Die prowestliche Orientierung der Kiews Regierung ist noch nicht der Wille des gesamten ukrainischen Volkes

„Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr“, lautet Brzezinskis Logik der Vorherrschaft Amerikas. Eine amerikanische Geostrategie für die Ukraine besteht darin, alle imperialen Ansprüche Russlands endgültig zu begraben. Eine bloße Existenz der unabhängigen und nach West orientierenden Ukraine, so Brzezinski, sollte zur Umwandlung Russlands beitragen. Die notwendige Voraussetzung dafür ist der Eintritt der Ukraine in die EU und in die NATO. Doch dieser lange und schwierige Weg der Ukraine nach Westen sieht heute wie ein spannender politischer Detektiv aus.

„Die Ukraine wandte sich zunächst nicht von Russland ab“, betont Krone-Schmalz und ergänzt: „Unter Präsident Kutschma verfolgte die Ukraine bis zur Mitte der 2000er Jahre eine Art Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Und Russland nahm hin, dass Kiew Verbindungen in den Westen unterhielt, solange diese nicht zur Aufgabe der Bindungen an Russland führte. Doch dieser Kompromiss galt seit der «Orangen Revolution» vom November 2004, die sich an dem Ausgang einer Präsidentschaftswahl entzündete, nicht mehr. Damals war Viktor Janukowitsch, der von Kutschma favorisierte Kandidat, als Sieger verkündet worden, wogegen das Lager von Viktor Juschtschenko, der in Umfragen vorne gelegen hatte, wegen Wahlfälschung protestierte. Die Massendemonstrationen waren erfolgreich, die Wahl wurde wiederholt, und jetzt gewann Juschtschenko.“ (1)

Die Einmischung der USA in die Wahlen in der Ukraine spielte eine entscheidende Rolle. Krone-Schmalz beschreibt es so: „Später stellte sich heraus, dass der neue Präsident in seinem Wahlkampf erhebliche Unterstützung aus Washington erfahren hatte. Zudem hat Juschtschenko ebenso wie der georgische Präsident Saakaschwili eine persönliche Bindung an die USA. Er ist mit einer Ukrainoamerikanerin verheiratet, die für das US-Außenministerium und unter Reagan im Weißen Haus gearbeitet hat. 65 Millionen US-Dollar sind allein vom US-Außenministerium für die Wahl in die Ukraine geflossen. «Wir wissen nicht genau, wie viele Millionen oder Dutzende Millionen Dollar die Regierung der USA für die Präsidentenwahl in der Ukraine ausgegeben hat», sagte der republikanische Abgeordnete Ron Paul. «Aber wir wissen, dass der Großteil des Geldes zur Unterstützung eines bestimmten Kandidaten gedacht war.» «Kofferweise wird in den Wochen vor der Wahl Bargeld aus den USA am Flughafen Kiew ausgeladen», schrieb der «Spiegel» 2005.“ (2)

Krone-Schmalz fragt: „Eine ganz uneigennützige Hilfe oder doch hatte es etwas mit der Befürchtung zu tun, dass Russland die Ukraine näher an seinen Wirtschaftsraum binden wollte? Im April 2004 hatte das Parlament in Kiew das Rahmenabkommen für die Schaffung eines Einheitlichen Wirtschaftsraums (EWR) zwischen Russland, Weißrussland, der Ukraine und Kasachstan ratifiziert, das im September 2003 vom den Staatschefs dieser vier Länder im Jalta auf der Krim unterzeichnet worden war. Damit wäre Russlands Gewicht in der Region gestärkt worden. Und umgekehrt wären die Hindernisse gewachsen, die man aus dem Weg hätte räumen müssen, wenn die Ukraine in den westlichen Wirtschaftsraum integriert werden sollte, ohne Russland einzubeziehen. Der damalige Oppositionsführer Juschtschenko beeilte sich dennoch im April 2004 vor der westlichen Presse festzustellen, er werde dieses Abkommen im Falle eines Wahlsieges umgehend begraben.“ (3)

Die zweitwichtigste Frage von Krone-Schmalz betrifft die langjährigen Bemühungen der ukrainischen Regierung um einen NATO-Beitritt. Sie schreibt: „Spielte vielleicht auch die NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine eine Rolle? Bereits 1997 die NATO-Ukraine-Charta verabschiedet worden, durch die unter anderem die NATO-Ukraine-Kommission geschaffen wurde. Im Mai 2002 hatte der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine (RNBOU) unter Kutschma beschlossen, das Ziel der Ukraine sei es, der NATO (und der EU) beizutreten. Zwar stand die NATO Kutschma reserviert gegenüber, da sie ihm nicht traute, doch beschloss die NATO-Ukraine-Kommission, im November 2002 dennoch einen «NATO-Ukraine Action Plan», der die Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine vertiefen und erweitern sowie die Ukraine bei ihren Reformanstrengungen auf dem Weg der europäischen Integration unterstützen sollte. 2004 jedoch vollzog Kutschma eine Kehrtwende. Kurz vor einem Treffen mit Putin auf der Krim im Juli 2004 wurde eine revidierte Militärdoktrin der Ukraine veröffentlicht: Darin war nur noch von einer «substantiellen Vertiefung» der Beziehungen des Landes zur NATO und der EU die Rede, nicht mehr jedoch von einem angestrebten Beitritt zu beiden Organisationen. Zufall, das mit den Geldkoffern?“ (4)

So begann fast unmittelbar nach der Veröffentlichung des Buches von Zbigniew Brzezinski, in dem er Amerikas Geostrategie gegenüber der Ukraine formulierte, das geopolitische Spiel um die Ukraine. Im Mittelpunkt stand vor allem die herrschende Elite der Ukraine, die in zwei Teile gespalten war: prorussisch und prowestlich. Die Präsidentschaftswahlen sollten der Lackmustest sein, der die Entscheidung der ukrainischen Gesellschaft bestimmen würde: Ost oder West, Russland oder Europa. Es begann der Kampf um die Köpfe der Wähler – nicht ohne aktives Eingreifen des Westens.

In der ersten Phase dieses Kampfes, so Krone-Schmalz, konnte die prowestliche Regierung unter Juschtschenko (2005-2010) keine großen Erfolge erzielen. Sie schreibt: „Innenpolitisch jedenfalls änderte sich in der Ukraine unter Juschtschenko, der sich dem Westen als entschlossener demokratischer Reformer präsentierte, nicht viel. Die Hoffnungen auf ein Ende der Korruption und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage wurden schnell enttäuscht. Im Gegenteil, am Ende seiner Amtszeit stand die Ukraine vor dem Staatsbankrott und der Unregierbarkeit. Dafür strebte das Land unter Juschtschenkos Führung aktiv in Richtung Westen und bemühte sich in bisher nicht gekannter Intensität um eine Mitgliedschaft in der EU und NATO – und das, obwohl es dafür in der ukrainischen Bevölkerung keine Mehrheit gab. Gerade 16 Prozent der Ukrainer wollten einer Umfrage zufolge Ende 2005 der NATO beitreten und nur ein Drittel der EU. Schon seit längerer Zeit floss allerdings aus westlichen Staaten viel Geld in die Ukraine, um an diesem Stimmungsbild etwas zu ändern.“ (5)

Krone-Schmalz benennt die Summe: Etwa zwei Milliarden US-Dollar hatte USAID (Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung) nach eigenen Angaben bis Anfang 2005 für Ukraineprogramme ausgegeben. Zumindest ein Teil davon diente dem Ziel, „in der Ukraine die gesellschaftliche Basis der EU-Befürworter zu erweitern“. Aber auch das war nicht genug: Es brauchte viel mehr Zeit und Geld, um die Stimmung der Menschen zu ändern. Krone-Schmalz schreibt: „Victoria Nuland, unter Obama die für Europa und Eurasien zuständige Staatssekretärin im US-Außenministerium, schätzte im Dezember 2013 in einer Rede in Kiew, die USA hätten seit 1991 insgesamt fünf Milliarden US-Dollar investiert, um die Ukraine dabei zu unterstützen, demokratische Verhaltensweisen und Institutionen zu entwickeln. Ein Teil der Summe war dazu bestimmt, der gespalteten Bevölkerung die Orientierung in Richtung Westen zu erleichtern oder, wie Victoria Nuland es ausdrückte: der Ukraine die europäische Zukunft zu ermöglichen, die sie „wollte“ und die sie „Verdiente“. (6)

Wie schwierig sich der Prozess der „Umerziehung“ der Ukrainer gestaltete, zeigt der als geheim eingestufte Bericht vom 15. Februar 2006 mit dem Titel „Die Ukraine auf dem Weg in die NATO: ein Statusreport“. In diesem Bericht, schreibt Krone-Schmalz, beklagte der US-Botschafter in Kiew die „ungewöhnliche Spaltung zwischen der Sichtweise der politischen Elite und der Meinungsmacher, die eine NATO-Mitgliedschaft enthusiastisch unterstützen, und der Bevölkerung, die das nicht tut“. Die Spaltung zwischen der herrschenden Elite und der Bevölkerung in Bezug auf die NATO-Mitgliedschaft zeigt sich auch in dem Versuch der Befürworter eines NATO-Beitritts, im Jahr 2005 ein Referendum abzuhalten. Gemäß der Verfassung waren eine Million Stimmen erforderlich. Doch der Versuch scheiterte, die Befürworter des NATO-Beitritts fanden in der Bevölkerung keine breite Unterstützung, und die ukrainische Regierung beschloss, das Referendum nicht abzuhalten. Krone-Schmalz schreibt: „Arsenij Jazenjuk, damals stellvertretender Leiter der Präsidialkanzlei, versicherte dem amerikanischen Botschafter, „der Präsident werde in nächster Zeit kein Referendum zulassen“. Grundsätzlich, so der Bericht, herrsche Einigkeit, ein Referendum über den NATO-Beitritt durchzuführen, aber erst nach sorgfältiger Vorbereitung und einer „effektiven öffentlichen Erziehungskampagne, um die Unterstützung in der Bevölkerung zu erhöhen“ (effective public education campaiggn to lift popular support). Würde das Referendum jetzt abgehalten, würde eine überwiegende Mehrheit sich gegen einen NATO-Beitritt aussprechen, und das gelte es zu verhindern. Im Februar 2007 schätzte die US-Botschaft in Kiew die Befürworter eines NATO-Beitritts nur noch auf 25 Prozent der Bevölkerung.“ (7)

In der Autonomen Republik Krim, so Krone-Schmalz, hatte Juschtschenkos Regierung noch weniger Chancen, die Befürwortung für einen NATO-Beitritt zu bekommen. Das zeigte unter anderem die im Sommer 2006 geplanten gemeinsamen Manöver von ukrainischen und NATO-Truppen mit dem Namen „See Breeze 2006“, die auf der Krim stattfinden sollte. Präsident Juschtschenko hatte diesem eindeutig gegen Russland gerichteten Manöver zugestimmt, aber ohne zuvor die Erlaubnis des Parlaments einzuholen. Als die amerikanischen Soldaten in der Krim Ende Mai angekommen sind, um die Unterkünfte für das Manöver instand zu setzen, begannen dort, nicht ohne Förderung von (prorussischen) Janukowitschs „Partei der Regionen“, die heftigen Demonstrationen. Am 6. Juni erklärte das Parlament der Krim die Region zu einer „NATO-freien Zone“, um die Demonstranten zu unterstützen. Am 11. Juni begann schließlich der Abzug der Soldaten. (8)

Doch die Logik der amerikanische Geostrategie mag keine Warnsignale zu dulden: Im April 2008 erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest eine offizielle Beitrittsperspektive. Die Reaktion Russlands, so Krone-Schmalz, war völlig erwartend. Noch vor dem Gipfel hat der russische Außenminister Lawrow festgestellt, Russland müsse die anhaltende Osterweiterung der NATO als eine „potenzielle militärische Bedrohung“ betrachten. Präsident Putin, der als Gast am Gipfel war, hatte gesagt, eine Aufnahme der Ukraine und Georgien in die NATO würde Russlands Interessen unmittelbar berühren. Moskau wäre gezwungen, darauf mit geeigneten Maßnahmen zu reagieren, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Für Amerika war die Reaktion Russlands nicht unerwartet. Krone-Schmalz schreibt: „In einem Bericht vom 1. Februar 2008 fasste der US-Botschafter die Bedenken zusammen, die in Moskau gegenüber der Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO herrschten. Die Erweiterungsabsichten träfen einen «freiliegenden Nerv», so der amerikanische Botschafter. Russland fürchte um die Stabilität der Region, nehme die Aktivitäten der NATO als «Einkreisung» wahr und als Versuche, russischen Einfluss zu unterminieren. Experten würden der Botschaft mitteilen, Russland sei «insbesondere besorgt, die starke Spaltung in der Ukraine über die Frage der NATO-Mitgliedschaft, gegen die ein großer Teil der dort lebenden ethnischen Russen opponierte, könne zu einer Zerreißprobe führen, mit Ausbrüchen von Gewalt oder schlimmstenfalls einem Bürgerkrieg. In diesem Fall müsste Russland sich entscheiden, ob es intervenieren solle; eine Entscheidung, vor die Russland nicht gestellt werden möchte»“. (9)

Es war also für jeden offensichtlich, dass Russland die Aufnahme der Ukraine in die NATO als Überschreitung einer „roten Linie“ betrachten würde. Krone-Schmalz muss noch einmal daran erinnern, dass die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim stationiert ist – ein Erbe aus Sowjetzeiten. 1997 pachtete Moskau den Militärstützpunkt in Sewastopol für 20 Jahre von der Ukraine. Der Pachtvertrag wäre also 2017 regulär ausgelaufen, wenn ihn Juschtschenkos Nachfolger Janukowitsch nicht 2010 im Gegenzug für niedrige Gaspreise verlängert hätte, und zwar bis 2042. Präsident Juschtschenko hatte dagegen deutlich gemacht, dass er eine Verlängerung ablehnte, nicht zuletzt, um der Ukraine den anstrebenden NATO-Beitritt zu erleichtern. Was hätte aber für Russland strategische Interessen wohl praktisch bedeutet, wenn Sewastopol von NATO-Gebiet umgeben gewesen oder der Pachtvertrag einseitig gekündigt worden wäre? Die Einflussmöglichkeiten der russischen Marine im Schwarzen Meer wären stark reduziert worden, die Fähigkeit, sich durch bestimmte Maßnahmen gegen einen NATO-Angriff zu verteidigen, wäre beeinträchtigt worden. Usw. „Alles hinnehmen, weil die NATO ja niemanden bedroht?“, fragt Krone-Schmalz und möchte nicht solcher Naivität der Planungsstäbe in Moskau schenken. (10)

Im Februar 2010 war Präsident Juschtschenko durch den aus Osten der Ukraine stammenden Viktor Janukowitsch abgelöst worden, der schon 2004 der Gegenkandidat gewesen war. Janukowitsch hatte im Wahlkampf damit geworben, die Beziehungen zu Moskau verbessern zu wollen. Schon im Mai 2010 nahm Janukowitsch die NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine offiziell zurück. Er betreibt allerdings keine einseitige Anbindung an Russland, sondern kehrte zur Schaukelpolitik Kutschmas zurück. Auf der verzweifelten Suche Geld – die Ukraine, einer der korrumpierten Staaten der Welt, war faktisch pleite – verhandelte er mit beiden Seiten, mit Russland und dem Westen. Damit fing die Vorgeschichte der Ukrainekrise an, die als Pleite der ukrainischen Schaukelpolitik bezeichnet werden kann. (11)

Krone-Schmalz legt eine Chronologie der Ereignisse dar. Im Dezember 2011 hätte in Kiew bei EU-Ukraine-Gipfel das EU-Assoziierungsabkommen unterzeichnet werden können. Dazu kam es jedoch nicht, weil die EU darauf bestand, die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko aus der Haft zu entlassen, zu der sie wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden war. Angeblich hatte sie zu hohe Gaspreise in den Verträgen mit Russland vereinbart und so die ukrainische Wirtschaft ruiniert. Die Unterzeichnung des Abkommens scheiterte 2011 also weder an der Haltung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch noch an politischem Druck aus Russland. (12)

Seit Oktober 2011 betrieb die Ukraine im Rahmen eines multilateralen Freihandelsabkommens zollfreien Handel mit Russland. Im Mai 2013 erhielt die Ukraine einen Beobachterstatus in der Eurasischen Zollunion. Laut einer Erhebung des Kiewer Rasumkow-Zentrums waren in der ukrainischen Bevölkerung die Sympathien zu diesem Zeitpunkt immer noch gespaltet: 42 Prozent sprachen sich für das EU-Assoziierungsabkommen aus, 33 Prozent zog es in die Eurasische Zollunion. Doch mit den Plänen, die Ukraine in die Eurasische Zollunion einzubinden, gewann auch gleichzeitig die Vorbereitung für das EU-Assoziierungsabkommen, dessen Unterzeichnung für November 2013 geplant war. Moskau begann, das EU-Assoziierungsabkommen zu kritisieren. Die Befürchtungen Russland waren schon lange bewusst, denn der damalige Kommissionspräsident Barroso hatte bereits im April 2011 festgestellt, eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Eurasischen Zollunion sei mit dem EU-Assoziierungsabkommen unvereinbar. Es wäre also sinnvoll zu gewesen, wenn sich Kiew, Brüssel und Moskau eng abgestimmt hätten. Stattdessen führte die EU die Verhandlungen weiter, ohne Russland in die Gespräche einzubeziehen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler stellte in einem Interview mit dem „Stern“ damals zutreffend fest: „Das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ohne Einbezug Russlands, zumindest ohne Rücksicht auf Russland, zu verhandeln war eine Dummheit.“ Krone-Schmalz schließt: „So wurde die Chance verpasst, der Ukraine die Entscheidung zwischen Ost und West zu ersparen und eine absehbare Konfrontation zu vermeiden.“ (13)

Die von Kutschma und Janukowitsch verfolgte Schaukelpolitik würde wahrscheinlich ganz vernünftig aussehen, wenn der Westen nicht die Logik Brzezinskis zur Grundlage seiner Politik gemacht hätte: Diese Logik akzeptiert keine Schaukelpolitik in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Regierungen in diesen Republiken, die versuchen, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, bekommen gleich die Probleme: Bei falscher Orientierung müssen sie mit Regime Change rechnen – am besten Fall durch farbige Revolution als Demokratieförderung. Die Ukraine, Georgien, Kirgistan, Moldawien, Weißrussland… Alle Staaten, die nach einer gewogenen Zusammenarbeit mit Europa und Russland streben, um dadurch die Profite zu kassieren, müssen irgendwann die guten Beziehungen mit Russland in der Frage stellen. Und das gilt nicht nur für die ehemaligen Sowjetrepubliken: Die Logik der Hegemonie der einzigen amerikanischen Supermacht schließt gute Beziehungen zum souveränen und „widerspenstigen“ Russland völlig aus. Die Belege dafür liefern in der letzten Zeit nicht nur baltische Staaten oder Polen, sondern auch Deutschland als Brückenkopf Amerikas in Europa: Alle Bemühungen, das Verhältnis mit Russland zu verbessern, geht es um „Wandel durch Annäherung“, „Wandel durch Handel“ oder anderen Initiativen, stoßen auf heftigen amerikanischen Widerstand.

Zum Ende 2013, so Krone-Schmalz Chronologie, brauchte Janukowitsch dringen Geld, um den Bankrott der Ukraine zu verhindern. Er wandte sich an Brüssel. Dort redete man über westliche Werte und Julia Timoschenko. Moskau dagegen bot ein Paket von umgerechnet 15 Milliarden US-Dollar. Der ukrainische Präsident sagte daraufhin am 28. November 2013 die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommen ab: Putin, so schien es, hatte das Ringen um die Ukraine für sich entschieden. Doch es kommt der Maidan – ein Platz in der Hauptstadt Kiew, der sich zum Machtzentrum entwickelte. Angesicht der immer bedrohlicher werdenden Proteste (nicht ohne aktiver Unterstützung des Westens, zur welcher Symbol die kleine Pastete von Victoria Nuland geworden waren) floh Präsident Janukowitsch am 22. Februar 2014 nach Russland. Das Parlament in Kiew erklärte ihn noch am selben Tag für abgesetzt, hielt dabei aber das vorgeschriebene Verfahren nicht ein und verfehlte auch knapp die dafür nötige Dreiviertelmehrheit. Formal handelte es sich also um einen Staatsstreich, also um einen Putsch. Es wurde eine Regierung installiert, deren Legitimität fraglich und die für die sehr unterschiedlichen Landsleute der Ukraine nicht repräsentativ war. In der mehrheitlich russischsprachigen Ost- Südukraine nahmen viele Menschen angstvoll wahr, wie nationalistische Bewegungen, die keinen Hehl aus ihrer Russenfeindlichkeit machten, in Kiew Oberwasser bekamen. (14)

In der neuen Kiew Regierung saßen Personen, die mit dem Vorhaben eines NATO-Beitritts eng verbunden waren, also eine Regierung aus NATO-Befürworten. Das stellte eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wieder offiziell im Raum, was der russischen Führung natürlich beim Umsturz in Kiew bewusst war. Das zu erwähnen ist für Krone-Schmalz wichtig, weil in der Berichterstattung über die Ukrainekrise meist so getan wurde, als ginge es ausschließlich um westlichen Werte und um die Alternative: EU-Assoziierungsabkommen oder Eurasische Wirtschaftsunion. Es wurde zahlreiche Artikel über die „Maidan“-Bewegung zu schreiben, ohne das Wort „NATO“ zu verwenden. Dann fällt es natürlich leichter zu behaupten, Putins Eingreifen in der Ukraine habe nichts mit Geopolitik zu tun, sondern diente nur dem Zweck, eine Demokratiebewegung zu unterdrücken, die im Erfolgsfalle nach Russland überschwappen könnte. (15)

Im Februar 2014 schien es so, dass nun der Westen das Ringen um die Ukraine für sich entschieden hat. Doch das geopolitische Schachspiel um die Ukraine 2014 ging nach anderem Szenarium, als vielleicht der Westen geplant hätte. Bei der Flucht Janukowitsch aus Kiew, aus der Befürchtung, dass er nach der Unterschreibung am 21. Februar einer Vereinbarung mit der politischen Opposition physisch beseitigt werden müsste, um den legitimen Weg zur Bildung der neuen Regierung freizugeben, rettete ihn der russische Geheimdienst. Der lebendige und legitime Präsident der Ukraine machte die Regime Change in Kiew zum Putsch und die neue Regierung unakzeptabel in vielen Gebieten der Ukraine, zuerst in der Krim und Ostukraine.

Am 27. Februar 2014, also am nächsten Tag nach der Bestätigung der neuen Regierung in Kiew, beschloss das Regionalparlament der Autonomen Republik Krim das Unabhängigkeitsreferendum. Es wurde deklariert, dass nach dem Referendum in der Krim als ein unabhängiger und souveräner Staat Russland beitreten soll. Am 11. März 2014 erklärte das Parlament der Republik deren Unabhängigkeit von der Ukraine. Mit der Ratifizierung des Beitrittsvertrags durch den russischen Föderationsrat am 21. März 2014 war die Eingliederung der Republik Krim vollzogen.

Die oft diskutierte Frage, ob solche Eingliederung eine völkerrechtswidrige Annexion oder doch eine nach Kosovos Unabhängigkeitserklärung 2008 geltende Praxis ist, führt nur zur einzigen Vermutung, wo vielleicht die Abspaltung Krim völkerrechtswidrig sein könnte: der Präsenz russischer Soldaten außerhalb ihrer Stützpunkte während des Referendums. Doch Krone-Schmalz unterstreicht: Eine große Mehrheit der dortigen Bevölkerung wollte dies tatsächlich und die Präsenz der russischen Soldaten, zumindest aus der Sicht Moskau, diente nur zum Schutz vor ukrainischen Nationalisten und einem Eingreifen ukrainischer Streitkräfte. (16)

Das ist der prinzipielle Unterschied zwischen Krim und Kosovo: Eine absolut friedliche Unabhängigkeitserklärung Krim 2014 unter der Begleitung dort stationierten russischen Soldaten steht gegen die Unabhängigkeitserklärung Kosovo 2008 nach blutigem Bürgerkrieg und unter der Begleitung NATO. Außerdem: Wie bei Kosovo verletze die einseitige Unabhängigkeitserklärung der Autonomen Republik Krim nicht die territoriale Integrität der Ukraine, weil territoriale Unversehrtheit als Völkerrechtsprinzip, gemäß der Entscheidung des Gerichtshofs (IGH), nur für das Verhältnis zwischen Staaten, nicht jedoch für Akteure innerhalb eines Staates gelte. Auch das Recht des unabhängigen Staates, sich durch Referendum an einen anderen Staat anzuschließen, ist völkerrechtlich, wie es zum Beispiel der Anschluss des Saarlands an das Deutsche Reich 1935 und die deutsche Wiedervereinigung 1989/90 zeigen sollen. Beziehungsweise verletzt die Anerkennung der Krim seitens der Russischen Föderation nicht die geltende internationale Praxis, obwohl weder die ukrainische Regierung noch viele andere Länder offiziell die Abspaltung der Krim nicht akzeptieren. Es sei auch daran erinnert, dass der Kosovo und die Türkische Republik Nordzypern von der internationalen Gemeinschaft ebenfalls nicht vollständig anerkannt werden.

Die Versuche, Russland allein für den Konflikt in der Ostukraine zu beschuldigen, lehnt Krone-Schmalz kategorisch ab. Sie schreibt: „2014 hat Moskau seinen Teil dazu beigetragen, dass sich die Proteste in der Ostukraine radikalisierten und dass aus Demonstrationen bewaffnete Aufstände wurden, nachdem das Kiewer Parlament am 22. Februar den Sturz des gewählten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch beschlossen hatte, was von der Verfassung so nicht gedeckt war. Russland hat den «Volksrepubliken» in Donezk und Lugansk schwere Waffen geliefert, und es spricht viel dafür, dass Zustrom russischer Freiwilliger dorthin nicht nur geduldet, sondern auch aktiv befördert worden ist. … Es ist sicher nicht so, wie die neue ukrainische Regierung behauptet, dass es im östlichen Teil des Landes ohne die Einmischung Moskau keinerlei Unruhen gegeben hätte. Wahrscheinlich hätten sich die Menschen dort auch von allein radikalisiert. Doch es bleibt die Tatsache, dass auch russische Politik viel menschliches Leid verursacht hat.“ (17)

Es gibt auch keine Beweise dafür, dass Russland damals mit eigenen Truppen auf ukrainischem Gebiet eingreifen hat. Es wäre vielleicht einen großen Wunsch der neuen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, dass russische reguläre Truppen in Donbass marschieren, nachdem er – wie Saakaschwili beim Angriff auf Südossetien 2008 – einen regulären Krieg gegen Aufständischen mit Tanken, Artillerie und Luftwaffe erklärt hatte. Dann könnte gegen Russland als Aggressor die gesamte internationale Gemeinschaft mobilisiert werden. Doch Russland erklärt den Konflikt als innere Angelegenheit der Ukraine – freilich mit einer politischen, humanitären und technischen Unterstützung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk, aber ohne direkte militärische Einmischung. Das ist seit jeher die internationale Praxis, die nicht allein zur Schuld Russlands gestellt werden kann. Außerdem: Im Unterschied zum Krim hatten diese Gebiete keinen autonomen Status. Auch die Bevölkerung strebte hier in der Masse nicht unbedingt zum Anschluss mit Russland an: Sie kämpften mehr für die Unabhängigkeit von russenfeindlichem Kiew als für die Eingliederung in die Russische Föderation.

Am 26. August 2014, bemerkt Krone-Schmalz, nach Ausbruch der Kämpfe in der Ostukraine und nach der Abspaltung der Krim, hatte endlich Gespräche zwischen der EU, der Ukraine und der Eurasischen Zollunion über die wirtschaftlichen Folgen des EU-Assoziierungsabkommens begonnen. Ungeachtet dessen wurde es am 16. September 2014 vom ukrainischen sowie vom EU-Parlament ratifiziert. Und es trat am 1. Januar 2016 vollständig in Kraft, nachdem die EU im Vormonat die Verhandlungen mit Russland für gescheitert erklärt hatte. Daraufhin kündigte Russland, ebenfalls zum 1. Januar 2016, sein Freihandelsabkommen mit der Ukraine. Das Ergebnis solcher Politik zeigt Krone-Schmalz mit Hilfe der Wirtschaftsleistung pro Kopf. Dieser Wert hat in den letzten Jahren in der Ukraine stark reduziert und 2016 nach einer Schätzung des IWF vom April 2017 nur noch bei 2194 US-Dollar pro Kopf und Jahr lag. Zum Vergleich: Beim Nachbarn Weißrussland liegt dieser Wert mehr als doppelt so hoch bei 5143 US-Dollar. Russland kommt mit 8929 US-Dollar gar auf das Vierfache. In den Hintergrund gerät also die Frage, ob den Menschen in der Ukraine die Hinwendung zur EU und die Abkehr von Russland überhaupt nutzt, oder doch gewinnt am Ende vielleicht nur der Westen einen Markt hinzu? (18)

Mit Assoziierungsabkommen hat die EU selbst in eine geostrategische Pattsituation verführt: Sie hat übersehen, dass die europäischen Werte und geostrategische Interessen allein nicht zum Wohl der Menschen und wirtschaftlichen Prosperität führen können. Dies bringt uns zurück zu Huntingtons wichtigster These: Verwestlichung bedeutet nicht unbedingt Modernisierung und Wirtschaftswachstum. Der Konflikt in Ostukraine wird also zum Konflikt zwischen prowestlichen Regierung und in der Armut bedrängte Bevölkerung, die vom Krieg am Donbass schon lange müde war und den letzten Präsident Wolodymyr Selenskyj deshalb gewählt hatte, weil er versprochen hat, „Diener des Volkes“ zu werden und, im Gegensatz zum Kriegspräsident Poroschenko, der Konflikt in der Ostukraine friedlich zu beenden.

Jetzt nicht Russland, sondern den Westen als politischen Kurator der ukrainischen Regierung soll die Huntingtons These widerlegen, und zwar dass es ein großer Fehler gewesen ist, die EU und NATO außerhalb der westlich-christlichen Staaten Mittel- und Osteuropas zu erweitern. Grob zu sagen, der Westen hat sich selbst in der sehr schwierigen geopolitischen Situation hingelenkt, die ihm heute viel Nerven, Geld und Prestige kostet. Nicht nur im Donbass, sondern auch in den Gebieten Cherson, Saporischschja und anderen ukrainischen Regionen stehen Bürger der Ukraine vor der Entscheidung, wohin sie gehen sollen: nach Westen oder nach Osten? Ihre Wahl der prowestlichen Kiews Regierung ist nicht sicher.

Jahrhundertealte Traditionen und kulturelle Wurzeln sind viel stärker als alle Versuche, die Menschen in relativ kurzer Zeit umzuerziehen, indem man ihnen neue Werte eintrichtert. Dem deutschen Volk, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Einfluss zweier Umerziehungsprogramme stand – dem amerikanischen Re-Education in der BRD und dem kommunistischen Programm zur Erziehung des neuen Menschen in der DDR -, dürfte dies besonders vertraut sein. Auch heute, mehr als dreißig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, hat das Land den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen in Bezug auf Mentalität und kulturelle Identität noch nicht überwunden. Das zeigen nicht nur die Meinungsumfragen, sondern auch die konkreten Ergebnisse der Wahlen zu verschiedenen Institutionen der deutschen Demokratie. Eine große Frage ist auch, wer (Ossi oder Wessi?) den wahren Geist der sich rasch abzeichnenden Veränderungen trägt.

1. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 79.

2. Ebenda, S. 79-80.

3. Ebenda, S. 80.

4. Ebenda, S. 80-81.

5. Ebenda, S. 81.

6. Ebenda, S. 81-82.

7. Ebenda, S. 83-85.

8. Ebenda, S. 85-86.

9. Ebenda, S. 87-89.

10. Ebenda, S. 89-91.

11. Ebenda, S. 91-92.

12. Ebenda, S. 92-93.

13. Ebenda, S. 93-95.

14. Ebenda, S. 96-97.

15. Ebenda, S. 87, 100.

16. Ebenda, S. 78.

17. Ebenda, S. 77.

18. Ebenda, S. 103.