Der Westen hat den Putins Russland „mitgeschafft“

Der Ausgangspunkt des neuen geopolitischen Schachspiels um Herzland Russland ist bekannt: das Ende des Kalten Krieges. In der Welt entstand plötzlich eine ganz neue geopolitische Situation, die die neuen geopolitischen Schachregeln brauchte. Es war eine große Euphorie, endlich in einer friedlichen Welt zu leben! Millionen Menschen in Europa und weltweit haben auf dem Tisch den westlichen Regierungen als Siegern im Kalten Krieg eine dicke Portion der Legitimität hingelegt, mit der Hoffnung, dass ihre Regierungen genug klug, vernünftig und lernfähig sind, um mit dem Vertrauen der Menschen richtig umzugehen. Eine friedliche Weltordnung war ihre Hauptanforderung.

Die Verantwortung beim Aufbau des neuen Gebäudes des Weltfriedens haben sich selbstverständlich die USA übernommen – als Hauptsieger im Kalten Krieg. Russland wurde aus diesem Prozess als gleichberechtigter Partner von Anfang an ausgeschlossen – im Einklang mit Brzezinskis geostrategischer Logik. Das heißt: Amerika verspürte keinerlei Neigung, seine Weltmacht mit Russland zu teilen. Es wäre auch unrealistisch gewesen, da das neue Russland zu schwach war, um auf globaler Ebene mit Amerika gleichzuziehen.

Das war die erste Lehre, die Putins Russland aus seinen Beziehungen mit Westen gezogen hat. Über diese Lehre erinnert Wladimir Putin in seinem Gastbeitrag in Zeit Online angesichts des 80-jährigen Überfalls auf die Sowjetunion. Er schreibt: „Wir hofften, dass das Ende des Kalten Krieges einen Sieg für ganz Europa bedeuten würde. Nicht mehr lange, so schien es, und Charles de Gaulles Traum vom geeinten Kontinent würde Wirklichkeit werden, und das weniger geografisch vom Atlantik bis hin zum Ural als vielmehr kulturell und zivilisatorisch von Lissabon bis Wladiwostok. Gerade in diesem Sinne – in der Logik der Gestaltung eines Großen Europas, das durch gemeinsame Werte und Interessen zusammengehalten würde – wollte Russland seine Beziehungen zu den Europäern aufbauen. Sowohl wir als auch die Europäische Union konnten auf diesem Wege viel erreichen. Es setzte sich jedoch ein anderer Ansatz durch. Diesem lag die Erweiterung der Nordatlantischen Allianz zugrunde, die selbst ein Relikt des Kalten Krieges war. Denn geschaffen war sie ja zur Konfrontation aus der damaligen Zeit heraus. Die Grundursache des zunehmenden gegenseitigen Misstrauens in Europa lag im Vorrücken des Militärbündnisses gen Osten, das im Übrigen damit begann, dass die sowjetische Führung de facto überredet wurde, dem NATO-Beitritt des geeinten Deutschlands zuzustimmen. Die damaligen mündlichen Zusagen nach dem Motto „Das ist nicht gegen euch gerichtet“ oder „Die Blockgrenzen werden nicht an euch heranrücken“ wurden nur allzu schnell vergessen. Der Präzedenzfall wurde geschaffen.“ (1)

Krone-Schmalz bezeichnet diese erste Phase des geopolitischen Schachspiels zwischen Westen und Russland als „Verspieltes Vertrauen“. Zwar waren Deutschland und Frankreich durchaus an einer engeren Kooperation interessiert, aber in den osteuropäischen Staaten und in den USA sah man das anders. In Washington hatte man sich abgewöhnt, Russland ernst zu nehmen, und vom Vertrauen aus Perestroika-Zeiten, wenn es denn je wirklich existiert hat, war nicht mehr zu spüren.

Das traf besonders die ersten Jelzin-Jahre durchaus zu, als Russland sich vorbehaltlos nach Westen orientierte und eine Einbindung in die europäisch-transatlantischen Strukturen anstrebte. Es befand sich im Chaos und hoffte auf die Unterstützung des Westens. Die Hilfsbereitschaft, bemerkt Krone-Schmalz, war groß, aber an einer Partnerschaft auf Augenhöhe war dem Westen nicht gelegen. Die Frage ist, war das Ziel damals, Russland zu helfen, oder doch eher, die eigenen Märkte abzusichern und zusätzliche Marktanteile zu gewinnen? Moskau wurde aus westlichen Hauptstädten und von Einrichtungen wie dem IWF, dem Internationalen Währungsfonds, mit detaillierten Vorschriften überschüttet, die zwingend zu befolgen waren, andernfalls gab es weder Zusammenarbeit noch Kredite. Solche Verhältnisse bargen in sich ein erhebliches Destabilisierungspotenzial. Wie der inzwischen verstorbene Altbundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 2000 zu Recht bemerkte, war die Politik des IWF für die wirtschaftliche Krise Russlands in den 1990er Jahren mitverantwortlich. (2)

In der Mitte der 1990er Jahren, spätestens als die USA 1993 Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen in ihrem Streben nach einer NATO-Mitgliedschaft unterstützen und sich gleichzeitig dem russischen Wunsch nach einer Eingliederung in die NATO und einem Bündnisvertrag mit Washington verweigerten, war die „romantische Phase“ in den Beziehungen zum Westen vorbei. Im Dezember 1994 warnte Jelzin vor einem „kalten Frieden“, sollte die NATO sich Richtung Osten erweitern, was jedoch nichts bewirkte. Auch die antiserbische Haltung des Westens bei der Auflösung Jugoslawien und im Bosnien-Konflikt (1992-1995) trug zur Verhärtung der Beziehungen bei. Denn jetzt zeigte sich, dass es nicht zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa, etwa im Rahmen der OSZE, kommen würde. In Russland entstand der Eindruck, der Westen drücke Moskau in die Rolle eines Juniorpartners und degradierte Jelzin zu einem Bittsteller, anstatt ihn wie einen Partner zu behandeln. (3)

Der Westen stellte also deutlich sein Reglement im geopolitischen Schachspiel mit Russland fest: Dieses Land nicht mehr als einen ernsten geopolitischen Spieler wahrzunehmen. Heute sprechen viele Experten um einen groben Fehler. Aber schon im Jahr 1998, schreibt Krone-Schmalz, als die erste Welle der NATO-Osterweiterung durch den US-Senat ratifiziert worden war, hatte der damals 94-jährige George Kennan, der Architekt der amerikanischen Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, gewarnt, dies sei der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Er behauptete: „Ich denke, das ist ein tragischer Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund dafür. Niemand bedrohte irgendjemanden …  Natürlich wird es darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben, und dann werden sagen: So sind die Russen, wir haben es euch immer gesagt – aber das ist komplett falsch.“ (4)

Auf dem Beispiel der NATO-Erweiterung hat Russland also gelernt, den „schönen“ Versprechungen des Westens – sogar auf dem höchsten Niveau – nicht zu vertrauen: Sie können leicht unter dem Druck der geostrategischen Interessen vergessen werden. Die westliche Politik mag solche Ignorierung der Vereinbarungen mit Partnern nur als eine harmlose „Schwäche“ ihres demokratischen Systems betrachten. Für Russland ist das aber die harte – zwischen Leben und Tod – Realien. Russland sollte sich in den 1990er Jahren so schnell wie möglich von Euphorie der Veränderung und naivem Vertrauen in den Westen befreien, um das Land von der weiteren Selbstzerstörung zu retten.

Anfang 1999, so Krone-Schmalz, wurde das sogenannte NMD-Programm (nationale Raketenabwehr) verabschiedet. Theoretisch richtete sich diese vor allem gegen die beiden „Schurkenstaaten“ Iran und Nordkorea und deren mögliches Nuklearpotential. Praktisch betrachtet, können entsprechende Abfangraketen aber natürlich auch gegen andere Länder eingesetzt werden. Es war klar, dass diese Pläne das Potential hatten, einen neuen globalen Rüstungswettlauf einzuläuten und die nukleare Balance zu verletzen. Russland und China waren jedenfalls alarmiert. Im Dezember 1999 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen dementsprechend eine Resolution, in der die USA dazu aufgefordert wurden, von diesen Plänen Abstand zu nehmen. (5)

Die nukleare Balance, erinnert Krone-Schmalz, war im Kalten Krieg sicherlich eine Garantie von großen vernichtenden Kriegen. Das Gleichgewicht zwischen den atomaren Supermächten beruhte auf der sicheren Fähigkeit, sich wechselseitig atomar vernichten zu können. Selbst bei einem nuklearen Erstschlag der einen Seite war die jeweils andere in der Lage, vernichtend zurückzuschlagen, was man als Zweitschlagfähigkeit bezeichnet. Aber schon damals versuchten die USA, ein Raketenabwehrsystem zu entwickeln, das diese Zweitschlagfähigkeit genommen hätte. Dazu gehörte etwa von Ronald Reagan angeordnete Initiative zum Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen, das sogenannte SDI-Programm. Anders ausgedrückt: Ein Erstschlag der USA (ähnlich wie es nach dem Zweiten Weltkrieg noch gewesen war, wenn nur die USA die Atomwaffe im Besitz hatten) wäre wieder denkbar. (6)

Nach den Anschlägen des 11. September 2001 beschleunigte George W. Bush dieses Vorhaben. Er hatte allerdings ein Problem: Der 1972 mit der Sowjetunion geschlossene ABM-Vertrag verbietet solche Raketenabwehrsysteme. Am 13. Dezember 2001 gab George W. Bush daher bekannt – vertragskonform mit einer sechsmonatigen Kündigungsfrist -, dass sich die USA einseitig aus dem ABM-Vertrag zurückzieht würde. (7) Die Zerstörung des zum Ende des Kalten Krieges mit großen Bemühungen geschaffenen nuklearen Gleichgewichts zwischen zwei atomaren Supermächten Russland und die USA hat begonnen.

Ab 24. März bis 10. Juni 1999 bombardiere NATO Serbien – eine Enklave der Orthodoxie im Zentrum Europas und engen Verbündeten Russlands. Krone-Schmalz bemerkt: Wäre Russland als politischer Akteur ernst genommen worden, dann hätte es keine Bombardierung Serbiens durch die NATO geben dürfen. Aber anders als heute „beschwerte“ sich Russland damals eben nur. Also setzte sich die NATO über alle Einwände hinweg und beschloss Luftangriffe auf Belgrad, um eine „humanitäre Katastrophe“ im Kosovo zu vermeiden. Der UN-Sicherheitsrat wurde übergangen, worüber sich in der westlichen Welt kaum jemand aufregte. Keine gute Erfahrung für jemanden, von dem erwartet ist, sich an die westlichen Regeln zu halten, die sonst so leicht gebrochen werden können. Die USA sollten „nicht für eine Minute, nicht für eine Sekunde“ vergessen, dass Russland über Nuklearwaffen verfüge, drohte Jelzin, als er von NATO-Bombardements in Serbien erfuhr. Doch war dies, wie der russische Historiker Dietmar Neutatz schreibt, weniger ein „Zeichen der Stärke“ als vielmehr „Ausdruck der Hilflosigkeit“ gegenüber der Politik des Westens. (8)

Seit der Bombardierung Belgrad 1999 lernte also Russland nochmals, was die westliche Politik als ganz konkrete Praxis bedeutet. Der „liberale Imperialismus“ bekam in Jugoslawien seine spezifischen Umrisse. Nach Jugoslawien kamen Irak, Libyen, Syrien und Afghanistan, verfolgt von Arabischer und anderen „farbigen“ Revolutionen. Das Szenario war das gleiche: Einmischung in den inneren Angelegenheiten der Staaten unter dem Namen der Demokratieförderung, um durch Regime Change die eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen.

Dies hat sich zu einem Trend im geopolitischen Schachspiel entwickelt: Kein besonderer Respekt gegenüber Atommacht Russlands zu zeigen. Zum Ende der 1990er Jahre wurde die russische Rüstungs- und Atomindustrie fast zerstört, das nukleare Arsenal teils verschrottet und großteils veraltet. Auch die Streitkräfte befanden sich in einem kläglichen Zustand. Viele militärische Modernisierungsprogramme und technische Projekte wurden aus finanziellen Mangeln gefriert, viele streng geheime Sekrete gingen in die Hände der westlichen Geheimdienste. Im Schach heißt diese Kombination „Die Beseitigung der Schutzfiguren“. Es schien so, dass Russland sich unaufhaltsam in einer ernsten geopolitischen Pattsituation rutschte.

Eskalation des Tschetschenienkrieges, den ganzen Land erschütterte Terroranschläge, wirtschaftlicher Kollaps, Default 1998, immer mehr verbreitete Arbeitslosigkeit, Massenabwanderung von Wissenschaftlern und Spezialisten, Obermacht den Oligarchen in der Politik und der Medien, Degradierung der Gesellschaft durch Alkoholismus, Drogenkonsum und Hoffnungslosigkeit, Verbreitung des Separatismus und vieles mehr: Es sah so, dass es noch ein paar geopolitischen Zügen reichte, um „ungehorsames“ Russland zu unterordnen. Der weise König „Supermacht“ kann dann endlich dem schwarzen König „Souveräne Russland“ ein Matt ankündigen.

Am 31. Dezember 1999 machte aber Jelzin bei der Neujahrsansprache an russisches Volk seinen letzten und wichtigen Schachzug: Er machte Wladimir Putin zu seinem Nachfolger. Krone-Schmalz hat diese Machtwechsel folgendes charakterisiert: „Und dann inthronisierte Jelzin, ein alter kranker Mann, Ende Dezember 1999 seinen jungen tatkräftigen Nachfolger Wladimir Putin, der bereits seit August 1999 als Ministerpräsident amtierte und es sich zur Aufgabe gemacht, ‚sein‘ Land wieder auf die Beine zu bringen. Nach all den Demütigungen wollte er den Menschen wieder Selbstvertrauen geben. Eine Mischung aus Politik, Psychologie („wir sind wieder wer“) und Glück (steigende Rohstoffpreise beflügelten die Wirtschaft und ermöglichten es Russland, vorfristig alle Auslandsschulden zu begleichen) mobilisierte ungeahnte Kräfte und führte Russland weit weg von dem Abgrund, in den es nach Ansicht vieler politischer Beobachter längst hätte fallen müssen.“ (9)

Ab 1. Januar 2000 begann die neue Epoche der Beziehungen zwischen Westen und Russland, die Krone-Schmalz als „Russlands Rückkehr“ bezeichnet. Statt mit einem Bittsteller namens Jelzin hatte man es plötzlich mit einem politischen Führer zu tun, der eigene Vorstellungen über die Geschwindigkeit von gesellschaftlicher Transformation hatte („Demokratie entsteht nicht über Nacht“), der als Gleicher unter Gleichen behandelt werden wollte, der zu allem Überfluss auch noch aus dem Geheimdienst kam und meinte, dem Westen Angebote zur Zusammenarbeit machen zu können. Außenpolitisch, meint Krone-Schmalz, war der junge russische Präsident ohne Wenn und Aber westlich orientiert. Entsprechende Signale hat er in seiner ersten Amtszeit (2000-2004) nicht einmal gestand. Bei seinem Staatsbesuch in Deutschland 2001 brachte er zum Beispiel eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon ins Gespräch und signalisierte die Bereitschaft, über einen russischen NATO-Beitritt zu sprechen. Die Rede Wladimir Putins vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001 ließ jedoch bereits eine gewisse Enttäuschung erkennen. Er gab zu: „Wir sprachen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen.“ (10)

Das Vertrauen zwischen amtierenden Politikern als das wichtigste Element der Weltpolitik wurde zu den neuen geopolitischen Schachregeln untergeordnet. Das war besonders spürbar am Anfang 2007, die die nächste Wende in der Weltpolitik bezeichnete. Im Februar 2007, unmittelbar nach der Aufnahme der offiziellen Verhandlungen über die Raketenabwehr in Polen und Tschechien, trat Wladimir Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz mit Rede auf, die als „Paukenschlag“ empfunden wurde. Der russische Präsident, so Krone-Schmalz, hatte in klaren Worten vor der Tendenz der Bush-Administration gewarnt, sich überall in der Welt das Recht zur alleinigen Entscheidung zu nehmen, ohne Rücksprache mit anderen. Putin sprach auch die Sorge an, dass die Sicherheitsinteressen Russlands nicht angemessen berücksichtigt würden. Gleichzeitig bekräftigte Putin aber die russische Bereitschaft zur Kooperation, also seine Rede nicht als Auftakt eines „neuen kalten Krieges“ zu dachten, wie es im Westen wahrgenommen werden könnte. (11)

Putin zeigte sich also als guter Kenner der Geostrategie und verkündete die Idee einer multipolaren Weltordnung, die allein eine gerechte Machtbalance in der Weltpolitik garantieren kann. Von einem Präsidenten, der bereit war, mit dem Westen als als „Gleicher unter Gleichen“ zu sprechen, hat er sich in einen Geostrategen verwandelt, der bereit ist, im geopolitischen Schachspiel auf dem eurasischen Schachbrett aktiv zu beteiligen.

Das Jahr 2008 war besonders reich an den tektonischen Verschiebungen in der Weltpolitik. Der entscheidende Tag war 17. Februar, wenn das kosovarische Parlament in einer Sitzung einstimmig die Ausrufung der Republik Kosovo als unabhängigen Staat beschloss. In seiner Unabhängigkeitserklärung proklamierte der Kosovo die Loslösung von Serbien und das Recht, einen eigenen souveränen Staat zu bilden. Umgehend erklärte Serbien mit Verweis auf die gültige Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates, die Unabhängigkeit nicht zu akzeptieren.

Mit dieser Resolution aus dem Jahr 1999 war die UN-Verwaltung des Gebiets festgelegt, gleichzeitig aber die Zugehörigkeit des Kosovo zur Bundesrepublik Jugoslawien bestätigt worden. Eine mögliche neue Resolution als Völkerrechtsgrundlage für die Unabhängigkeit Kosovo scheiterte an einem Veto im Sicherheitsrat durch Russland. Einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung erkannten als erste Staaten Großbritannien, Frankreich, die USA, die Türkei, Albanien, Afghanistan und Costa Rica die Unabhängigkeit des Kosovo an. Andere EU-Staaten wie Spanien und Rumänien, aber auch Großmächte wie Russland und China haben erklärt, die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkennen zu wollen. Eine wichtige Rolle spielt dabei für einige Staaten die Überlegung, dass die Anerkennung des Kosovo einen Präzedenzfall für weitere Sezessionsbestrebungen darstellen könnte.

Am 8. Oktober 2008 nahm die UN-Vollversammlung einen Antrag Serbiens an, die Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo durch den Internationalen Gerichtshof (IGH) prüfen zu lassen. Am 22. Juli 2010 wurde die Entscheidung des Gerichts veröffentlicht. Es stellte klar, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht im Widerspruch zum Völkerrecht stehen würde. Insbesondere verletze die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht die territoriale Integrität Jugoslawiens bzw. Serbiens, weil territoriale Unversehrtheit als Völkerrechtsprinzip nur für das Verhältnis zwischen Staaten, nicht jedoch für Akteure innerhalb eines Staates gelte. (12)

Die Konsequenzen des „17. Februars“, die oft mit der Öffnung der Büchse der Pandora vergleichen, zeigt Krone-Schmalz auf dem Beispiel des Südossetiens. Am 12. November 2006 war hier ein Referendum durchgeführt worden, an dem ethnische Georgien nicht teilnehmen durften. Darin sprachen sich 99 Prozent für die „Beibehaltung der Unabhängigkeit“ aus. Der Westen verurteilte das Referendum; Moskau betonte, man werde es nicht anerkennen und Südossetien auch nicht in die Russische Föderation aufnehmen, aber gleichzeitig machte deutlich, dass die Position Russlands in dieser Frage von der zukünftigen Haltung des Westens zum Kosovo abhängen werde. Würde die volle Unabhängigkeit des Kosovo akzeptiert, was die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland im Februar 2008 binnen Tagen nach deren Erklärung getan haben, dann müsse das umgekehrt auch für Südossetien und Abchasien gelten.

Diese Position wurde übrigens nicht nur von Moskau vertreten: Wenn die Abspaltung des Kosovo ohne die Zustimmung Serbiens anerkannt wird, ist der Weg frei für die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens, trotz aller Proteste Georgiens. Worin besteht der grundlegende Unterschied zwischen den Situationen im Kosovo, in Abchasien und in Südossetien? Die umstrittene Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo hatte also eine große Auswirkung auf alle separatistischen Regionen weltweit. Sie wirkte auch in Georgien als Konfliktverstärker, da der damalige georgische Präsident Saakaschwili nun befürchten musste, Südossetien, Abchasien und Russland sich auf diesen Präzedenzfall berufen, um die Abspaltung der Region auch offiziell zu vollziehen. (13)

So wurde die geltende territoriale Integrität als Völkerrechtsprinzip in der Frage gestellt. Dies bedeutet, dass geostrategische Interessen für einige Länder wichtiger sein können als internationales Recht und UN-Resolutionen. Es lohnt sich auch zu erwähnen, dass im Juni 1999, gleich nach dem Ende der Bombardierung Serbiens, begann die USA in Kosovo einen militärischen Stützpunkt zu errichten, der heute zu einer von größter Militärbasis in Europa „Camp Bondsteel“ geworden ist.

Im April 2008 fand in Bukarest ein NATO-Gipfel statt, im ehemaligen Ostblockland Rumänien, das seit 2004 NATO-Mitglied ist. Dort wurde über mögliche NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine verhandelt, die beide seit ihren erfolgreichen „farbigen“ Revolutionen mit neuer Energie in das Bündnis strebten. Wenn heute in Deutschland von diesem Gipfel die Rede ist, erinnert Krone-Schmalz, dann mit dem Tenor, es sei insbesondere Kanzlerin Angela Merkel zu verdanken, der damals, anders als von den USA gewünscht, eine Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO unterblieb. Doch die alliierten politischen Führer stimmten zu, dass die Ukraine in Zukunft ein Mitglied der NATO werden wird. Auch Georgien bekam gute Beitrittsperspektive. Für Moskau jedenfalls müsste der Eindruck entstehen, dass eine Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO seit dem Bukarester Gipfel als reale Option im Raum stand. (14)

Der NATO-Gipfel in Bukarest warf den neuen Brennstoff im Feuer den nationalhistorischen Konflikten im kaukasischen Hexenkessel, der nach dem Zerfall der Sowjetunion entflammte. Krone-Schmalz beschreibt ausführlich die Chronologie des Georgien-Krieges 2008, die zeigt, wie brüchig der Frieden in dieser multinationalen Region ist und – noch mehr wichtiger – wie dieser Kaukasus-Konflikt der aktuelle Ukraine-Konflikt identisch ist. Abchasien und Südossetien sollten das Schicksal der Krim und des Donbass widerspiegeln, während die Eskalation des Ukraine-Konflikts ab dem Frühjahr 2021 die mangelnde Bereitschaft des Westens zu einem Dialog mit Russland widerspiegelt, allerdings mit viel größerer Intensität.

Wie alle anderen Republiken, so Krone-Schmalz, strebte Georgien in der untergehenden Sowjetunion nach nationaler Unabhängigkeit. Dabei gewannen schnell nationalistische Strömungen die Oberhand. Swiad Gamsachurdia, der 1991 mit 86 Prozent der Stimmen gewählte Präsident Georgiens, ist zu Recht als „fanatischer Nationalist“ charakterisiert worden. Sowohl die Abchasen als auch die Südosseten fürchteten, in einem zentralisierten georgischen Nationalstaat ihre Autonomierechte zu verlieren. Daher hatten die Abchasen und Südosseten zunächst ein Interesse daran, die Sowjetunion in reformierter Form zu erhalten bzw. sich nach deren Zerfall Ende 1991 Russland einzuschließen oder unabhängig zu werden. (15)

Am 18. März 1989 versammelte sich ein abchasisches „Volksforum“ im Dorf Lykhny. Dort sprachen sich etwa 30.000 Menschen für die Trennung Abchasiens von Georgien und die Aufwertung der autonomen Republik zu einer eigenen Unionsrepublik aus, die einer Moskauer Sonderverwaltung unterstellt werden sollte. Dagegen lief die georgische Seite Sturm. Bei Zusammenstößen zwischen Abchasen und Georgiern im Sommer 1989 gab es in Abchasien über ein Dutzend Tote und fast fünfhundert Verletzte. Nach Gerüchten über einen weiteren Zwischenfall im August 1989 behauptete Swiad Gamsachurdia: „Die Abchasen sind Terroristen. Sie sind Agenten Moskaus, instruiert, unschuldige Georgien zu töten.“ Darin zeigt sich bereits ein Muster, das bis heute Bestand hat: Die georgische Seite war nicht in der Lage, die Interessen der Abchasen und Südosseten als legitim anzuerkennen, was die klassische nationalistische Haltung gegenüber Minderheiten widerspiegelt. Die Georgier konnten ihr Handeln nur mit den finsteren Machenschaften Moskaus erklären. Bedenklich ist allerdings, dass dieses Narrativ der georgischen Nationalisten von vielen im Westen unkritisch geteilt wurde. (16)

Anders als Abchasen (sie wurde zunächst eine eigenständige Sowjetrepublik, erst 1931 hatte Stalin Abchasien einem Geburtsland Georgien zum Geschenk gemacht) gehörte Südosseten ursprünglich zum Königreich Georgien. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde es zwar in das Russische Reich eingegliedert, verfügte aber über eine Selbstverwaltung. In den unübersichtlichen Zeiten der Oktoberrevolution besetzten georgische Truppen auch diese Region, denn die Bewohner des heutigen Südosseten hielten es mit den Bolschewiken und widersetzen sich der Beherrschung aus Tiflis. Nachdem der Widerstand im Juni 1920 endgültig gebrochen worden war, kam es zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Über 40 ossetische Dörfer wurden niedergebrannt, mindestens 5000 Osseten kamen ums Leben. Nach der Eroberung durch die Rote Armee blieb Südossetien Teil der georgischen Sowjetrepublik, allerdings als autonome Region. (17)

Im September 1990 erklärten sich die Südosseten zur Unionsrepublik der UdSSR und damit für unabhängig von Georgien. Nachdem Gamsachurdia bei den georgischen Parlamentswahlen im Oktober 1990 einen großen Wahlsieg eingefahren hatte, hob der Oberste Sowjet Georgiens am 11. Dezember 1990 einseitig den autonomen Status von Südossetien auf. Am nächsten Tag verhängte er dort den Ausnahmezustand und beschloss eine Belagerung der Region. Damit nahm der Krieg in Südossetien seinen Lauf. Georgische Truppen drangen in Südossetien ein und machten mehr als 100 ossetische Dörfer dem Erdboden gleich. Bei einer dreiwöchigen Besetzung Zchinwalis im Januar 1991 zerstörten sie zudem auch gezielt südossetisches Kulturgut und Friedhöfe. Anschließend rächten sich die Osseten. Ungefähr 10000 Georgier flohen aus Zchinwali aus Angst um ihr Leben. Ab Mitte des Jahres beschossen die Georgier die Stadt Zchinwali mit Artillerie – sie wurde dadurch weitgehend zerstört. Am 19. Januar 1992 wurde ein Referendum abgehalten, in dem sich über 90 Prozent der Südosseten für die Unabhängigkeit von Georgien und den Anschluss an das zu Russland gehörende Nordossetien aussprachen. In der Anschlussphase des Krieges im Mai und Juni 1992 griff Russland auf der südossetischen Seite in den Konflikt ein. Dabei stand Moskau selbst unter erheblichem Druck der Nordosseten, die sich mit den Südosseten solidarisiert hatten. (18)

Ende Juli 1992 wurde Georgien als unabhängiger Staat formal in die Vereinten Nationen aufgenommen. Nur zwei Wochen Später fiel die georgische Nationalgarde in Abchasien ein und marschierte auf die Hauptstadt Suchumi zu. Beim Plündern und Brandschatzen in Suchumi brannte die georgische Nationalgarde vorsätzlich das abchasische Nationalarchiv und Nationalbibliothek nieder und zerstörte so fast 95 Prozent des Archivguts zur abchasischen Geschichte. Jedenfalls stießen die Georgier auf einen unerwartet hartnäckigen militärischen Widerstand der Abchasen. Die Abchasen erhielten die Unterstützung vom Kongress der Bergvölker des Kaukasus, vor allem von den Tschetschenen und Tscherkessen, von in der Türkei, Syrien und Jordanien lebenden Abchasen und auch von Russland. Im Laufe des Jahres 1993 nahm die russische Unterstützung dann weiter zu. Im September 1993 gewannen die Abchasen schließlich den Krieg. Daraufhin musste fast die gesamte georgische Bevölkerung, mehr als 200 000 Menschen, aus Abchasien fluchten. Die georgische Aggression hatte sich als Bumerang erwiesen. Im Mai 1994 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. Eine Friedensgruppe der GUS, de facto eine russische Truppe, rückte in die Waffenstillstandzone ein. Ebenso wie Südossetien wurde Abchasien zu einem „eingefrorenen Konflikt“. (19)

Nach der Rosenrevolution 2004 löste Saakaschwili seinen Vorgänger Schewardnadse als Präsident ab. Er genoss in den USA großes Vertrauen, denn er hatte in Amerika studiert, promoviert und einige Zeit als Anwalt gearbeitet. Die Bush-Regierung betrachtete ihn als „our guy“ im Kaukasus. Er hatte nie einen Hehl daraus, sich nach Westen orientieren zu wollen, und forcierte das schon unter Schewardnadse begonnene Streben nach einer NATO-Mitgliedschaft seines Landes. Beim Besuch Tiflis im Mai 2005 fand amerikanischer Präsident George W. Bush die lobenden Worte für die „Rosenrevolution“, pries den „mutigen Kampf des georgischen Volkes für Unabhängigkeit“ und nannte Georgien einen „Leuchtturm des Friedens“. (20)

Doch die „Rosenrevolution“, so Krone-Schmalz, zerstörte das zerbrechliche Gleichgewicht. Denn der Machtwechsel hatte, wie häufig übersehen wird, auch eine nationalpolitische Komponente. Am Tag vor seiner Vereidigung als neuer Präsident Georgiens pilgerte Saakaschwili an das Grab eines georgischen Königs des 12. Jahrhunderts und schwor: „Georgien wird vereint sein, stark, es wird seine Integrität wiederherstellen und ein vereinigter, stärker Staat werden.“ Am 21. September 2004 legte er der UN-Generalversammlung einen Plan vor, der Abchasien und Südossetien in den georgischen Staatsverband zurückführen sollte, war von den beiden Regionen abgelehnt wurde.

Im Frühjahr 2004 eskalierte die Situation, als Georgien die Grenze zu Südossetiens abriegelte und Spezialkräfte, Panzer und Artillerie zusammenzog, worauf Russland seinerseits mit militärischen Verstärkungen antwortete. Es kam zu den schwersten Gefechten seit dem Waffenstielstand von 1992, und der im August 2004 ausgehandelte neue Waffenstillstand blieb brüchig. Unter anderem wurde die südossetische Hauptstadt Zchinwali im September 2005 durch die georgische Armee beschossen. Es gab also klare Anzeichen, dass für Saakaschwili auch eine gewaltsame Lösung der Konflikte um Abchasien und Südossetien eine Option war. Auf die Frage, ob er glaube, dass die Südosseten und die Abchasen überhaupt noch etwas mit dem Georgien tun haben wollten, erwiderte Saakaschwili 2008: „Es geht nicht darum, ob sie zu uns zurückkommen, sondern darum, dass wir zu ihnen kommen; diese Gebiete gehören alle zu Georgien“. (21)

Krone-Schmalz führt genug Beispiele an, um zu beweisen, dass Russland keine Eskalation des Konfliktes wünschte, etwa den Einmarsch in Georgien im Voraus zu planen. Dazu passt etwa die Tatsache, dass Russland noch am 15. April 208 im UN-Sicherheitsrat dazu aufrief, den georgisch-abchasischen Konflikt „mit ausschließlich friedlichen Mitteln und im Rahmen der Resolutionen des Sicherheitsrates zu regeln“. Im Mai 2008 warnten hohe russische Amtsträger den Moskauer US-Botschafter vor einem bevorstehenden georgischen Angriff. Am 6. Mai sagte der russische Generalstabschef Juri Balujewsky in einem Telefongespräch mit dem Botschafter, Russland sorge sich wegen der Gefahr eines militärischen Konfliktes im Kaukasus. Er erklärte: „Während Russland keinen Kampf mit Georgien suche, würde es aber seine Interessen in der Region verteidigen“. Balujewsky erinnerte daraufhin an den Abchasienkrieg von 1992/93, der viele Leben gekostet habe, und stellte fest: „Wir können nicht erlauben, dass dies noch einmal geschieht“. Die USA sollten verstehen, dass diese Angelegenheit „nur am Verhandlungstisch aufgebracht werden dürfte“. Er warnte auch, dass die Option eines NATO-Beitritts Georgiens die Spannungen in der Region verstärkt habe. Weil er auf US-Unterstützung baue, könne Saakaschwili „fehlkalkulieren“. (22)

Doch in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 begann die georgische Großoffensive gegen Südossetien mit Panzern, Kampfjets und Raketenwerfern auf die schlafende Zivilbevölkerung und die dort stationierten Friedenstruppen. Unter anderem wurden Streubomben eingesetzt. Dutzenden Zivilisten kamen ums Leben, das Ausmaß der Zerstörung gerade ziviler Objekte war enorm. Auch 14 Angehörige der russischen Friedenstruppen kamen ums Leben, da ihr Hauptquartier gezielt von georgischer Artillerie angegriffen wurde. Schon am selben Tag verkündete Georgien, weite Teile Südossetiens erfolgreich besetzt zu haben. (23)

Es wäre für Saakaschwili eine „militärische Dummheit“, gegen Russland einen Krieg zu verkünden, stützte er nicht auf die Unterstützung von Amerika. Es handelte sich nicht nur um „mehr als hundert US-Militärberater“, die damals in den georgischen Streitkräften tätig gewesen seien, und nicht um „einer noch größere Zahl von US-Spezialisten und Beratern in den georgischen Machtstrukturen und der Verwaltung“. Tatsächlich, so Krone-Schmalz, ist nach wie vor unklar, welche Rolle sie zu Beginn und während des Georgienkrieges gespielt hatten. Noch mehr wichtiger war die andere Unterstützung. Krone-Schmalz zitiert der „taz“-Artikel vom 13. August 2008, wo berichtet ist, wie NATO-Diplomaten hinter verschlossenen Türen inzwischen einräumten, dass die auf dem Bukarester Gipfel beschlossene Beitrittsperspektive für Georgien beim Kriegsausbruch insofern eine Rolle spielte, als sie Saakaschwili dazu ermutigt habe zu versuchen, Südossetien mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen. Für dieses Vorgehen habe er in den Monaten vor Konfliktbeginn „zahlreiche Signale der Unterstützung aus Washington erhalten“. Zusammen mit der massiven militärischen und politischen Unterstützung Georgiens durch die USA – unter anderem fand noch im Monat vor der Angriff auf Südossetien ein gemeinsames Manöver statt, an dem mehr als 1000 US-Soldaten beteiligt waren – habe dazu geführt, dass alle Warnungen bei Saakaschwili auf taube Ohren gestoßen seien. (24)

Krone-Schmalz unterstreicht ausdrücklich: Moskau bereitete sich darauf vor, auf einen Angriff Saakaschwilis zu reagieren, doch wollte es den militärischen Konflikt nach Möglichkeit vermeiden. Aber nach georgischer Großoffensive hatte es keiner Wahl: Russland griff nun seinerseits Georgien an (schon in wenigen Stunden nach der nächtliche Bombardierung Südossetiens erklärt damaligen Präsident Russlands Dmitri Medwedew über Anfang der militärischen Operation „Zwang zum Frieden“, Anm. d. Autors) und vertrieb die georgischen Truppen aus Südossetien, wobei es zu Gewaltakten gegenüber georgischen Zivilisten kam, von Seite der russischen Truppen, insbesondere aber durch südossetische Milizen. Die russischen Verbände rückten dann weiter auf georgisches Territorium vor und zerstörten dort militärische Ziele. Die von Russland eingenommenen Teile des georgischen Kernlandes machten allerdings nur einen sehr geringen Teil der Gesamtfläche des Landes aus, während im Westen der Eindruck entstand, Moskau habe halb Georgien besetzt. (25)

Am 12. August 2008 waren die Kampfhandlungen beendet. Russland zog seine Truppen aus dem georgischen Kernland zurück. Die georgischen Truppen und teilweise auch die georgische Bevölkerung waren aus den bisher von Tiflis kontrollierten Gebieten Südossetiens und Abchasiens vertrieben worden. Nach dem Krieg erkannte Russland die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens an – ein Schritt, den es bis dahin immer vermeiden hatte – und schloss mit ihnen Beistandspakte, die es ihm erlauben, dort jeweils 3800 Mann und schwere Waffen zu stationieren. (26)

Es schien so, dass Russland als fleißiger Lehrling im geopolitischen Schach alles richtig gemacht hat: genau nach den neuen geopolitischen Regeln. Es hat die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens nur dann anerkannt, wenn Ähnliches die USA und andere Staaten gegenüber Kosovo gemacht hatten. Auch die von Georgien beantragte einseitige Verurteilung Russlands als „Aggressor“ wies der Internationale Gerichtshof in Den Haag in einem Urteil vom 15. Oktober 2008 zurück – noch eine Bestätigung dafür, dass Russland im Rahmen des geltenden Völkerrechtes handelte. Doch die Reaktion der westlichen Medien war anders: Die Position Tiflis, dass Moskau in Georgien eingefallen sei, traf hier auf großes Verständnis. Innerhalb kürzester Zeit, so Krone-Schmalz, wurde in der westlichen Wahrnehmung aus dem reagierenden Russland der militärische Aggressor, wohingegen Georgien die Opferrolle zugeschrieben wurde. (27)

Es begann die neue Etappe des geopolitischen Schachspiels, wo die strategische Rolle des Georgiens im Krieg 2008 besser erkennbar ist. Gemeint ist die Behauptung, dass gerade der Westen Russland eine Falle gestellt habe. Die USA haben Georgien zum Angriff auf Südossetien ermuntern, um Russland entweder als schwach (falls es nicht reagierte) oder als aggressiv (falls es doch reagierte) hinzustellen. Im Schach heißt diese Kombination „Die Hinlenkung“, die zum Ziel hält, eine Figur des Gegners (russisches Militär) durch eine Taktik wie Gabelangriff (georgische Großoffensive) auf ein bestimmtes Feld (Südossetien) zu ziehen. Falls Russland nicht reagiert, dann wird es schwach, aber das ist unwahrscheinlich, weil dann Russland die Türen für einen blutigen Bürgerkrieg in Kaukasus öffnet. Falls Russland auf die georgische Großoffensive doch reagiert, was eigentlich unvermeidlich war, dann wird Russland zum grausamen Aggressor verdammt, der nicht nur Georgien, sondern die ganze Welt bedroht. Die westlichen Medien werden sich darum kümmern.

Einseitiger Vorwurf Russlands in der Aggression, unabhängig davon, ob es um Expansion aus welchen Gründen oder doch um notwendige Verteidigung geht, wird somit zur neuen geopolitischen Regel. Der geostrategische Kalkül bei Saakaschwili sollte also darin bestanden, einen perspektivlosen Krieg zu beginnen, um dann sich im Westen als Opfer darstellen zu werden. Wir können sagen, dass Saakaschwili diese geostrategische Aufgabe mit Bravour gemeistert hat, ohne sich zu fragen, was das sein Land kostet.

Im September 2008, also gleich nach dem Reinfall Saakaschwili mit dem südossetischen Abenteuer, retteten die USA seine Regierung, unter anderem mit dringend benötigendem Hilfspaket in Höhe von einer Milliarde Dollar. Krone-Schmalz fragt: Wie klingt diese Geschichte in ihren Ohren? Ein Beispiel dafür, wie rücksichtslos Russland mit seinen Nachbarn umgeht, um seine Einflusszone aggressiv auszudehnen? Hätte der Westen damals „agieren“ müssen, um Moskau rechtzeitig in die Schranken zu weisen? Wer hat agiert, wer reagiert? Und welche Rolle spielten westliche Interessen? War Russland expansiv oder defensiv? (28)

Noch eine Lehre für Russland kam aus Kirgistan. Seit der Intervention der USA in Afghanistan gewinnt Kirgistan für Amerika eine große geostrategische Bedeutung; seit 2001 gab es dort eine amerikanische Luftwaffenbasis. Der damalige Präsident Akajew gestattete jedoch 2003 auch die Eröffnung einer russischen Luftwaffenbasis. Das passte aber nicht an die amerikanische Geostrategie. Akajew, der nach einem Sturz durch die „Tulpenrevolution“ im Februar/März 2005 nach Moskau flüchtete, gab „Associated Press“ ein Interview, in dem er sagte, Washington sei offenbar über seinen Versuch verärgert gewesen, den amerikanischen, russischen und chinesischen Einfluss auf sein Land zu balancieren. (29) So hat Kirgisistan gezeigt, dass die amerikanische Geostrategie eine Zusammenarbeit mit Russland oder China ausschließt, selbst wenn es um globale Herausforderungen wie den Kampf gegen den internationalen Terrorismus geht.

Russland hat eine weitere Lektion aus dem Irak-Krieg gelernt: Um jemandem den Krieg zu erklären, können die USA durchaus auf ein inszeniertes Verbrechen zurückgreifen, ohne ernsthafte Beweise vorzulegen. Im Jahre 1990 überfiel Saddam Hussein Kuwait. Mithilfe der PR-Agentur, die das schreckliche Vorgehen der irakischen Soldaten gegen Frühgeborenen in einem Krankenhaus in Kuwait inszeniert hatte, musste eine zögerliche Weltöffentlichkeit davon überzeugt werden, dass militärisches Eingreifen zum Befreien des Wüstensstaates notwendig sei. Der zweite Irakkrieg 2003 wurde mit der Existenz frei erfundener Massenvernichtungswaffen begründet. Krone-Schmalz bezeichnet dies als die Wende bei der Verteilung der Rollen der „Guten“ und „Bösen“ in der westlichen Öffentlichkeit. Sie schreibt: „Die demokratischen Gesellschaften des Westens sind heutzutage – Gott sei Dank – nur sehr schwer für Kriegseinsätze zu mobilisieren. Nationale geopolitische Interessen allein reichen dazu in der Regel nicht aus. Also sehen bei der Legitimation potentieller Einsätze humanitäre Motive im Vordergrund, während von Interessen meist nicht die Rede ist.“ (30)

Solche Methoden sind heute gut verwendbar: In den Fällen „Malaysia-Airlines-Flug 17“, „Skripal“, „Nawalny“ und noch welche, die im Nachhinein irgendwann doch aufgedeckt werden sollen. Die vergebliche Verwendung von Giftgas wurde zur Lieblingsmethode, die erstmals beim Giftgaseinsatz im August 2013 von Ghouta, einem Vorort von Damaskus, erprobt wurde. Krone-Schmalz schreibt: „Es gab hunderte Toten, manche Quellen sprechen von fast 2000 Toten. Die Urheberschaft schien klar: das Assad-Regime, wer sonst? Obama hatte Giftgaseinsätze zur roten Linie erklärt, und der politisch-moralische Druck, endlich militärisch direkt gegen Assad vorzugehen, stieg, unter bemerkenswerter Mithilfe der Medien. Es wurde viel von Beweisen geredet – sowohl in der Politik als auch in den Medien -, aber keine vorgelegt. Bis heute ist der Vorfall nicht letztgültig geklärt.“ (31) Dann kamen die anderen Beschuldigungen Assads Regime in der Verwendung von Giftgas, die sogar zu den amerikanischen Raketenangriffen geführt hatte, aber wieder ohne glaubwürdige Beweisen.

„Demokratisierung“ Syrien ist besonders beispielhaft, weil sie zeigt, wie eine Bekämpfung des Terrorismus den Terrorismus verstärken könnte. In der Krone-Schmalz-Analyse des Konfliktes in Syrien kann das gut verfolgen. Aus der moralischen Überlegenheit, dass der Westen das syrische Volk im Kampf gegen den Diktator Assad unterstützen muss, unterstützt er auch die Rebellen, die gegen das Assad-Regime kämpfen. Es handelt sich zuerst um die Waffenlieferung. Im Juni 2013 verkündete die Obama-Administration, in Zukunft auch ganz offiziell Waffen an die Opposition liefern zu wollen. Hieraus entwickelte sich ein CIA-Programm, in das jährlich eine Milliarde Dollar flossen und das zusammen mit anderen Unterstützerstaaten – Saudi-Arabien, Katar und der Türkei – eine Art Bestellservice für Rebellengruppen einrichtete. Im September 2014 hatte Washington zusätzlich ein Trainingsprogramm aufgelegt, das jährlich etwa 5000 „moderate“ Rebellen militärisch ausbilden sollte und das mit 500 Millionen US-Dollar ausgestattet war. Doch gibt es auch Hinweise, dass die USA schon sehr früh, eventuell schon seit Herbst 2011, in Waffenlieferungen an die Rebellen verwickelt waren. (32)

Tatsächlich gewannen die Dschihadisten schon im Laufe des Jahres 2012 immer mehr Einfluss in Syrien, und dies lag nicht nur daran, dass einige von ihnen aus dem Gefängnis entließen. Eher hatte es etwas zu tun mit der Unterstützung dieser Gruppen aus Ländern wie Saudi-Arabien und Katar, mit dem Zustrom ausländischer islamistischer Kämpfer, nicht zuletzt aus dem Irak, und mit einem zwangläufigen Radikalisierungsprozess durch die Brutalität der Kämpfe. Jedenfalls wurde es zunehmend schwieriger, eindeutig zwischen „gemäßigten“ Rebellen und dschihadistischen Gruppen zu unterscheiden – Fiktion, die aber die Grundlage der amerikanischen Unterstützungs- und Ausbildungsprogramme bildete. Vom Westen gelieferte Waffen sind daher auch in die Hände von Dschihadisten gelangt. In einem von Judical Watch freigeklagten Geheimbericht der DIA, des US-Militärgeheimdiensten, vom August 2012 heißt es: „Die treibenden Kräfte der Revolte in Syrien sind die Salafisten, die Muslimbruderschaft und Al-Qaida im Irak.“ Unter Al-Qaida im Irak werden in diesem Dokument sowohl die Nusra-Front als auch die Gruppen verstanden, die später den Islamischen Staat bildeten; sie trennen sich erst 2013 voneinander. De facto unterstützen die USA mit ihren Hilfsprogrammen also Dschihadisten, darunter die Nusra-Front, also genau jenes Terrornetzwerk, das die USA überall sonst auf der Welt vehement bekämpfen. (33)

Russland hat selber seit geraumer Zeit ein Problem mit islamischen Terroristen. Nicht wenige Kämpfer des IS kamen aus Tschetschenien, und es war zu befürchten, dass sie anschließend noch weiter radikalisiert in ihre Heimat zurückkehren würden. In seiner Rede in New York am 28. September 2015 schlug Putin daher eine breite Koalition gegen den IS vor: „Wie die Anti-Hitler-Koalition könnte sie in ihren Reihen unterschiedlichste Kräfte vereinen, die bereit sind, diejenigen entschieden entgegenzutreten, die wie die Nazis das Böse und die Menschenverachtung säen“. (34)Doch die Idee einer breiten Koalition ist gescheitert, rufe aber zum Leben die Koalition von Russland, Iran, Türkei und Syrien auf, die vor einigen Jahren noch unvorstellbar war.

Seit 2014 entsteht die Wende im geopolitischen Spiel auf dem eurasischen Schachbrett: Von einer tiefen Verteidigung ging Russland zur Einmischung in der Regelbildung der neuen Weltordnung ein. Es handelt sich um die Kämpfe für zwei wichtigste geopolitische Schlachtfelder, Syrien und die Ukraine, die Krone-Schmalz nicht weniger gründlich beschreibt als Georgienkrieg 2008. Die Angliederung der Krim an Russland, die Unterstützung der prorussischen Republiken im Donbass und das militärische Vorgehen in Syrien im Jahr 2015 im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ können als erfolgreiche geostrategische Schritte Russlands bezeichnet werden.

Wladimir Putin, so Krone-Schmalz, hat die Schwächen der westlichen Syrienpolitik offenbar sehr kühl analysiert und sie gnadenlos ausgenutzt. Sie macht die Schlussfolgerung: Das wahre Problem bestand sowohl bei der Ukraine als auch bei Syrien darin, dass der Westen sich daran gewöhnt hatte, Russland in weltpolitischen Fragen nicht wirklich für voll nehmen zu müssen. Als Moskau dann ernsthaften Widerstand leistete, um einem weiteren Einflussverlust zu entgehen, erschien als Unberechenbarkeit, was in Wahrheit eine kühl kalkulierte und vorhersehbare Wahrnehmung eigener – auch ganz nüchterner geostrategischer – Interessen war. „Wer also hat agiert und wer reagiert?“, wiederholt sie nochmals ihre grundlegende Frage. (35)

1. https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/ueberfall-auf-die-sowjetunion-1941-europa-russland-geschichte-wladimir-putin

2. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 14-16, 20.

3. Ebenda, S. 16.

4. Ebenda, S. 22.

5. Ebenda, S. 189.

6. Ebenda, S. 188.

7. Ebenda, S. 189.

8. Ebenda, S. 21-22.

9. Ebenda, S. 19-20.

10. Ebenda, S. 20-21.

11. Ebenda, S. 192-193.

12. https://de.wikipedia.org/wiki/Unabh%C3%A4ngigkeitserkl%C3%A4rung_des_Kosovo

13. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 54-55.

14. Ebenda, S. 36-38, 40.

15. Ebenda, S. 41-42.

16. Ebenda, S. 43-44.

17. Ebenda, S. 44.

18. Ebenda, S. 46.

19. Ebenda, S. 48-50.

20. Ebenda, S. 33.

21. Ebenda, S. 51-52, 54.

22. Ebenda, S. 58-60.

23. Ebenda, S. 56.

24. Ebenda, S. 58-60.

25. Ebenda, S. 56, 61.

26. Ebenda, S. 57.

27. Ebenda, S. 57, 65.

28. Ebenda, S. 64-65.

29. Ebenda, S. 30.

30. Ebenda, S. 75.

31. Ebenda, 113.

32. Ebenda, S. 116-117.

33. Ebenda, S. 123-125.

34. Ebenda, S. 125.

35. Ebenda, S. 120, 127.