Russlands Logik der Defensive

Es gibt viele Versuche, Putins Russland zu verstehen. Es gibt genug Analysen und grundsätzliche Untersuchungen zu Russland unter Putins Regierung. Ja, selbst Putin mit seinen Aussagen bildet das fundamentale Gebäude der eigenen Vorstellung über Weltordnung, russische Politik, Geopolitik und die Russlands Zukunft. Seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und zahlreiche Diskussionen im Waldai-Club sind ein gutes Beispiel dafür.

In Deutschland gibt es aber nicht so viele Autoren, die die russische Politik wirklich verstehen möchten, ohne vorerst Putin zu beurteilen. Unter diesen Autoren möchte ich als deutscher Mitbürger mit russischen Wurzeln drei Kenner der russischen Politik hervorheben. Das sind Peter Scholl-Latour, der in seinen Büchern „Russland im Zangengriff“ (2007) und „Der Weg in den neuen Kalten Krieg“ (2009) von der westlichen Arroganz gegenüber Russland gewarnt hat, Alexander Rahr, der im Buch „Der kalte Freund“ (2011) eine mögliche liberale Revolution in Russland skizzieren lässt, und Gabriele Krone-Schmalz, deren Buch „Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“ (2017) für sich selbst spricht. Sie analysieren die russische Politik zu verschiedenen Zeiten: Peter Scholl-Latour die erste Periode der Putin-Regierung bis 2008, Alexander Rahr die Medwedews Regierung bis 2012 und Gabriele Krone-Schmalz die Putins Rückkehr zur Politik nach 2012. Aber die Fragen, die sie zu den spannenden Verhältnissen zwischen dem Westen und Russland aufwerfen, sind dieselben: „Wer bedroht wen? Wer agiert, wer reagiert?“ (Mehr siehe unten)

Logik der defensiven Politik Russlands in einigen Thesen:

Eine liberale Revolution in Russland ist gescheitert

Der Westen hat den Putins Russland „mitgeschafft“

Dämonisierung von Putin und Russland ist die Reaktion des Westens auf das Wiedererstarken Putins Russlands

Die sogenannte unberechenbare Putins Politik ist ein Mythos, der ausgedacht wurde, um das „Putins-Verstehen“ zu eliminieren

Russland wählt für sich die asiatische Modernisierung ohne Verwestlichung

Nukleare Gleichgewicht“ ist die rote Linie, die Putins Russland zuallererst gelegt hatte

Vorbeugung und Einhegung der Bürgerkriege auf seinen Grenzen ist für Russland zur Existenzfrage geworden

Die prowestliche Orientierung der Kiews Regierung ist noch nicht der Wille des gesamten ukrainischen Volkes

Für ein riesiges Land wie Russland mit so geringer Anteil an der Weltbevölkerung gibt es nur die einzige Voraussetzung für das wohlhabendes und friedliches Leben: der Weltfriede

Eine gesunde Skepsis von Peter Scholl-Latour

Scholl-Latour beschreibt das geschwächte Russland in einer Zeit, in der es von drei Seiten unter Druck stand: im Westen durch die Europäische Union und die NATO, im Osten durch seinen mächtigen Nachbarn China und im Süden durch den aufkommenden islamischen Extremismus und Terrorismus. Er beobachtete mit Skepsis, wie der Westen unter Missachtung der Interessen Russlands die Welt in einen neuen Kalten Krieg führte. Seine Kritik am Westen klingt wie eine Warnung, aber noch mehr als die Überzeugung, dass Russland die Schwierigkeiten, von denen es getroffen ist, überwinden wird. Hier sind einige Beispiele.

Seine gesunde Skepsis gegenüber den westlichen Ansprüchen an die Weltherrschaft: „Der Westen kann nicht fortwährend als Richter und gleichzeitig Sanitäter auftreten, genauso wenig aber als Protektor oder Hegemon.“ (1)

Skepsis gegenüber dem amerikanischen Kreuzzug gegen der sogenannten „Achse des Bösen“, den die USA am Anfang des 21. Jahrhundert gestartet haben: „Vielleicht entspricht es der psychologischen Kriegsführung, die Washington mit einem ungeheuren Aufwand am Information und Desinformation betreibt, die amerikanische Öffentlichkeit unter nervösen Druck zu setzen und somit die Fortsetzung eines uferlosen Krieges gegen das ‚Böse‘ weiterzuführen.“ (2)

Skepsis gegenüber dem Kampf der USA gegen den internationalen Terrorismus, verbunden mit der Erkenntnis, dass „so genannter Krieg gegen den Terrorismus überhaupt nichts erreicht hat, sondern das Gegenteil bewirkt hat“. Leider hat sich diese Ansicht in den USA noch nicht eingestellt. Scholl-Latour schreibt: „Mehrheitlich glaubt man weiterhin, den Krieg gegen den Terrorismus führen zu müssen, was natürlich Unsinn ist, denn man kann keinen Krieg gegen den Terrorismus führen. Der Terrorismus ist eine Methode des Kampfes und kein klarer Gegner, aber innerhalb eines Krieges muss man den Gegner genau definieren können. Einfach nur von Islamofaschismus zu reden, reicht nicht aus.“ (3)

Skepsis gegenüber den USA als Vorbild für die Weltgemeinschaft: „Die USA waren für uns einmal die Verkörperung des Rechtsstaates, der Gerechtigkeit und des internationalen Anstands, aber das ist nun leider nicht mehr der Fall.“ (4)

Skepsis gegenüber der westlichen Medien mit ihrer Doppelmoral: „Was ist das für eine ‚globalisierte‘ Gesellschaft, in der alle Menschen angeblich gleich sind, wenn der verbrecherische Mord an dreitausend New Yorkern im World Trade Center einen unbegrenzten Antiterror-Feldzug auslöst, das Abschlachten von Millionen Afrikanern hingegen von unseren Medien weitgehend ignoriert wird?“ (5)

Skepsis gegenüber der westlichen Demokratieförderung der Dritten Welt: „Der Parlamentarismus in Afrika führt dort zu Stammeskrieg. … Wenn in China unsere Demokratie oder die Perestroika von Gorbatschow angewandt worden wäre, dann hätten sie dort das gleiche Unheil angerichtet, das Gorbatschow und Jelzin über Russland gebracht haben. In China bedarf es einer straffen Führung samt einer gewissen wirtschaftlichen Liberalität. Aber die politische Kontrolle darf auf keinen Fall ausbleiben.“ (6)

Skepsis gegenüber der westlichen Demokratisierung von autoritären Regimen: „Der Westen hat sicherlich dringlichere Aufgaben zu bewältigen, als mit subversiven Methoden fragwürdige Regime zu stürzen, in deren Nachfolge Chaos und zusätzliche Verarmung drohen. Dem Regime Weißrusslands wird aufgrund seiner autoritären Führung die Teilnahme an den europäischen Institutionen von Straßburg verweigert. Die Despoten des Südkaukasus hingegen, der Republiken Georgien oder Aserbaidschan, um nur diese zu nennen, sind dort weiterhin hochwillkommen. Die Demokratie droht am Ende an der Heuchelei ihrer Prediger zu ersticken.“ (7)

Skepsis gegenüber der Demokratie in Georgien im Jahr 2008: „Der georgische Staatspräsident Saakaschwili, der durchaus nicht jener vorbildlichen Demokratie ist, als den ihn die westlichen Medien schildern, sondern ein unberechenbarer, paranoider Hitzkopf, hatte für gescheiterte Rückeroberung Süd-Ossetiens den Zeitpunkt gewählt, an dem die Welt fasziniert auf die Olympiade von Pekin blickte und sein amerikanischer Gönner George W. Bush in Washington noch die Macht ausübt.“ (8)

Skepsis gegenüber der ukrainischen Demokratie: „Wenn den Glanz der Orangen Revolution schnell verblasst ist, so lag es wesentlichen daran, dass sich unter dem Deckmantel von Demokratie und Meinungsfreiheit die bereits allgegenwärtige Korruption noch gewaltig steigerte, die industrielle Produktion schrumpfte und die Lebensbedienungen des durchschnittlichen Ukrainers sich verschlechterten.“ (9)

Skepsis gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof: „Vor diesem Gerichtshof werden ja nur irgendwelche schwarzen Potentaten gezerrt, wenn sie den einmal gestürzt sind; oder Kroaten und Serben, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Aber es wird niemals ein verantwortlicher Amerikaner, Brite, Franzose, Russe oder Chinese vor diesem Gerichtshof erscheinen.“ (10)

Skepsis gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft: „Die internationale Staatengemeinschaft ist für mich ein ziemlich dummer Begriff, denn wir haben ja noch nicht einmal eine europäische Staatengemeinschaft, wie sich jetzt gerade wieder herausstellt. Europa ist vollständig handlungsunfähig. Wie kann man aber von einer internationalen Völkergemeinschaft reden?“ (11)

Skepsis gegenüber der „Selbstständigkeit“ Europas, besonders bei der deutsch-französischen „militärischen Verselbstständigung“ gegenüber Washington: „Vizepräsident Cheney hat klar ausgedrückt, dass Amerika bei der angestrebten neuen Weltordnung das Hochkommen einer gleichwertigen Macht resolut verhindern wolle. Diese Deklaration richtet sich in erster Linie gegen die Volksrepublik China … Aber auch Europa ist offenbar von der Administration Bush ins Visier genommen. Jeder Versuch der Berliner oder Pariser Regierung, einen eigenen Standpunkt zu beziehen, wird als Verrat an der atlantischen Solidarität, als unbotmäßige Auflehnung angeprangert.“ (12)

Skepsis gegenüber dem deutschen Moralismus und der Rolle Bundesrepublik als globaler Tugendwächter, hier im Fall von China: „Die zur Tugend mahnende Überheblichkeit deutscher Politiker an die Adresse des chinesischen Giganten, der nun einmal auf ganz anderen Gesellschaftsregeln ruht und auf den Sittenkodex einer vieltausendjährigen Hochkultur zurückgreift, erscheint lächerlich, ja kläglich. Doch diese törichten Gesten und Kraftsprüche kommen in Washington gut an.“ (13)

Skepsis gegenüber der Pressefreiheit in Deutschland, die von Desinformation geprägt ist: „In den USA, in North Carolina, gibt es dafür sogar ein Institut im Regierungsauftrag. Ich kann mir vorstellen, dass es auch bei uns solche Steuerapparate gibt. Das ist nicht illegitim. Aber wenn nicht den Feind, sondern die eigene Bevölkerung getäuscht wird, ist es bedenklich.“ (14)

Skepsis gegenüber der politischen Klasse der Bundesrepublik, die „ohne nennenswerten Widerspruch und mit resigniertem Achselzucken“ das alles hinnahm, was in Afghanistan geschah: „Man schickt also die Bundeswehr zu einer angeblichen ‚Friedensstiftung‘ aus, redet von ‚Nation Building‘, rechtfertigt den Einsatz deutscher Soldaten mit der gelegentlichen Einschulung afghanischer Mädchen, mit ein paar Brunnenbohrungen und mit der Abschirmung von Pseudo-Wahlen zu einem Parlament in Kabul, in dem Warlords und Drogen-Trafikanten den Ton angeben. Die sich steigende Zahl vieler Opfer durch Bombardements der USA Air Force, die Zunahme von ‚Kollateralschäden‘, die angeblich durch die präzise Aufklärungsfähigkeit deutscher Tornados drastisch hätten reduzieren werden sollen, werden ebenso ignoriert wie die Rekordproduktion von Opium und Heroin, die ihren heutigen Umfang erst unter dem Schutz der NATO erzielte.“ (15)

Skepsis gegenüber der „Selbstständigkeit“ Deutschlands in der Frage der NATO-Erweiterung: „Jede Erweiterung der NATO beinhaltet ja auch eine Schwächung, verstärkt die Abhängigkeit dieser Allianz-Struktur von der Supermacht USA. … Statt sich für eine autonome Europa-Verteidigung unentbehrlichen Instrumentarien zuzulegen, fügen sich die deutschen Politiker den Wünschen ihrer Hegemonen und stellen ihm das angeforderte ‚Fußvolk‘ für Einsätze in fernen Weltregionen zur Verfügung.“ (16)

Skepsis gegenüber der deutschen Souveränität: „Es hat lange gedauert, bis die Bundesrepublik Deutschland sich bewusst wurde, dass sie von Washington nicht wie ein souveräner Staat behandelt wird.“ (17)

Skepsis gegenüber der Argumentation Amerikaner bei der Einrichtung in Polen eines Raketenabwehrsystems: „Um es deutlich zu sagen: Es handelt sich dabei um eine flagrante und törichte Provokation Moskaus. Die Behauptung, diese Aufrüstung diene der Abwehr iranischer oder – man höre und staune – nordkoreanischer Interkontinentalraketen, die auf Amerika oder seine Verbündeten gerichtet wären, klingt grotesk. Natürlich wird Russland dieses Projekt als unmittelbare Bedrohung seiner eigenen nuklearen Abschreckung werten.“ (18)

Skepsis gegenüber einem NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine: „Wer jetzt noch ernsthaft dafür plädiert, den ‚Drang nach Osten‘, der von Amerika geführt und von seinen europäischen Vasallen geführt wird, weiter fortzusetzen, und wie Bundeskanzlerin Merkel sowohl den Georgiern als auch den Ukrainern weiterhin Hoffnung auf Beitritt zur Allianz macht, ist sich der ungeheuerlichen Gefahr wohl nicht bewusst, die er damit heraufbeschwört. (19)

Skepsis gegenüber der Verwestlichung des Ostasiens: „Der Westen sollte sich bewusst sein, dass in Ostasien nicht nur neue Machtzentren entstehen, sondern auch zugkräftige Systeme straffer politischer Führung, gekoppelt mit staatlich begünstigter, aber auch regulierter Marktwirtschaft, die sich nach Südkorea, Taiwan, Singapur neuerdings vor allem in Pekin und Hanoi als werbende Experimente bewähren. Dieser ‚aufgeklärte Despotismus‘ im konfuzianischen Raum hat – wie das desaströse Beispiel der Philippinen zeigt – weit positiver Perspektiven für Fortschritt, Technologie und Wohlstand der Massen zu bieten als die Nachäffung amerikanischer Lebensformen, die am Ende nur einer begüterten Oligarchie zugute kommt.“ (20)

Skepsis gegenüber der Ausweitung der Atlantischen Allianz auf den Pazifischen Ozean: „Eine solche Expansion würde in Pekin zwangsläufig als Bestreben gedeutet, den westlichen Einkreisungsring um China auszubauen. Die Europäische Union liefe Gefahr, in eine Koalition gegen das Reich der Mitte hineingezerrt zu werden. Dass bislang kein Politiker in Brüssel oder Straßburg gegen eine solche Denaturierung der Atlantischen Allianz Protest einlegte, enthüllt die beschämende Vasallisierung, mit der sich der alte Kontinent in seinem Verhalten zum transatlantischen Hegemon abgefunden hat.“ (21)

Skepsis gegenüber der Francis Fukuyamas Formel des „Endes der Geschichte“, die eigentlich von ihrem Erfinder selbst widerlegt wurde: „Laut Fukuyama hatte Amerika die Zauberformel gefunden – die Kombination von repräsentativer Demokratie und schrankenloser Marktwirtschaft -, die sich global durchsetzen, dem gesamten Erdball das Vorbild liefern würde. Auf der Basis der Menschenrechte und eines ständig wachsenden Wohlstandes sollte eine ‚pax americana‘ anbrechen, die durch unvergleichliche militärische Überlegenheit gegen jeden ideologischen Widerspruch, jede Form von rebellischen Aufbegehren abgeschirmt wäre. … Heute gesteht er unumwunden seine Fehleinschätzung. … Der Prophet von ‚The End of History‘ nimmt Abschied von Utopie, dass der Markt sich von selbst regele, und schreckt vor der Feststellung nicht zurück: ‚Das amerikanische Markenzeichen ist harten Prüfung angesetzt zu einem Zeitpunkt, da andere Modelle – russisch oder chinesisch – an Attraktivität gewinnen.‘“ (22)

Heute, nach vielen Jahren, fällt es schwer, in den Aussagen von Peter Scholl-Latour etwas zu finden, das seiner gesunden Skepsis widerspricht.

Eine Skizze der liberalen Revolution von Alexander Rahr

Alexander Rahr beschäftigt sich vor allem mit der Frage, warum die deutsche Wirtschaft die Russische Föderation braucht. Er geht von der Prämisse aus, dass die Konfrontationslinien der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts nicht mehr nach dem Schema freiheitliche versus totalitäre Gesellschaftsordnungen verlaufen werden wie im 20. Jahrhundert, sondern nach dem Problem der Versorgung auf unserem Planeten. Angesichts der immer spürbareren Rohstoffkrisen wird die Wirtschaft bald von Ländern kontrolliert werden, die die notwendigen Bodenschätze besitzen. Rahr spricht um eine neue Rohstoffweltordnung, wenn die Bodenschätze und die Größe des Territoriums zu den wichtigsten geopolitischen Aktiva eines Staates geworden sind.

Ressourcen sind heute eine geopolitische Ware. Deshalb wird oft darüber diskutiert, ob Staaten, die mit Bodenschätzen und Rohstoffen gesegnet sind, diese als ihr souveränes Monopol betrachten dürfen, wenn die Weltbevölkerung anderswo hungert und friert. Deshalb hört der Kreml genau hin, wenn zum Beispiel amerikanische Think-Tanks Ideen entwickeln, um alle wichtigen Rohstoffressourcen der Welt unter internationaler Kontrolle zu unterstellen. (23)

Wichtig ist der Zeitpunkt, wann das Buch „Der kalte Freund“ veröffentlicht wurde: vor der Präsidentenwahl 2012 in der Russischen Föderation. Rahr ging von der Situation aus, wenn die USA als traditionell starker Partner nach der Finanzkrise 2008 schwächten, während Russland für Europa und besonders für Deutschland immer wichtiger war. Russland hat viel zu bieten, so ist das Resümee, es kann mit allen seinen Bodenschätzen den Wohlstand Europäer in der Zukunft sichern.

Aber auch Russland braucht Europa, besonders seine Technologie. Vieles hängt von der weiteren ökonomischen Entwicklung Russlands ab. Russland, so Rahr, hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion ein kapitalistisches Wirtschaftsmodell gegeben, das in einzelnen Bereichen ausgezeichnet funktioniert, doch immer noch nicht vollwertig in die globale Weltwirtschaft integriert ist. Das stolze Russland wehrte sich, die Rolle einer verlängerten Werkbank für die westliche und asiatische Industrie zu übernehmen. Moskau glaubt, über die gegenwärtig propagierte Modernisierungspolitik seine eigene Industrie revolutionieren und gegen Mitte des Jahrhunderts in den Rang einer fünf größten Industrienationen aufsteigen zu können. (24)

Solche Position vertrat damals Regierungschef Wladimir Putin, während amtierende Präsident Dmitri Medwedew sich mehr auf liberale Reformen und engere politisch-wirtschaftliche Verflechtung mit Westen orientierte. Vor der Präsidentenwahl 2012 stand also Russland auch vor der Wahl zwei möglichen Varianten der ökonomischen Entwicklung: ein staatskapitalistisches Modell unter der Führung Putin oder eine Eingliederung Russlands in die globale Weltwirtschaft. Welche Variante für Russland am besten ist, verrät Rahr nicht. Er schreibt: „Wir wissen nicht, welche … politischen Zukunftsmodelle in der Lage sein werden, die wachsende Bevölkerung zu ernähren und friedenzustellen. Wir wissen nicht, ob den westlichen Demokratien nicht morgen ihre wirtschaftlichen Ressourcen ausgehen. Wir wissen auch nicht, ob die staatskapitalistischen Modelle die Zukunft besser gestalten können als die heutigen liberalen Demokratiesysteme.“ (25)

Dennoch ist das von Rahr im Buch skizzierte Szenario einer liberalen Revolution in Russland, die er symbolisch als „Oktoberrevolution 2017“ genannt hat, eine sehr nützliche Lektion, die uns viel über die Folgen des liberalen Staatsstreichs für Russland sagen kann. Wie wir inzwischen wissen, fand die liberale Revolution in Russland nicht statt, sondern fand in der Ukraine in Form der „Revolution der Würde“ ihre Heimat. Das ist etwas, worüber man nachdenken sollte.

Eine gewogene Analyse von Gabriele Krone-Schmalz

Eine andere Sichtweise auf Russland wird im Buch „Eiszeit“ von Gabriele Krone-Schmalz dargestellt, obwohl mehr geostrategische als politische. Die wichtigsten Fragen, die sie sich in Bezug auf die unruhigen Beziehungen zwischen dem Westen und Russland stellt, lauten wie folgt: „Wer bedroht wen? Wer agiert, wer reagiert?“ Krone-Schmalz verwendet nicht die Schach-Terminologie wie Brzezinski, wenn sie die Logik der einzigen Supermacht Amerika beschreibt, aber ihre Analyse hilft, die Logik Russlands, die in das geopolitische Schachspiel hineingezogen wird, als defensiv zu begreifen.

Dass Krone-Schmalz eine „Putin-Versteherin“ ist, unterliegt keinen Zweifel. Im Gegensatz zu Alexander Rahr analysierte sie die Situation in Russland jedoch zu einem ganz anderen Zeitpunkt. Die Massenproteste vor und nach der Präsidentschaftswahl 2012, vorwiegend unter den Losungen „Für faire Wahlen!“ und „Putin, geh weg!“, die als Sumpfrevolution (Dezember 2011) und Schneerevolution (Winter 2011-2012) bezeichnet sind, waren vorbei. Putins Präsidentschaft schien so standhaft wie nie zuvor. Eine „demokratische Wende“, wie etwa von Rahr skizzierte liberale „Oktoberrevolution 2017“, sah unrealistisch aus. Stattdessen wurde die Frage der demokratischen Wende in Russland durch die geopolitischen Konflikte zwischen Westen und Russland überschattet. Es gab den Maidan in Kiew, den Konflikt in der Ostukraine und die sogenannte Annexion der Krim, die Krone-Schmalz als Eingliederung der Krim in Russland interpretiert.

Dabei stützt sich Krone-Schmalz auf Immanuel Kants Wahlspruch zur Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“. Sie stellt unglaublich viele Fragen und versucht damit, den gesunden Menschenverstand des Lesers zu wecken, um die in Deutschland geschürte Russophobie durchzubrechen. Sie fragt: „Doch welche Belege gibt es eigentlich dafür, dass der Kreml danach strebt, sich die baltischen Staaten einzuverleiben? Wäre das überhaupt in seinem strategischen Interesse? Woher weiß man, dass Putins Ziele expansiv sind und er den alten Einflussbereich der Sowjetunion wiederherstellen will? Könnten sie nicht auf defensiv sein angesichts einer immer mehr geschrumpften Einflusszone in den letzten Jahrzehnten? Wer agiert, wer reagiert? Und ist Putin der unberechenbare Draufgänger, als der er manchmal dargestellt wird? Oder nicht doch ein rational und strategisch geschickt agierender Machtpolitiker, der damit letztendlich berechenbar ist?“ (26)

Dennoch äußerte sich Krone-Schmalz sehr kritisch über die russische Spezialoperation in der Ukraine. Für Berliner Zeitung (27. 02. 2022) schreibt sie: „Ich war fest davon überzeugt, dass der Aufbau dieser gigantischen russischen Drohkulisse in den letzten Wochen und Monaten, so riskant und überzogen er auch sein mochte, einem einzigen Zweck diente: nämlich ernstzunehmende Verhandlungen mit dem politischen Westen zu erzwingen, um Russlands Sicherheitsinteressen endlich zum Thema zu machen. Ich habe mich geirrt. Es ist nicht so, als hätte ich keine Kriegsgefahr gesehen, aber dieses Risiko habe ich nicht mit einem russischen Angriff verbunden, der für mich ausgeschlossen schien, sondern mit Missverständnissen, technischen oder menschlichen Pannen zwischen Nachbarn, denen jegliches Vertrauen zueinander abhandengekommen ist. Diverse Szenarien waren denkbar auf der Grundlage von Provokationen oder Prozessen, die aus dem Ruder laufen, aber ein kalkulierter und geplanter Überfall auf die Ukraine – das habe ich nicht für möglich gehalten.“ (27)

Krone-Schmalz machte keine Zweifel daraus, dass es um einen russischen Angriff geht, der „durch nichts zu rechtfertigen“ ist. Deshalb ist sie in erster Linie von den Fragen besorgt, ob ihre Position dazu beigetragen hatte, diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu ermöglichen, und ob sie für den russischen Einmarsch mitverantwortlich ist? Die Verständigungspolitik, die sie journalistisch und mit der Sinnhaftigkeit lange Zeit begleitet hatte, sah Krone-Schmalz in Gefahr. Gleichzeitig bestätigte sie nochmals ihre These, dass Putin nicht immer der gewesen sei, der er jetzt ist: „Vielmehr gehe ich davon aus, dass wir diesen Putin mitgeschaffen haben.“ In dieser Mitschuld, die zur Vergangenheit gehört, sucht sie den Optimismus für die Gestaltung der Zukunft. Sie schreibt: „An der grundsätzlichen Aufgabe hat sich nichts geändert: Wir brauchen eine umfassende Sicherheitsarchitektur, die den Bewohnern des europäischen Kontinents allen gleichermaßen Sicherheit bietet. Die war Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Greifen nah. Es ist erschütternd, sich vor Augen zu führen, welche Chance verspielt worden ist.“ (28)

Solche „optimistische“ Kritik macht ihre Analyse von Putins Russland noch mehr aussagekräftiger. Die Sinnhaftigkeit und Vernunft sind also wie immer beauftragt und fördern eine Diskussion über die Themen, die weit über die Geopolitik hinausgehen, unter anderem über die Fragen, die in der Kompetenz der Justiz liegen: Was ist eigentlich ein Angriffskrieg? Wer ist Angreifer und wer ist Verteidiger? Wo liegt die Kriegsursache? Was unterscheidet die russische Spezialoperation in der Ukraine von den amerikanischen Spezialoperationen in Jugoslawien, Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan? Usw.

Es geht um „Frieden durch Recht“, einen Diskurs, der in Deutschland eine lange Tradition hat und heute mehr denn je gebraucht wird.

1. Scholl-Latour, Peter: Der Weg in den Kalten Krieg, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008/Propyläen Verlag 2009, S. 303.

2. Ebenda, S. 62.

3. Ebenda, S. 301.

4. Ebenda, S. 307.

5. Ebenda, S. 95.

6. Ebenda, S. 317.

7. Ebenda, S. 199-200.

8. Ebenda, S. 324.

9. Ebenda, S. 198.

10. Ebenda, S. 306.

11. Ebenda, S. 303.

12. Ebenda, S. 79-80.

13. Scholl-Latour, Peter: Rußland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007, S. 19.

14. Scholl-Latour, Peter: Der Weg in den Kalten Krieg, S. 28.

15. Ebenda, S. 345.

16. Ebenda, S. 58.

17. Ebenda, S. 188.

18. Ebenda, S. 325.

19. Ebenda, S. 323.

20. Ebenda, S. 183.

21. Ebenda, S. 244.

22. Ebenda, S. 337-338.

23. Rahr, Alexander: Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen: Die Insider-Analyse, Carl Hanser Verlag München 2011, S. 3-4, 91-93.

24. Ebenda, S. 9.

25. Ebenda, S. 9.

26. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist, Verlag C.H. Beck, München 2017, S. 9.

27. https://www.berliner-zeitung.de/welt-nationen/putin-kennerin-gabriele-krone-schmalz-ich-habe-mich-geirrt-li.214288

28. Ebenda.