Eine liberale Revolution in Russland ist gescheitert

Im Buch „Kalte Freund“ (2011) lässt Alexander Rahr über die Frage diskutieren, wer 2012 Russlands neuer Präsident wird: „Sozialzar“ Putin oder „Liberal“ Medwedew? Die Präsidentschaftswahl ging der amerikanischen Politik „Russian reset“ voraus. Die Hauptrolle von russischer Seite sollte in der neuen Obama-Politik Dmitri Medwedew spielen, der im März 2008 zum Präsident Russlands gewählt wurde. Sein amerikanischer Amtskollege, Barack Obama, der zum US-Präsident im November 2008 gewählt wurde, kam ihm entgegen und beendete den von Bush entfachten Dreifrontenkrieg im Mittleren Osten und im direkten Süden Russlands. Obama löste die Frontstellung gegenüber Russland im postsowjetischen Raum auf, zog die Raketenabwehr aus Mittelosteuropa zurück und stoppte die NATO-Osterweiterungspläne für die Länder des postsowjetischen Raums. Als Gegenleistung forderte Obama Russland auf, ihn im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu unterstützen und an der Seite des Westens auf den Iran einzuwirken. (1)

Das prestigesüchtige Moskau war froh, von den USA wieder auf Augenhöhe betrachtet zu werden. Russland erhöhte den eigenen Druck auf den Iran in der Frage des Atomwaffenprogramms und schloss sich westlichen Sanktionen gegen Teheran an. Russland erweiterte den Transitkorridor für die Versorgung der NATO-Truppen in Afghanistan über das eigene Territorium. Russland unterstützte die internationale Klimapolitik und kooperierte bei der Rettung des Weltfinanzsystems in der Krise. Washington und Moskau entwickelten, wenn auch äußerst vage, die Vision einer atomwaffenfreien Welt. (2)

Medwedew reiste mehr ins Ausland als alle russischen Staatschefs vor ihm. Neben seiner obligatorischen Teilnahme an internationalen Gipfeltreffen repräsentierte er sein Land in den exotischen Ecken der Erde, eröffnete russische Kulturtage, inspizierte das Silicon Valley. Er reiste viel nach China und Deutschland, nach Lateinamerika, Afrika und in die arabischen Länder. Mit Obama unterzeichnete er in Prag feierlich den Start III-Vertrag für die weitere Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen. (3)

Zur großen Überraschung vieler Beobachter entwickelte Putins Zögling Medwedew als Präsident ein eigenes Programm, das sich von den Ideen Putins unterschied. Medwedew besaß, anders als die Geheimdienstler um Putin herum, eine liberale Gesinnung. Anfang 2007, ein Jahr bevor er Präsident wurde, sprach er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos von der Notwendigkeit einer Integration Russlands in die Weltwirtschaft und erteilte der Politik des Protektionismus in seinem Land eine Absage. Putin musste klar sein, dass Medwedew als Präsident der russischen Politik einen liberalen Anstrich geben würde. Russland musste sich, ob es wollte oder nicht, wirtschaftlich modernisieren, und benötigte dazu den technisch höher entwickelten Westen. Ähnlichen Überlegungen folgten übrigens 25 Jahre vor Michail Gorbatschow – ein Sympathieträger des Westens. Medwedew würde eine ähnliche Rolle spielen. (4)

Medwedew sympathisierte auf seine Art mit den liberalen Oppositionsparteien. Während Putin die Liberalen mit Vorliebe als Schmarotzer und Diebe titulierte und ihnen jegliches Recht auf Proteste absprach, setzte Medwedew durch, dass sie – auch wenn nicht im Parlament vertreten – ein jährliches Rederecht vor der Abgeordnetenversammlung erhielten. Medwedew kritisierte öffentlich das von Putin geschaffene System der gelenkten Demokratie. Putins Liebäugeln mit dem chinesischen Modell erteilte er eine Absage. Er stellte eine Liste von 600 jüngeren Frauen und Männern zusammen, mit denen er die alten Kader ersetzen wollte. Der umfangreichste Personalwechsel gelang ihm im Justizministerium. Damit konnte er wenigstens die Dritte Gewalt im Staat reformieren. Als Nächstes war das Innenministerium auf seiner Liste. Dort wechselte Medwedew mehr als die Hälfte der Führung aus. Die in Verruf geratene Miliz wurde in die Polizei umbenannt, die Strafen für Bestechung wurden drastisch erhöht. Schließlich wollte er sich der Spitze des Eisbergs der Korruption annehmen und die Ställe der als unantastbar geltenden Staatskonzerne säubern. Einige Medwedew-Vertraute, frustriert über den ausgebliebenen eigenen Machtaufstieg, versuchten ihrem Chef den Rücken zu stärken. Igor Jürgens konstruierte an seinem Institut für Moderne Entwicklung für den Präsidenten ein liberales Regierungsprogramm nach dem anderen, in dem er die sofortige Übernahme europäischer Normen für die Wirtschaft empfahl. Das Kernstück der Modernisierung sollte eine Reform der Sicherheitsstrukturen und in der Außenpolitik ein Beitritt zur NATO werden. (5)

Doch Medwedew waren die Hände gebunden. Er verfügte in Wirklichkeit kaum über effektive Machtsteuerungsinstrumente. Putin kontrollierte die Medien, das Personal und zu allem Überfluss auch noch die Staatsfinanzen. Er langte mit beiden Händen in den mit Petrodollar prall gefüllten Reservefonds, verteilte Staatsgelder nach eigenem Gutdünken, rettete ohne Absprache mit Medwedew die gestrandeten Staatskonzerne und regierungsnahen Oligarchen aus der Finanzkrise. Mit jedem dieser Schritte wuchs die Staatskontrolle über die Wirtschaft. Putin gefiel sich in der Rolle des Sozialzaren. Mit einem Federstrich erhöhte er zum Beispiel die Renten um 30 %, mit dem anderen finanzierte er den Wiederaufbau von in der Brandkatastrophe zerstörten Wohnsiedlungen. Usw. (6)

Nach Jahresbeginn 2011 musste die Entscheidung kommen, wer 2012 zum Präsident kandidiert würde. Die schicksalhafte Entwicklung nahm seinen Lauf. Zunächst kam US-Vizepräsident Biden nach Moskau. Er überschüttete Medwedew mit Komplimenten und riet Putin in einem Vieraugengespräch von einer Präsidentschaft ab. Danach folgte die Libyen-Krise. Medwedew wies das Außenministerium an, bei der UN-Resolution für den Militäreinsatz gegen Gaddafi im UN-Sicherheitsrat nicht dagegen zu stimmen. Damit unterstützte Russland, obwohl es sich der Stimme enthielt, den NATO-Krieg gegen den libyschen Diktator. Ein sichtlich aufgebrachter Putin nannte Russlands Haltung im UN-Sicherheitsrat einen Fehler und bezeichnete NATO-Bombardement als Kreuzzug. Einer der Chefideologen der russischen Nationalisten, Alexander Dugin, appellierte an Putin, Medwedew zu entmachten, weil dieser die nationalen Interessen des Landes an den Westen verraten hat. Putin steht für Russlands Wiederauferstehung. Medwedew für die Rolle eines westlichen Hilfssheriffs. Umso mehr ärgerten sich die Russen über die WikiLeaks-Veröffentlichung geheimer NATO-Protokolle, denen zufolge die NATO-Länder eine Kriegsplanung entwickelten, wie sie den baltischen Staaten im Falle eines russischen Angriffs Sonderschutz garantieren könnten. (7)

Die Frage, ob der Westen Russland wirklich als Freund betrachten möchte oder doch bleibt es ein potenzieller Feind, bekam vor der Präsidentschaftswahl 2012 eine geostrategische Größe. Verkündetes Ziel des Programms „Russian reset“ war nur eine geostrategische Taktik, um westorientierende Regierung in Moskau zu unterstützen. Russland stand vor der Wahl: Weiter mit Medwedews Modernisierungsprojekt und Integration Russland in die Weltwirtschaft nach westlichem Muster oder doch mit Putins staatskapitalistischen Wirtschaftsmodell nach chinesischem Muster? Was wählen Russen: Eine Verwestlichung ohne Modernisierung oder doch die Modernisierung ohne Verwestlichung? Also Medwedew oder Putin? Einmal hat Russland etwas Ähnliches schon überlebt: in den 1990er Jahren nach Gorbatschow-Perestroika. Die schrecklichen Folgen solcher Modernisierung haben sich im kollektiven Gedächtnis des russischen Volkes vor der Präsidentschaftswahl 2012 noch nicht verflüchtigt. Medwedew als Gorbatschow II wäre es vielleicht zu viel. Im Ergebnis wurde Putin zum neuen Präsident gewählt: Statt eines vertragsfähigen Sympathieträgers Dmitri Medwedew bekam der Westen wieder einen „Kalter Freund“ Putin. So eine Enttäuschung für die Architekten des Programms „Russian reset“!

Im letzten Kapitel seines Buches beschreibt Rahr das Szenario einer möglichen liberalen Revolution in Russland und gibt ihr den symbolischen Namen „Oktoberrevolution 2017“. Die Zeit vor der Revolution ist für Rahr eine Zeit der Unruhen, des Aufruhrs und der lokalen Kriege. Die USA sind geschwächt, aber die NATO spielt mit allerersten Kräften die Rolle der Weltpolizei. Eine zweite Finanzkrise hat die Weltwirtschaft in eine tiefe Rezession gestürzt. Der internationale Ölpreis ist unter der Marke von 50 US-Dollar – eine Katastrophe für die Energieexportnation Russland. Das Land steckte in einer selbstverschuldeten Wirtschaftskrise, die geplante Modernisierung verzögerte sich. Der frühere Masterplan des Kreml, den Westen von russischen Energieexporten abhängig zu machen, ist gescheitert: Der Westen hat seine Energiebeziehungen zu Russland diversifiziert. Die Einnahmen aus dem Energieexport waren extrem niedrig und verschwanden in undurchsichtigen Kanälen. Die Bevölkerung ist durch steigende Lebensmittelpreise, Inflation und Arbeitslosigkeit aufgebracht. Rente, Löhne und Gehälter werden verspätet oder überhaupt nicht ausgesetzt.

Russland kehrt also wieder zu den politischen Unruhen und alten Machtkämpfen zwischen Demokraten, Kommunisten und Nationalisten zurück, wie es nach Gorbatschow-Perestroika war. Hunderttausende demonstrieren von Kaliningrad bis Wladiwostok für den Rücktritt des Präsidenten. Eine immer bedrohliche Menschenmenge versucht, auf den Roten Platz vorzudringen und den Kreml zu stürmen. Die Sicherheitsdienste, einst Prunkstück seiner Macht, schlagen die wütenden Proteste mit äußerster Brutalität nieder. Die einst handzahmen Oligarchen setzen sich mit ihren Milliarden ins Ausland ab und finanzieren von dort die Oppositionsparteien. Der Westen solidarisiert sich mit der aufständischen Bevölkerung. In den USA und in der EU ertönt der Ruf: Weg mit dem Diktator! Der russische Präsident hat sein Amt korrumpiert, Reformen verschleppt, Freiheiten eingeschränkt und an seinem Stuhl klebt.

Auch für die russische Regierung ist absolut klar: Russland steht vor einem Bürgerkrieg und einem Staatszerfall. Die Lage ist explosiv, von außen wächst der Druck seitens des Westens, der mit Sanktionen droht, hinter den Unruhen versteckten sich Aktivitäten ausländischer Geheimdienste. Aber, Gott sei Dank, besitzt Russland Atomwaffen, sonst würde die NATO eine ähnliche Strafaktion gegen Russland durchführen wie gegen Milosevic, Hussein und Gaddafi. In einer solchen Situation entscheidet der Präsident – nach der Sitzung des Sicherheitsrates – von all seinen Ämtern zurückzutreten, er verlässt Moskau Richtung Sotschi. Die Macht in Russland liegt nun in den Händen einer Übergangsregierung, die die Wirtschaft reformieren und das Land vor dem Zerfall retten soll. Es war wie eine Neuauflage der Februarrevolution 1917. Im Oktober 2017 sollen Neuwahlen abgehalten werden. (8)

Nach dem Rücktritt des Präsidenten, so Rahr weiter, ist im Land eine große Erleichterung zu spüren. Die Situation scheint sich wieder zu beruhigen. Seine erste Reise fährt neuer Außenminister nach Washington, wo er den IWF und die Weltbank um Kredite für die angeschlagene Wirtschaft bittet. Dann fährt er nach Brüssel und äußerte dort den Wunsch, unter den Euro-Rettungsschirm zu schlüpfen. Letztendlich fährt der Chefdiplomat nach China: Peking ist mit der Kreditvergabe großzügiger als der Westen. Inzwischen emigrieren jedoch immer mehr Russen nach Westen. Die neugewählte Duma hat im April 2017 den berühmten Oligarchen aus dem sibirischen Arbeitslager befreit. (9)

Gemeint war sicherlich Kremlkritiker und Kremlgegner Michail Chodorkowski, der 2003 wegen Steuerhinterziehung festgenommen wurde. Im Grunde der Verhaftung, so war auch die Meinung, lag politischer Engagement des Oligarchen: Er sei in Konflikt mit der Regierung unter Präsident Wladimir Putin geraten. Doch anders als in Rahrs Szenario wird Chodorkowski nicht von der Duma, sondern von Präsident Putin selbst im Jahr 2013 per Begnadigungsdekret freigelassen. Chodorkowski zieht sogleich nach Westen um und ruft ins Leben schon 2001 gegründete Stiftung „Offenes Russland“. Er will für Rechtsstaatlichkeit kämpfen und für durch faire Wahlen legitimierte Machtwechsel in Russland. Bei der Vorstellung seiner Stiftung in Berlin im Dezember 2014 sagte Chodorkowski: „Es geht nicht darum, Wladimir Putin zu ersetzen, sondern das System, welches zu meinem tiefen Bedauern in meiner Heimat entstanden ist“. Chodorkowski selbst will jedoch nicht als Präsident kandidieren und keine Partei gründen. „Ich will europäische Werte nach Russland vermitteln“, sagte er. (10)

Im Rahrs Szenarium der „Oktoberrevolution 2017“ wartet aber ihn das andere Schicksal. Als Oligarch in der Hauptstadt ankam, vergleichen Medien ihn mit Lenin, der von der deutschen Wehrmacht 1917 in einem plombierten Waggon über Finnland nach Russland eingeschmuggelt wurde, um eine Revolution anzuzetteln. Ähnlich wie Lenin verkündete Oligarch seine „Aprilthesen“, die dem Russland ein Weg zur Demokratie zeigen sollte. Russland, so die Aprilthesen, muss eine Parlamentsrepublik werden, wie alle anderen europäischen Demokratien. Russland muss weg vom Präsidialsystem, denn dieses wird Russland in die totalitäre Vergangenheit einer Ein-Mann-Herrschaft zurück. Das Symbol der Diktatur – das Lenin-Mausoleum – muss nach dem Fall des Kommunismus endlich vom Roten Platz verschwinden. Der Kommunismus, der das Land fast 75 Jahre in der Sklaverei hielt, muss in derselben Art und Weise international geächtet werden wie der deutsche Nationalsozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Die noch lebenden Mörder und Henker des stalinistischen Regimes müssen aufgespürt und vor Gericht gestellt werden. Nur dann kann Russland sein Gewissen reinwaschen.

In der Außenpolitik benötigt Russland eine neue Entspannungspolitik mit der internationalen Gemeinschaft. Russland sollte durch eine totale militärische Abrüstung mit gutem Beispiel vorangehen. Russland gehört zur NATO und der EU, muss sich aber den Beitritt in dieser Organisation verdienen. Russland sollte bei territorialen Fragen großzügig sein, dann kann es auch Nachsicht vonseiten seiner Partner erwarten. Die Kurilen-Inseln müssen an Japan zurück. Ein Teil des russischen Nordpols könnte an die USA verkauft werden, wie damals Alaska, zu einem entsprechenden Preis. Der Hafen von Wladiwostok kann an China verpachtet werden. Russland muss das Ende seiner imperialen Ambition im postsowjetischen Raum proklamieren und alle seine Militärbasen in diesen Ländern schließen. Die Duma wird prüfen, inwieweit das Festhalten am Nordkaukasus noch den Interessen Russlands entspricht. Auf jeden Fall muss den Völkern dort größtmögliche Autonomie gewährt werden. Wenn das alles getan wird, wird Russland ein moderner, vom Westen akzeptierter Staat. (11)

Der Oligarch hat die alte russische Idee vom „Dritten Rom“ verschmäht und stattdessen die Idee des „Dritten Westens“ vorgeschlagen. Das Ideal, das er auf seiner Fahne schrieb, klang revolutionär. Während des Kommunismus kannten die Russen den Westen nur vom Hörensagen, jetzt hatten Millionen die Chance, Europa aus der Nähe zu betrachten. Die Aprilthesen haben den Oligarchen zum Aushängeschild der Demokraten gemacht. Den russischen Demokraten fehlte bislang ein intellektueller politischer Kopf, der sie an die Macht bringen könnte. Nun wird der Oligarch von Märtyrer zum russischen Mandela. Die meisten Russen verstehen, dass ein Leben im Rechtsstaat, im Pluralismus, in gegenseitiger Toleranz und mit sozialem Schutz besser ist als im autoritären System. Sie akzeptieren, dass die Zukunft des Landes in der Öffnung und nicht in der Abwendung von Europa liegt. (12)

Seit April 2017 verschlechtern sich aber die wirtschaftliche Situation. Die provisorische Regierung ist hilflos und hat den politischen Kompass verloren. Das Volk ist müde und verlangt eine Ordnungspolitik der eisernen Hand. Die Mehrheit der Bevölkerung fürchtet nichts mehr als Anarchie und soziale Verarmung wie nach dem Verfall der Sowjetunion. Der Oligarch wird in Russland niemals Präsident werden. In schweren Zeiten wollen die Russen keine radikalen Reformen, sondern soziale Stabilität und staatliche Ordnung. Sie erinnern sich, wie gut sie im Imperium aufgehoben waren und wollen diese alten Zeiten zurück. Die Privatisierung soll aufgehoben werden, Oligarchen enteignet werden. Die Menschen fordern einen Staatssozialismus. Zwischen Anhängern der Reformen und der Nationalisten kommt es zu militanten Ausschreitungen. Die Losung „Russland den Russen“ hört man inzwischen an jeder Ecke. (13)

In Russland haben sich die Nationalisten mit der Armee verbunden. Die Nationalisten fordern von der Regierung eine Verstaatlichung der Wirtschaft, zusätzliche Militärausgaben und ein härteres Vorgehen gegen die Kriminalität. In der Außenpolitik sollen die nationalen Interessen gegenüber dem Westen stärker verteidigt werden. Die Regierung folgte diesem populistischen Ansinnen und stellte die Zusammenarbeit mit der WTO, der EU und der NATO ein. Neuer Außenminister ist ein bekannter Nationalist, er orientiert die Diplomatie auf das „Sammeln russischer Erde“ – die Reintegration des post-sowjetischen Raums. Die Idee von einem „slawischen Bund“ findet aber auch in rechtsgerichteten Kreisen in der Ukraine und Belarus Zustimmung. (14)

Im Juli 2017 versuchte eine verzweifelte Menschenmenge, einige Bürgermeisterämter in der Provinz zu besetzen. Sie forderte den Rücktritt der Übergangsregierung und die Machtübertragung an das Parlament. Als sie ein Waffendepot stürmte und Kalaschnikows erbeute, wurde die Situation brenzlig. Der Kreml entsandte Spezialtruppen des Innenministeriums unter dem Kommando eines kosakischen Generals zur Niederschlagung der Aufständischen. Nachdem die Ordnung wiederhergestellt wurde, beauftragte die Regierung den General, seine zuverlässigen Kampfverbände in der Nähe des Kreml zu positionieren. Dieser folgte dem Befehl, doch dann forderte er plötzlich vom Regierungschef diktatorische Vollmachten, um gegen das Parlament vorzugehen. Er wolle nicht nur Russland von den prowestlichen Reformen befreien, sondern auch die Kommunisten für die Zerstörung des zaristischen Russlands vor Gericht stellen. (15)

Drei Wochen lang standen sich schwerbewaffnete Spezialverbände und regierungstreue Truppen gegenüber. Dann wurde der General verhaftet, die reguläre Armee griff nicht ein. Der General ist mit seinem Putsch gescheitert – wie Kornilow 1917. Doch der Putsch zeigte, dass der Rücktritt des Präsidenten keineswegs zu einer Demokratisierung des politischen Systems geführt hat. Es kam auch nicht zu der ersehnten Herausbildung einer Zivilgesellschaft. Wirtschaftliche Verbesserungen bleiben aus. (16)

Im September 2017 gerät die Übergangsregierung immer mehr zwischen die Fronten und zeigt sich immer häufiger handlungsunfähig. Die Radikalisierung der Gesellschaft nimmt beängstigende Ausmaße an. Alle verlangen den Sturz der Übergangsregierung. Die Islamisten fordern wieder ihr Kalifat im Nordkaukasus. Die Selbstmordanschläge rissen zahlreiche Menschen in den Tod. Im Jahr 1917 hat der Islam in der Oktoberrevolution keine Rolle gespielt, im Jahr 2017 wird er zum entscheidenden Faktor. Nicht nur in Russland, sondern an allen Ecken der Welt brennt es. Die Ölvorräte des Persischen Golfs drohen der westlichen Kontrolle zu entgleiten, die Revolutionen in den arabischen Ländern haben bedauerlicherweise nicht zum weltweiten Siegeszug der Demokratie geführt. Das islamische Terrornetzwerk El Kaida gewann als Folge der Massenunruhen größeren Einfluss in den arabischen Ländern als zuvor. (17)

Am 23. Oktober 2017 fanden unter widrigen Umständen die Parlamentswahlen statt. In seiner letzten Sitzung hatte das alte Parlament eine Verfassungsänderung beschlossen, nach der Russland von einer präsidialen in eine parlamentarische Republik umgewandelt werden sollte. Im Nordkaukasus haben sich drei Teilrepubliken von Moskau abgespalten. Im Moskau kam es daraufhin zu blutigen Straßenschlachten zwischen Anhängern der Eurasier und der zahlreich vertretenen kaukasischen Diaspora. Brüssel hat angemeldet, eigenmächtig zu handeln, um eine humanitäre Katastrophe in Kaliningrad zu verhindern. China beschwert sich über gewaltsame Übergriffe russischer Skinheads auf chinesische Gastarbeiter. Russland verzeichnet einen generellen Produktionsstopp, bedingt durch Streiks, technische Defekte, fehlende Aufträge und das Ausbleiben von Krediten. (18)

Das Ergebnis der Parlamentswahlen ist eine Überraschung. Die Eurasier erhielten nur 25 % der Stimmen. Ihr Versprechen, das Land groß und stark zu machen, erzeugte angesichts der Situation an Russlands Grenzen nur Hohngelächter. Die beiden stärksten Parteien, liberale Reformer und Kommunisten, bilden im neuen Parlament eine Koalition. Ihre erste Amtshandlung zielte auf die Absetzung der Übergangsregierung, doch diese widersetzte sich und verbarrikadierte sich im Kreml. Daraufhin bildete die Duma eine neue Regierung und siedelte diese in das legendäre symbolträchtige Weise Haus um. Plötzlich legte das Kriegsschiff Astoria am Flussrufer gegenüber dem Weisen Haus an und feuerte mit schweren Geschützen gegen das Regierungsgebäude. Im selben Moment drang eine Panzerkolonne nach Moskau ein und umzingelte das Weiße Haus. (19)

Die Rettung für die Demokraten kommt aus der jungen Bevölkerung. Im Oktober 2017 strömten Hunderttausende von Jugendlichen zum Weißen Haus in Moskau. Wie beim Augustputsch 1991 bildeten sie einen menschlichen Schutzwall um den Regierungssitz und drängen die Panzer zurück, die die militärischen Putschisten in die Hauptstadt geschickt hatten, um die neue gewählte Reformregierung zu stürzen. Ein Student rief mit heiser Stimme in die Menge: „Im Westen haben vor 50 Jahren die Studenten die Welt verändert. Jetzt bekommt endlich Russland seine 68er-Revolution!“ Die antiwestlichen Losungen der schwarzgekleideten Sympathisanten der Putschisten werden durch Plakate verdrängt, auf denen stand: „Tod dem totalitären Regime!“ In anderen Landesteilen schwenken Studenten die Trikolore als Zeichen für die Solidarität mit der Reformregierung. Überall nehmen sich die marschierenden jungen Menschen in den Händen und skandieren „Wir sind Europa“. (20)

Am 28. Oktober 2017 erlebt Russland den dramatischsten Moment in seiner jüngeren Geschichte. In den nächsten Stunden wird es sich entscheiden, ob das Land zurück in die Diktatur fällt oder seine neue Chance zur Demokratie nutzt. Noch vor weniger Tagen sah es so aus, als ob die Russen nur dem Ruf nach einer harten Hand folgten. Heute ist das Gegenteil gewesen. Wir sehen jetzt eine schwarze Limousine vorfahren. Ein alter Mann steigt aus dem gepanzerten Wagen und bahnt sich, gestützt auf zwei Helfer, einen Weg durch die Reihen der Demonstranten zum Weißen Haus. Nun thront er oben auf einem verlassenen Panzer, blickt gebeugt, aber mit funkelnden Augen in die Menge. Hunderttausende von Menschen rufen plötzlich „Gor-ba_tschow“. Der große Held der russischen Demokratie, jahrelang in der eigenen Heimat verschmäht, muss hier gar nicht sprechen. Die Menschen verstehen, warum er zu ihnen gekommen ist. „Rossija – Rossija“, skandiert jetzt die Menge, andere rufen: „Freiheit – Freiheit“. Jemand gibt das ersehnte Signal und das Militär zieht sich zurück. Der Sieger der Oktoberrevolution 2017 ist das Volk. Soeben ist von Sotschi aus nach Moskau eine Maschine mit dem dort seit März festgehaltenen abgedankten Präsidenten an Bord abgeflogen. (21)

So ist das Rahrs Szenario der Oktoberrevolution 2017. Vieles von dem, was er 2011 für die Jahre bis zu den Präsidentschaftswahlen 2018 vorausgesagt hat, ist eingetreten, z. B. der sinkende Ölpreis unter die Marke von 50 US-Dollar, der gescheiterten „Siegeszug“ der westlichen Demokratie in den arabischen Ländern mit dem wachsenden Einfluss des terroristischen Netzwerkes El-Kaida, die bedrohlichen Unruhen im Nordkaukasus, Selbstmordanschläge in Moskau und Sankt-Petersburg, die Straßenschlachten zwischen russischen Nationalisten und Migranten. Nur bei einer Vorhersage lag Rahr falsch: Die schwierigen Zeiten, ungeachtet des massiven Sanktionsdrucks, führten in Russland nicht zu dem generellen Produktionsstopp und massiven sozialen Protesten. Putins staatskapitalistisches Modell hat sich angesichts der internationalen Turbulenzen als äußerst widerstandsfähig erwiesen. Der von Putin geführten russischen Regierung ist es gelungen, die soziale und politische Stabilität im Land vor den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 zu wahren. Putin wurde erneut mit großem Vorsprung vor den anderen sechs Kandidaten zum Präsidenten gewählt.

Die liberale Revolution ist an die späte Zeit verschoben, voraussichtlich bis zur nächsten Präsidentenwahl 2024. Aber sie muss in einer völlig neuen Situation stattfinden: „Kalter Freund“ Russland ist noch mehr kälter geworden. Den russischen Liberalen zu mobilisieren ist noch schwieriger geworden: Die liberale Idee hat in der letzten Zeit, besonders nach 24. Februar 2022, viele ihrer ursprünglichen Werte verloren, darunter die Unverletzlichkeit des Privateigentums und Handelsfreiheit. Die scharfe Kritik des Westens seitens der ehemaligen „liberalen“ Präsident Medwedew, der im 2020 zum Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation geworden ist, könnte als amtliche Aufgabe qualifizieren, aber auch als eine tiefe Enttäuschung über die westliche liberale Gemeinschaft, die ihre wahren liberalen Werte verraten hat.

Wenn nicht in Russland, dann doch in der Ukraine findet die eigene west-liberale Revolution statt, aber nicht im Jahr 2017, sondern im Februar 2014. Sie wurde als „Revolution der Würde“ benannt, aber jetzt mit einem grundlegenden Unterschied: Die ukrainischen Nationalisten verwandeln sich – nach dem Vorbild von Oligarch Chodorkowskis „Aprilthesen“ – in den „wütenden prowestlichen Demokraten“.

Auslöser den Protesten war die überraschende Erklärung der ukrainischen Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Die jungen Menschen sind nochmals zum Triebwerk der revolutionären Veränderung geworden: Friedliche Studentenproteste für Eintritt Ukraine in das Europa unter der Losung „Ukraine ze Europa“ haben – nach der Zusammenstoß mit Spezialeinheiten – letztendlich in den Straßenkämpfen auf den Barrikaden übergegangen. Die Demonstrationen flammten am 29. November 2013 nach dessen Nichtunterzeichnung auf dem Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft in Vilnius erneut. Ihren Massencharakter nahmen die Proteste am 1. Dezember 2013 an, nachdem einen Tag zuvor friedliche Studentenproteste durch die Spezialeinheit „Berkut“ der ukrainischen Polizei mit exzessiver Gewalt auseinandergetrieben worden waren.

Die Demonstranten forderten die Amtsenthebung von Präsident Wiktor Janukowytsch, vorzeitige Präsidentschaftswahlen sowie die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union. Am 8. Dezember 2013 nahmen Hunderttausende Menschen an der Demonstration auf dem Maidan Nesaleschnosti („Platz der Unabhängigkeit“) in Kiew teil. Ab dem 18. Februar 2014 kam es zu einer Eskalation, welche über 80 Todesopfer forderte. Nach der vereinbarten Beilegung des Konfliktes durch einen seitens der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens vermittelten Vertrag vom 21. Februar flüchtete Janukowytsch überstürzt noch in derselben Nacht. Aufgrund der Flucht erklärte das Parlament am 22. Februar 2014 Präsident Janukowytsch für abgesetzt. Seinen Abschluss fand der Euromaidan mit der Ernennung Oleksandr Turtschynows zum Übergangspräsidenten am 23. Februar und schließlich der Bildung einer Übergangsregierung unter Arsenij Jazenjuk am 26. Februar. (22) Dies geschah unter Verstoß gegen die Vereinbarung vom 21. Februar und gegen die ukrainische Verfassung. In der Sprache des Völkerrechts wird dies als Staatsstreich oder Putsch bezeichnet, in der Sprache der westlichen Diplomatie als ein Sieg der Demokratie.

Die „Revolution der Würde“ in Kiew ähnelt bemerkenswert dem von Rahr beschriebenen Szenario der Februarrevolution 2017 in Moskau. Es gibt viele Parallelen: politische Machtkämpfe, Massendemonstrationen im ganzen Land, verdeckte Aktivitäten ausländischer Geheimdienste hinter der Unruhen, Sturm den administrativen Gebäuden im Zentrum der Hauptstadt, Flucht des Präsidenten, Bildung einer Übergangsregierung usw. Sogar die ersten Schritte der Übergangsregierung – etwa die Suche nach finanzieller Unterstützung bei Amerika und IWF – entsprechen dem Rahrs Szenarium. Die Rolle des russischen Oligarchen Chodorkowski übernahm Julija Tymoschenko, die im Jahr 2011 verhaftet, aber nach dem Euromaidan entlastet und als Heldin der „Revolution der Würde“ gekrönt wurde.

Selbst russischer Oligarch Chodorkowski verbrachte nach der Haftentlassung im März 2014 einigen Tagen in Kiew, um die Maidan und seinen Kämpfern zu unterstützen. Am 9. März 2014 erscheint er auf der Maidan-Bühne und begrüßte emotional den Teilnehmer der Protestkundgebung mit den Worten: „Ruhm dem demokratischen ukrainischen Volk!“. Am nächsten Tag in Kiews Polytechnischen Institut bei seiner Vorlesung „Für ihre und unsere Freiheit“ angesichts der Krim-Krise hat er gesagt, dass die neue Ukraine Lieder auf dem postsowjetischen Raum als auch Leuchtturm und Quelle der Wertorientierung für neues Russland, das noch zu schaffen ist, sein kann. (23)

Allerdings ist die weitere Entwicklung der ukrainischen Revolution nicht mit dem friedlichen und durchaus optimistischen Szenario der Oktoberrevolution 2017 zu vergleichen. Im Unterschied zum Russland, wo für Oligarchen eine heimliche Vereinbarung mit Putin gilt, und zwar in der Staatspolitik nicht einzumischen (die mächtigsten russischen Oligarchen der Jelzin-Ära Boris Beresowski und Michail Chodorkowski sollten für die Verletzung solcher Regelung mit Asyl und Haft bezahlen), richteten die ukrainischen Oligarchen echte Wettfahrt auf der Jagd nach Macht. Es ist nicht wunderlich, dass Oligarch Petro Poroschenko im Juni 2014 zum ukrainischen Präsident gewählt wurde.

Es wäre naiv zu glauben, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj diese Tradition brechen könnte: Die westliche Unterstützung der Kiews Regierung in der Milliardenhöhe macht die korrupten Geschäfte unglaublich attraktiv. Die russische Spezialoperation hat solche tiefe Verflechtung der Politik und Oligarchie in der Ukraine nur beschleunigt. Inzwischen beobachteten Russen seit langem mit großer Besorgnis die ukrainische Europäisierung und fragen sich, warum in Russland die liberalen Reformen nach ukrainischen Muster bessere Ergebnisse bringen sollten als ihre „gelenkte“ Demokratisierung? Ist die ukrainische Demokratie wirklich eine Demokratie? Warum die „Revolution der Würde“ und die Eingliederung Ukraine in Europa nicht zu wirtschaftlichen Verbesserungen geführt hatten? Usw. Das sind Fragen, die eine west-liberale Demokratisierung Russlands besonders erschweren.

1. Rahr, Alexander: Der kalte Freund, S. 8.

2. Ebenda, S. 19.

3. Ebenda, S. 82.

4. Ebenda, S. 74-75.

5. Ebenda, S. 77-80, 82.

6. Ebenda, S. 80-83.

7. Ebenda, S. 83-84, 19-20.

8. Ebenda, S. 265-268.

9. Ebenda, S. 268-269.

10. https://www.tagesspiegel.de/politik/michail-chodorkowski-in-berlin-der-dompteur-des-nationalchauvinistischen-tieres/10746208.html

11. Rahr, Alexander: Der kalte Freund, S. 269-270.

12. Ebenda, S. 270-271.

13. Ebenda, 271-272.

14. Ebenda, 272-273.

15. Ebenda, 273.

16. Ebenda, 273-274.

17. Ebenda, 280-282.

18. Ebenda, 285.

19. Ebenda, 285-286.

20. Ebenda, 286-287.

21. Ebenda, 287-288.

22. https://de.wikipedia.org/wiki/Euromaidan

23. https://lenta.ru/articles/2014/03/11/khodorkovsky/