Russland wählt für sich Modernisierung ohne Verwestlichung

„Demokratisierung“ Russlands wäre ein einfachster Weg zur Eingliederung des Herzens des Eurasiens in die globale, heißt westliche Marktwirtschaft unter der Führung Amerikas. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sah solche Möglichkeit als fast unvermeidliche Perspektive aus. Doch die Euphorie dauerte nicht lange und verwandelt sich heute in eine tiefe Enttäuschung. Wer hat Schuld: Putins Russland, wie es der politische und mediale Mainstream im Westen behauptet? Oder kommunistische China mit seinen eigenen Vorstellungen über eine neue schöne Welt? Oder Türkei und Ungarn unter den autoritären Führungen von Erdogan und Orban? Oder alle autoritären Machthaber zusammen, etwa Kim Jong-un in Nordkorea oder Lukaschenko in Weißrussland, die die westliche Demokratie einfach ablehnen?

Krone-Schmalz bietet an, die Ursachen der Enttäuschung lieber in westlicher Politik zu suchen. Sie schreibt: „Doch die Vision der neuen liberalen Weltordnung, wie sie etwa der amerikanische Präsident George Bush Anfang der 1990er Jahre entwarf, hatte zwei zentrale Schwächen. Erstens konnte der Westen, insbesondere USA, dem Versuch nicht widerstehen, den eigenen Werten zuwiderzuhandeln, wenn sie geostrategischen Interessen im Wege standen. Und zweitens gewann eine Richtung an Gewicht, die dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen und die Ausbreitung der Demokratie aktiv befördern wollte, wenn nötig, mit Hilfe militärischen Gewalt, zumindest aber durch die Unterstützung von prowestlichen Gruppen innerhalb der Länder, die nicht oder nur halb demokratisch strukturiert waren. Der Gedanke dahinter war derselbe: aktive Beschleunigung, auch durch Regimechange, statt evolutionärer Entwicklung zur Demokratie. Die „westliche Wertegemeinschaft“ schickte sich an, die Welt zu retten, notfalls auch mit Gewalt und gegen den Willen derjenigen, die gerettet werden sollten. Beide Schwächen der neuen Weltordnung zusammen führten dazu, dass sie außerhalb des Westens zunehmend als eine Art „liberaler Imperialismus“ wahrgenommen wurde, als Versuch des Westens, dem Rest der Welt sein System und seine Interessen aufzudrücken. Heute, so wird man nach bald 30 Jahren festhalten müssen, hat dieser liberale Imperialismus mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht. Er ist gescheitert, nur haben das seine Protagonisten noch nicht bemerkt.“ (1)

Krone-Schmalz kritisiert damit die Vision einer neuen liberalen Weltordnung und greift in der Analyse auf eine bekannte Argumentation zurück. Ich erlaube mir, in den Dialog von Krone-Schmalz mit dem Leser einzugreifen, um diese Argumentation noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Die erste Schwachstelle in der Vision der neuen liberalen Ordnung ist nichts anderes als der von dem Historiker August Winkler artikulierte unnachgiebige Konflikt zwischen der Logik der Werte und der Logik der Macht, die sich zu keiner Zeit im völligen Gleichklang befand. Auf Seite der Logik der Werte steht „westliche Wertegemeinschaft“, während die Logik der Macht von den eigenen – auch geopolitischen – Interessen regiert ist. Winkler ist Optimist, er vertraut der inneren Kraft der Logik der westlichen Werte, die die Willkür der Logik der Macht immer heilen und korrigieren kann. Krone-Schmalz ist weniger optimistisch und weist auf die Protagonisten der neuen liberalen Weltordnung hin, die aus dem Schaden des „liberalen Imperialismus“ noch nicht die selbstkritische Lehre gezogen haben.

Die zweite Schwache der westlichen Vision wurzelt sich in westlicher Missionierung und ist mit der nach dem Ende des Kalten Krieges verkündeten These über „Das Ende der Geschichte“ verbunden. Doch heute nehmen solche Ansprüche des Westens kaum jemanden ernst ein. Selbst amerikanischer Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der die These 1989 formuliert hatte, sollte später einstehen, dass für endgültige Demokratisierung und tiefe Liberalisierung aller Gesellschaften auf dem Planeten noch viel Zeit man braucht. In seinem 2006 erschienenen Buch „Scheitert Amerika?“ dekonstruiert er die „Clan-Ideologie“ der Neocons und sagt sich von ihnen los. Er kritisiert die Politik Bushs und vor allem das Mittel des Krieges gegen den Irak als „leninistisch“. „Leninismus“ bedeutet hier für Fukuyama das aktive Eingreifen in unvermeidliche Prozesse, um sie zu beschleunigen, zuerst natürlich mit Hilfe des Militärs. (2)

Eine zu schnell durchgesetzte Demokratisierung der Welt ist ein gutes Argument, um das Scheitern der westlichen Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges zu erklären. Es solle heißen, dass es nicht um die west-liberalen Demokratie als solche geht, sondern um die willkürliche Praxis der westlichen, insbesondere amerikanischen Macht, die die demokratischen Werte nicht für Wichtiges hält, wenn es um geostrategische Interessen geht. Die Korrektur solcher Praxis wäre eine Lösung, um die scheiterte Vision einer liberalen Weltordnung zu retten.

Diese Hoffnung steht jedoch im Widerspruch zur klassischen Lehre der Demokratie als Prozess, deren prominente Vertreter Jean-Jacques Rousseau und Carl Schmitt sind. Diese Lehre konstruiert den demokratischen Prozess als eine Reihe von Identitäten: Identitäten von Regierenden und Regierten, von Staat und jeweils abstimmenden Volk, von örtlichen Gemeinschaften und ihren Repräsentanten im Parlament usw. Solche Konstruktion befreit demokratischer Prozess von der Zugehörigkeit zu den bestimmten Ideologien oder Wertegemeinschaften und kann nicht im Prokrustesbett der west-liberalen Demokratie gelegt werden. Demokratischer Prozess ist vielfältig, in allen Kulturkreisen und unter allen Ideologien, Religion und Weltanschauen verwendbar: als ewige Sehnsucht der Menschen nach besserem Leben. Die im Westen entwickelte demokratische Institutionen und Praktiken sind wichtig, gerade wenn es darum geht, die Willkür der Macht zu bündeln, aber sie spielen eine untergeordnete Rolle gegenüber dem, was dem demokratischen Prozess dient.

Manche „undemokratische“ oder nicht genug demokratische Staaten nehmen gern die Elemente des westlichen Staatssystems auf, etwa Wahlen, Parlament, Parteiensystem und Gewaltenteilung. Aber sie sind sehr vorsichtig zu der politisch-kulturellen Landung des Westens in der Form von Stiftungen, NGO, pro-westlich freien Medien usw. Sie gehen ihren eigenen, womöglich evolutionären demokratischen Weg, abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung, Wohlstand der Bevölkerung, kulturellen und geschichtlichen Besonderheiten: in China und Russland, in Iran und Brasilien, in Südafrika und Indien. Sie leisten den Widerstand gegen alternativlose west-liberalen Demokratie als Regierungsform und geben der Demokratie ihren klassischen Sinn zurück: Selbstbestimmungsrecht des Volkes.

In anderer Situation befinden sich die Staaten, die nach der Zerfall des sowjetischen Blocks in der Einflusszone der besonderen geostrategischen Interessen Amerikas geraten sind, verfügte aber keine Fähigkeiten, einen Widerstand zu leisten: Irak und Libyen, Afghanistan und Syrien, Kirgistan und Moldawien, Georgien und die Ukraine. Diese Staaten mussten Regimewechsel, farbige Revolutionen oder militärische Interventionen über sich ergehen lassen. Ihre Suche nach eigenem Weg zur Demokratie wurde begrenzt oder sogar gebrochen – in der Folge des Bürgerkriegs oder wirtschaftlichen Kollaps. Sie sind also die Opfer des „liberalen Imperialismus“ und sollten sich, statt evolutionärer Entwicklung zur Demokratie, an einem „revolutionären“ Experiment der beschleunigten Demokratisierung beteiligen.

In diesem Sinne sind Russland und die Ukraine zwei anschauliche Beispiele dafür. Russland hat sich für den evolutionären Weg der Demokratieentwicklung entschieden, die Ukraine für den beschleunigten Eintritt in die „westliche Wertegemeinschaft“. Russland hat sich dafür entschieden, veraltete Unternehmen zu modernisieren, vor allem in der Gas- und Ölindustrie, und sein militärisch-industrielles Potenzial zu stärken. In der Ukraine hingegen hat der Prozess der Zerstörung wettbewerbsfähiger Industrien, die zu Zeiten der Sowjetunion der Stolz der sowjetischen Wirtschaft waren, begonnen. Als Nachbarländer befanden sich beide Staaten somit in einem ständigen Wettbewerb zwischen zwei möglichen Varianten für die Entwicklung der Demokratie: zwischen evolutionär oder revolutionär. Es handelte sich im Prinzip um russische Modernisierung ohne Verwestlichung und ukrainische Verwestlichung ohne Modernisierung. Auch wenn sich der Charakter dieses Wettbewerbs nach dem 24. Februar 2022 geändert hat, hat er perspektivisch nichts von seiner Bedeutung verloren.

Die westliche Demokratisierung der Ukraine ist für die Russische Föderation zum einen Art des verzerrten Spiegels: Es zeigt, was mit Russland passieren kann, wenn es sich den Grundsätzen der west-liberalen Demokratie verschreibt. Die beiden Ländern standen seit 1989/90 von relativ gleichen Herausforderung: Wiederaufbau der ruinierenden Wirtschaft, Kampf gegen Korruption, Harmonisierung von ethnischen und religiösen Konflikten, Aufbau den demokratischen Instituten und Entwicklung der Zivilgesellschaft, Bekämpfung den nationalistischen Strömungen und vieles mehr. Nur die Methoden zur Lösung dieser Probleme unterscheiden sich.

Bei näherer Betrachtung ist heute im Putins Russland die Logik der souveräner, vom Westen unabhängiger Entwicklung der Demokratie am wichtigsten: in der Kinder- und Familienpolitik, beim Gesetzgebung, in der Sphäre der Öffentlichkeitsarbeit usw. Die verstärkende Skepsis den Russen gegenüber der west-liberale Demokratisierung auf dem Beispiel Deutschlands schildert Alexander Rahr in seinem neuen Buch „Anmaßung: Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“ (2021). Durch das ganze Buch zieht sich ein ausschlaggebender roter Faden: Die Russen fühlen sich von den Deutschen missverstanden und sind dem moralischen Fundamentalismus und der Parole „Am deutschen Wesen muss die Welt genesen“ leid geworden. In einem Interview mit der Zeitung RT sagte er: „Russen werden wachsam, wenn Deutsche zu ihnen über die Universalität ihrer Werte predigen und den westlichen Liberalismus als einzig tragbares Gesellschaftsmodell der Welt propagieren. Diese Art von Fundamentalismus unterscheidet sich aus Sicht mancher Russen nicht von dem Fanatismus, mit dem Deutsche früher die Welt ‘beglücken‘ wollten und in Wirklichkeit die menschliche Zivilisation fast ruinierten.“ (3)

Die Ukraine als Antipode Russlands sollte dagegen zeigen, wie eine von außen orchestrierte Demokratisierung funktionieren könnte. Das westliche Projekt „Ukraine“ hat sich in ein verzogenes Kind verwandelt, das das Image des Westens nur verschlechtert: durch Misserfolgen in der wirtschaftlichen Entwicklung und beim Kampf gegen Korruption, durch Zugeständnisse an den aufkommenden ukrainischen Nationalismus und die Verherrlichung des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera, durch die Rolle den ukrainischen Oligarchen in der Fragen der Politik und Sicherheit. Oligarch Petro Poroschenko hat als neue gewählte ukrainische Präsident 2014 mehrere Truppen in der Ostukraine geschickt, um die Kontrolle über das prorussische Gebiet militärisch zurückzugewinnen. Er sollte sich aber mit bitterer Niederlage rechnen. Doch bei dem nächsten Präsidentschaftswahlkampf 2019 trat er wieder mit dem patriotischen Wahlslogan „Armee! Sprache! Glaube!“, gabt aber dem jüngeren Gegner Wolodymyr Selenskyj nach, der als TV-Schauspieler bekannt war und die friedliche Lösung der Ostukraine-Krise versprochen hat. Hinter Selenskyj stand ein weiterer Oligarch, Ihor Kolomojskyj. Ein anderer ukrainischer Oligarch, Rinat Achmetow, ist für seine Unterstützung des nationalistischen Asow-Regiments bekannt, das in den acht Jahren eine starke Festung im oligarchischen Fabrik Azovstal in Mariupol errichtet hat.

Die Bildung der Oligarchie spielt in der Demokratisierung des postsowjetischen Raums eine sehr wichtige Rolle. Russland ist keine Ausnahme. Doch es gibt eine Besonderheit, die im Westen am meisten ignoriert ist. Hier herrscht die Behauptung, dass Putins Russland eine Oligarchie ist und deshalb nicht als Demokratie akzeptiert seien könnte. Aber eine solche Behauptung vereinfacht und verzerrt das wirkliche Oligarchie-Problem in Russland. (4)

Die liberalen Reformen bahnen sich in Russland ihren eigenen Weg. Die Liberalisierung ist zuerst die Privatisierung, die in den 1990er Jahren in der frisch gebauten Russischen Föderation zu einer Schocktherapie geführt hatte. Es fehlte damals völlig nach den wichtigsten Elementen der freien Marktwirtschaft, zuerst nach freier und fairer Konkurrenz. Der Prozess der Privatisierung hat die politisch-kriminell-bürokratischen Elemente übernommen, die sich bemühten, so bald wie möglich das üppige Staatseigentum zu privatisieren und zwischen sich zu verteilen.

Das Privatbusiness in Russland basierte sich also auf drei Komponenten. Erste war eine politische Orientierung auf liberale Ideologie mit der harten Ablehnung des Sozialismus und des Kommunismus. Die zweite Komponente des neuen russischen Business war ein kriminelles Element, das in der Sowjetzeit zu dem einzigen Segment des Unternehmensgeistes gehörte, wo sich die Erfahrung der Privatinitiative konzentrierte. In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion ist gerade das kriminelle Milieu zum Treiber der neuen Wirtschaftsordnung geworden. Die Korruption des Beamtentums wurde zu dritter Komponente des russischen Business geworden. Der ganze Prozess der Privatisierung des Staatseigentums wurde von totaler Korruption verfolgt: Neue russische Unternehmer machten den Beamten korrupt, die seinerseits die Korruption erzeugten, um durch Privatisierung eine Quelle des eigenen Reichtums zu schaffen.

In der Spitze der Privatisierung stand die russische Oligarchie, die das große Privatbusiness vertrat. Der Kampf um Macht hat begonnen. Wo der Staat die Verluste hatte, dort machte das große Privatkapital seine Gewinne und umgekehrt. Das wurde zum Hauptgesetz der neuesten russischen Geschichte. In den Regionen hat sich das große Privatkapital mit der örtlichen Bürokratie zusammengeflossen. Demokratische Prozeduren und demokratische Institute dienten in diesem Prozess nur zur Schirmwand. Der moralische Untergang, die Irreführung der Gesellschaft und das ideologische Vakuum, das der Kommunismus nach seinem Ideenzusammenbruch übriggelassen hat, haben die Sache erledigt. Die Gesellschaft hat in der Atmosphäre der ethischen Indifferenz, des Zynismus, der moralischen Apathie, der passiven Willkür versenkt.

In einem Moment war der Staat so schwach und die Oligarchen so stark, dass sie sich als selbständige, mächtige und einflussreiche Macht fühlen lassen und versuchten, den ganzen Staat unter eigene Kontrolle zu übernehmen. Es war das Ende des 20. Jahrhunderts. Das riesige Russland stand an der Schwelle des Zerfalles auf die kleinen feudalen Fürstentümer, mit Häufchen von geizigen Bojaren als Staatsoberhaupt – ein gewünschtes Szenarium Brzezinskis. Doch den weiteren Zerfall Russlands traf nicht: Es begann die Ära des Putins Russlands.

Der Hauptsinn der Reformen vom neuen Präsidenten Russlands bestand darin, den Status des Staates zu festigen, den Prozess der Privatisierung einzudämmen und verlorene Unabhängigkeit des Russlands zurückzuerstatten. „Die Festigung der Vertikale der Macht“ wurde zur politischen Achse der Putins Regierung. Es bedeutete den Prozess der Abtrennung des Staates und seiner Politik von der Oligarchie. Dabei war Putin kein Gegner der freien Marktwirtschaft. Er wollte hingegen die Schaffung von Bedingungen für die organische und planmäßige Entwicklung von kapitalistischen Beziehungen, Festigung und Entwicklung der unabhängigen staatlichen Institute und die Beachtung der sozialen Harmonie.

Das Haupthindernis auf diesem Weg war das große russische Business, das infolge seines Ursprungs gerade das Gegenseitige wünschte. Dies bestimmte den Hauptinhalt der Putins Regierung in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft. Im Jahr 1999 standen an der Spitze der Oligarchie Wladimir Gussinski und Boris Beresowski: Sie sollten die fundamentalen Interessen des russischen Großbusiness äußern und verlauten. Sie haben den Putins Eintritt als eine Funktion des „Schiedsrichters“ angenommen, die aus pragmatischen Interessen vorteilhaft für Oligarchie sein könnte, um die zwischenoligarchischen Kriege nicht zur Katastrophe zu brachen und unter den Bruchstücken des Staates ihre Bereicherungsquelle nicht zu beerdigen.

Nachdem die Oligarchen darauf zusammengestoßen haben, dass Putin größeren Anspruch hat als sie gedacht hatten, und dass Putin will nicht nur als „Schiedsrichters“ fungieren, sind sie in der formalen Opposition zu Putin aufgestanden und zu den ersten Opfer der Putins antioligarchischen Kampagne geworden. Die anderen Oligarchen in der Schlacht zwischen Gussinski-Beresowski gegen Putin haben sich entschieden, die neutrale Position zu nehmen. Eine Geste der Neutralität seitens des großen Privatbusiness war sein Eintritt im Russischen Verband der Industriellen und Unternehmer (RSPP) geworden. Früher war es die Struktur, die die „Roten Direktoren“ vereinigte; jetzt hat sie den Status umgetauscht und fing an, die Rolle des Platzes für einen Dialog zwischen Oligarchen und der Macht zu spielen.

Die Situation in den Beziehungen „Putin – Oligarchen“ hat aber im Jahr 2004, vor den Präsidentenwahlen, wieder zu glühen begonnen. Die Rolle des „speakman“ des Großbusiness hat Michail Chodorkowski übernommen. Chef des „JUKOSS“ dachte ungefähr so: „Repressalien“ gegen großes Privatbusiness der ersten Generation der Perestroika im Laufe der Putins Reformen sind unabwendbar, und weil die Positionen der Oligarchen noch genug stark sind, es ist Zeit, die neue Front zu eröffnen. Chodorkowski hat das Programm-Maximum erfasst, zu beharren, das oligarchische System zu legitimieren, mit einer Perspektive, den Staat im Raum der internationalen Globalisierung endgültig aufzulösen. Er sah sich selbst als Schlüsselfigur dieses fundamentalen Prozesses und hat Putin ein weiteres Mal den oligarchischen „Dschihad“ erklärt. Doch der Staat hat diese Runde gewonnen und setzte feste Offensive gegen großes Privatbusiness weiter fort.

Später waren die Präsidentschaftswahlen 2008, wenn das große Privatbusiness nochmals versuchte, die verlorene Position zurückzubekommen. Die Konfrontation „Putin – Oligarchen“ war also kein Zufall; es handelte sich um Zusammenstoß von zwei Paradigmen der Politik- und Staatsordnung. Für die Oligarchen ist die Eingliederung Russlands in die globale, vom Westen kontrollierte Marktwirtschaft eine beste Option. Putin strebt dagegen, einen tatsächlich starken Staat aufzubauen, der auf dem wirksamen Administrativ- und Wirtschaftsmanagement gestützt sein sollte.

Das staatliche Management muss also mit dem Management der Privatwirtschaft konkurrieren. Es sei die Behauptung, dass in den bestimmten Fällen das staatliche Management nicht weniger und sogar noch effektiver ist als Privatbusiness, besonders bei der Verwirklichung von großen Projekten. Das braucht Russland wie nie zuvor. Dabei trägt die Frage über die Entwicklung des Mittel- und Kleinbusiness in Russland einen prinzipiellen Charakter. Es gab bisher und gibt bis heute in Russland noch keine gut funktionierte Marktwirtschaft, weil das Mittel- und Kleinbusiness als Fundament der nationalen Ökonomie noch zu schwach ist. Für solches Business ist aber wiederum der starke Staat notwendig.

Es handelt sich heute also um eine starke Orientierung der russischen Ökonomie in der Richtung des Staatskapitalismus, Keynesianismus oder dem chinesischen Modell, abhängig von bevorzugter Definition. Im Kern ist das aber das Gleiche: Es geht um eine souveräne, politisch und wirtschaftlich unabhängige Politik im Interesse eines großen und einzigartigen Vielvölkerlandes. Das große Privatbusiness als Relikt der Privatisierung in den 1990er Jahren sollte im Wettbewerb mit staatlichem Management und Mittel- und Kleinbusiness zurückgedrängt werden, zumindest aber stärker in nationale Projekte eingebunden werden. Es handelt sich also um eine Nationalisierung des großen Privatbusiness als ein besonderes Modell der Modernisierung, das der evolutionären Entwicklung der Demokratie nicht fremd ist.

Die Spezialoperation in der Ukraine und darauf folgende Sanktionen, bis die Beschlagnahme von russischen Vermögen und von Privateigentum den russischen Oligarchen, hat diesen Prozess nur beschleunigt: zum Gunsten des Landes und zur Freude von vielen Russen. Der beste „Lehrmeister“ für das russische Projekt der Modernisierung ohne Verwestlichung war daher der Westen selbst: In den 1990er Jahren zeigte er, was westliche Demokratisierung in der Praxis bedeutet, und seine Sanktionen untergruben den Glauben an die wahren Absichten des Westens weiter.

Es ist nicht zufällig, dass Krone-Schmalz eine neue Überlegung der westlichen „Demokratisierung“ Russlands fordert. Sie schreibt: „Alle diejenigen, die auf eine Verwestlichung Russland hoffen und deswegen dem Sturz Putins entgegenfiebern, sollten kritisch prüfen, ob die westliche Politik der letzten Jahre dieses Ziel befördert oder ihm geschadet hat. Und sie sollten sich fragen, warum sie eigentlich davon ausgehen, dass die Verhältnisse ohne Putin besser würden und nicht schlechter. Denn bei aller berechtigten Kritik ist er ein rational kalkulierter, letztlich berechenbarer Politiker. Wäre er weg, käme nicht „die Zivilgesellschaft“ an die Macht, sondern, falls nicht erneut Chaos ausbricht, eventuell sogar jemand, der nationalistischer agiert und wirklich unberechenbar ist. Eine Horrorvorstellung für die internationale Politik. Zur bisherigen Bilanz von „Regimechange“ würde ein solches Ergebnis jedoch bestens passen.“ (5)

1. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 71-72.

2. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/francis-fukuyama-abschied-von-den-neocons-a-407074.html

3. https://de.rt.com/europa/115340-neues-buch-anmassung-beleuchtet-ueberdruss-russen-gegenueber-deutschen-arroganz/

4. Benutzt wird unter anderem das Buch „Конец экономики“ (2010) vom Alexander Dugin. Амфора. ТИД Амфора, 2010.

5. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 253-254.