker als die Vorstellungen über Gerechtigkeit des Krieges und allen anderen juristischen Formalismen. Die Übertragung der großen Kriegsfragen im Bereich der Politik und Moral bedeutet also die wachsende Rolle der öffentlichen Meinung, die sich seinerseits stark von den Massenmedien abhängig ist. (22)

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind bekanntlich zur solchen Einsicht nach dem Vietnam-Krieg gekommen, wenn die schrecklichen Bilder des Krieges in der Presse zu den Massenprotesten und letztendlich zum Ende der amerikanischen Beteiligung im Krieg geführt hatten. Seitdem ist die strenge Kontrolle über die Medienberichte aus den Kriegsgebieten in Amerika zur direkten Frage der Sicherheit bzw. Sicherheitsbehörden geworden. Der Aufbau des virtuellen Ersatzes des Krieges in den Medien bekommt nun den höchsten Sinn der Kriminalisierung des Krieges, mit dem Ziel, den Gegner in der Öffentlichkeit als ein krimineller Verbrecher vorzustellen.

Nach dem Ukraine-Konflikt ist solcher Antrieb in den westlichen Mainstream-Medien besonders auffällig, bis die Ausschaltung aus der Öffentlichkeit allen möglichen medialen Alternativen, geschweige denn die russischen Medien, die selbstverständlich nur als Putins Propaganda gemeint werden könnten.

Abschaffung und Kriminalisierung des Krieges als Gefahr für Weltfrieden

Die Abschaffung des Krieges als neue Konstruktion der Weltordnung und die Kriminalisierung des Krieges sind zu zwei Seiten derselben Medaille geworden: Das eine setzte das andere voraus. Beide – Abschaffung und Kriminalisierung des Krieges – stellen die Politik und Moral höher als die Justiz und verhindern, sogar absichtlich, in der öffentlichen Meinung die großen Kriegsfragen klarzustellen. Die steigende Russophobie zeigt deutlich, dass dieses Bündel reibungslos funktioniert.

Ob die Menschen sich davon sicherer füllen können, ist die andere Frage. Einmal, vor dem Zweiten Weltkrieg, haben die Menschen in Europa schon erlebt, dass das Verbot des Krieges als solches und die Erklärung des Krieges zum Verbrechen noch nicht die Beseitigung der Kriegsgefahr bedeuteten. Um der Abschaffung des Krieges als das Kriegsverhütungs-System ein endgültiges Urteil zu machen, weist Schmitt auf zwei Wahrheiten hin: „Erste, das Völkerrecht die Aufgabe hat, den Vernichtungskrieg zu verhindern, also den Krieg, soweit er unvermeidlich ist, zu umgehen, und zweitens, dass eine Abschaffung des Krieges ohne echte Hegung nur neue, wahrscheinlich schlimmere Arten des Krieges, Rückfälle in den Bürgerkrieg und andere Arten des Vernichtungskrieges zur Folge hat“. Schmitt hatte keine Skrupel dabei: „Eine Einhegung, nicht die Abschaffung des Krieges war bisher der eigentliche Erfolg des Rechtes, war bisher die einzige Leistung des Völkerrechtes.“ (23)

Das Jahr 2014 als Wendepunkt

Schmitt beendet seine Untersuchung der Entwicklung des Völkerrechts gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das heißt ohne Verbindung mit dann begonnenem Kaltem Krieg. Auch den Zerfall der Sowjetunion hat er nicht erlebt: Er ist im Jahr 1985 gestorben. Aber seine Teilung der Entwicklung des modernen Völkerrechts nach bestimmten Zeitabschnitten, die er mit der Frage eines Neuen Nomos der Erde in der Verbindung stellt, lässt sich viele Parallelen mit der gegenwärtigen Epoche ziehen.

Es gibt auch immer die Ereignisse, die in der Weltgeschichte die Wendepunkte symbolisieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es Jahr 1914, also der Beginn des Ersten Weltkriegs. Im 21. Jahrhundert ist das Jahr 2014, das der Beginn des Ukraine-Konfliktes datiert. Der Erste Weltkrieg begann als rein europäischer Krieg, endete aber, nach dem Eintritt Amerikas, als Weltkrieg. Die alte eurozentrische Raumordnung war zusammengebrochen und stellte eine neue Aufgabe: auf ihren Trümmern die neue planetarische Weltordnung aufzubauen, wo nicht mehr Europa, sondern die Vereinigten Staaten von Amerika als eine neue überlegende Weltmacht dominieren mag. So entstand ein normatives Projekt des Westens, das auf sein Konto die Erfolge des Zweiten Weltkrieges und Kalten Krieges geschrieben hat.

Doch die Ukraine-Krise seit 2014 hat gezeigt, dass die Suche nach einer neuen planetarischen Raumordnung noch nicht vorbei ist. Es ist für die Menschheit noch die Wahl geblieben, die Schmitt schon lange formuliert hatte: zwischen Pluralität von Großräumen und einem globalen Weltanspruch, zwischen Monismus und Pluralismus, zwischen Monopol und Polypol, zwischen dem Ende der Geschichte und ihrer Weiterführung. Der Kampf um die Zukunft des Planeten bricht somit mit neuer Kraft aus und führt uns zurück zu den Ereignissen von 1914, die Schmitt im Zusammenhang mit der Suche nach dem Neuen Nomos der Erde beschreibt.

Jus Publicum Europaeum als Muster der neuen Weltordnung

Heute, wenn die Konflikte und die Kriege in der Welt kein Ende finden, wächst wider die Bedeutung der Hegung des Krieges mit ihrem erfolgreichen Gleichgewichts-System als Garantie des Weltfriedens. Dabei handelt es sich nicht um eine Konstruktion der als Westfälischer Friede bekannten europäischen zwischenstaatlichen Weltordnung, sondern um ein Modell der Hegung des Krieges in einer multipolar gewordenen Welt. Die Konfliktlinien verlaufen heute, wenn man von der Logik einer multipolaren Welt ausgeht, nicht so sehr zwischen Staaten, sondern zwischen Großräumen oder großen Kulturkreisen, wenn wir von der Terminologie des berühmten amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington ausgehen. Die Kriege und Konflikte zwischen Großräumen werden dann nicht illegal, aber sie werden, soweit sie unvermeidlich sind, umhegen, um neue, wahrscheinlich schlimmere Arten des Krieges zu vermeiden. Die neuen Akteure des Friedens, die Großräume, bekommen die Anerkennung als justus hostis und werden zum Garanten der neuen Weltordnung, ja des neuen Nomos der Erde. Diese Ordnung geht, statt von der justa causa, vom justus hostis aus und bezeichnet jeden Krieg oder Konflikt zwischen gleichberechtigten Souveränen als rechtmäßigen Krieg. Nur dadurch wird die Beseitigung oder Vermeidung des Vernichtungskrieges möglich. Auch die anderen Rechtsinstitute, Regeln und Methoden des Jus Publicum Europaeum, die vierhundert Jahren dem Frieden aufrichtig und in gutem Glauben dienten, wären dann wichtig, etwa Neutralität als Rechtsinstitut und die Festhaltung den großen Politikern ihren Worten.

Ich lasse mich einige Schmitts Überlegungen zu Völkerrecht, Krieg, Weltfrieden und Weltentwicklung als kurze und mehr oder wenig verständliche Thesen formulieren, um zu zeigen, wie aktuell und nützlich seine Lehre zum Verständnis nicht nur des ukrainischen, sondern global gewordenen Konfliktes zwischen Westen und Russland sein könnte. Selbstverständlich vermeide ich dabei keine Absicht, mich in der rein juristischen Diskussion und in den spezifischen juristischen Begriffen zu ertrinken.

1. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Duncker&Humbolt GmbH, Berlin, 5. Auflage 2011, S. 21.

2. Ebenda, S. 21-22.

3. Ebenda, S. 127-128, 234, 250.

4. Ebenda, S. 25.

5. Ebenda, S. 27-28.

6. Ebenda, S. 59, 98.

7. Ebenda, S. 26, 70-71, 89.

8. Ebenda, S. 54-55.

9. Ebenda, S. 62.

10. Ebenda, S. 72-73.

11. Ebenda, S. 114.

12. Ebenda, S. 91-95, 285.

13. Ebenda, S. 234, 245.

14. Ebenda, S. 161.

15. Ebenda, S. 161, 225.

16. Ebenda, S. 188-190.

17. Ebenda, S. 201.

18. Ebenda, S. 201, 210-211.

19. Ebenda, S. 92-93.

20. Ebenda, S. 244.

21. Ebenda, S. 244.

22. Ebenda, S. 240.

23. Ebenda, S. 159, 219.