„Nukleare Gleichgewicht“ ist die rote Linie, die Putins Russland zuallererst gelegt hatte

Die defensive Logik der russischen Politik lässt sich auf die roten Linien zurückführen, die Russland in seiner internationalen Politik zieht. Die „dickste“ rote Linie liegt in der Sphäre der Sicherheitspolitik.

Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich in der Welt das militärische Gleichgewicht zwischen zwei Supermächten: Sie waren Garanten der dauerhaften Weltordnung, die zur Unterschreibung von zahlreichen Verträgen zwischen Amerika und Sowjetunion durchgeführt wurde. Das Gleichgewicht zwischen den atomaren Supermächten beruhte auf der sogenannten Zweitschlagfähigkeit: die sichere Fähigkeit einer Seite, bei einem nuklearen Erstschlag der anderen Seite mit einem vernichteten atomaren Zurückschlag zu antworten. So erforderte die militärische Aufrüstung der einen Seite die gleiche Aufrüstung der anderen Seite, vor allem im Bereich der Atomwaffen: ein typischer Fall von Wettrüsten gegen Wettrüsten.

Der Zerfall der Sowjetunion hat aber das Grundprinzip des militärischen Gleichgewichts in der globalen Weltpolitik in der Frage gestellt. Der Fall „Wettrüsten gegen Wettrüsten“ verlor mit dem Aufheulen seine Bedeutung: Es gab nur noch ein Land in der Welt, das neben Atomwaffen auch ein Arsenal sehr teurer konventioneller Waffen aufbauen konnte – Amerika. Dies wurde zu einem Problem für die Staaten, die ihre Sicherheit zuvor auf das Gleichgewicht der Kräfte zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten gestützt hatten. Sie sahen sich nun mit der wachsenden Macht Amerikas und der NATO konfrontiert – eine Situation, in der der sicherste Weg, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, darin bestand, Massenvernichtungswaffen (nukleare, biologische und chemische Waffen) und deren Trägersysteme zu entwickeln oder zu erwerben. Daher hat das Interesse der bedingten Gegner des Westens an Massenvernichtungswaffen deutlich zugenommen, was die Probleme der Weltsicherheit weiter erschwert. Hätte Saddam Hussein beispielsweise wirklich Massenvernichtungswaffen besessen, hätte es 2003 keinen Krieg im Irak gegeben, so wie Amerika heute nicht die Absicht hat, das Nordkorea-Problem mit Gewalt zu lösen. Viele haben diese Lektion aus dem Golfkrieg gut gelernt.

Der Westen lehnt aber auch eine enge Zusammenarbeit mit Russland, der zweitgrößten Atommacht, bei der Sicherung des Weltfriedens ab: Er ist nicht mit der Logik des Aufbaus einer unipolaren Welt unter amerikanischer Schirmherrschaft einverstanden. Die USA sind gezwungen, ihren eigenen Weg zu finden, um mit der Gefahr aus unfreundlichen Ländern umzugehen, während sie die Grundsätze ignorieren, die am Ende des Kalten Krieges zur weltweiten Entspannung geführt haben. Traditionell wird auch hier der Schwerpunkt auf die technische Überlegenheit gelegt, vor allem bei der Entwicklung eines Raketenabwehrsystems zum Abfangen von Raketenangriffen durch Schurkenstaaten. Ursprünglich wurden als solche Staaten der Iran und Nordkorea angesehen, aber theoretisch könnten auch andere Staaten, einschließlich Russland und China, als Feinde Amerikas eingestuft werden, um einen zweiten Vergeltungsschlag zu vermeiden.

Wie hart der Wunsch des Westens ist, diese Idee zu realisieren, zeigt Krone-Schmalz auf dem Beispiel die Bemühungen der USA, das globale Raketenabwehrsystem einzurichten. Die Bemühungen in dieser Richtung wurden durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 beschleunigt. Die Pläne von Georg W. Bush bestand darin, in Tschechien eine Radaranlage und in Polen zehn sogenannte Ground Based Interceptors, die speziell zum Abfangen von Interkontinentalraketen entwickelt wurden. Hinzu kamen noch Pläne für unterstützende mobile Radaranlagen in der Kaukasusregion, wofür vor allem Georgien, Aserbaidschan oder auch die Türkei infrage gekommen wäre. (1)

Im Frühjahr 2006 begannen die konkreten Sondierungen in Polen und Tschechien und im Januar 2007 schon die offiziellen Verhandlungen über die Stationierung. 2008 werden die Stationierungsverträge unterschrieben. Russland reagierte auf solche Pläne selbstverständlich mit großer Besorgnis. Bei seiner als „Paukenschlag“ empfundenen Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 sprach Putin auch die Sorge an, dass die Sicherheitsinteressen Russlands nicht angemessen berücksichtigt würden, und erwähnte dabei ausdrücklich das geplante US-Raketenabwehrsystem. Gleichzeitig bekräftigte Putin aber die russische Bereitschaft zur Kooperation. Die geplante US-Raketenabwehr in Osteuropa wird also zum entscheidenden Testfall für die Bereitschaft des Westens, auf russische Beschwerden einzugehen. (2)

Bereits im Februar 2007 drohte Russland Polen, auf eventuelle US-Abwehrraketen strategisch zu reagieren und kündigte an, atomar bestückbare Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander – mit einer Reichweite von 400 bis 500 Kilometern – in Kaliningrad zu stationieren, sollte die Raketenabwehr in Polen in Betrieb gehen. Ende Mai 2007 stellte Putin fest, die US-Raketenabwehr in Polen und Tschechien drohe Europa in einer „Pulverfass“ zu verwandeln.

Warum reagierte Moskau so allergisch auf solche Pläne? Die russischen Bedenken, die gegenüber Washington ausführlich kommuniziert wurden, richteten sich weniger auf die unmittelbare Bedrohung durch die zehn Abfangraketen, sondern waren mehr auf die strategischen Rahmen und die Entwicklungsmöglichkeiten des Systems bezogen. Moskau schätzt die Bedrohung durch den Iran ganz anders ein (besonders nach dem Atomabkommen mit dem Iran) als Washington. Dass das Land Interkontinentalraketen entwickeln könne, um damit die USA oder Europa anzugreifen, sei unwahrscheinlich und wenn, würde es angesichts der Sanktionen und den begrenzten technischen Fähigkeiten des Landes noch Jahrzehnte dauern, bis es dazu kommen könne. Diese Einschätzung wiederum machte die russische Führung misstrauisch, gegen wen sich das Abwehrsystem eigentlich richtete. Zudem kamen russische Experten nach den amerikanischen Briefings zu der Schlussfolgerung, dass man Radaranlagen und Abfangraketen anders platzieren würde, etwa in der Türkei und in Griechenland. Auch die Radareinheiten im Kaukasus könnten nach Russland hineinsehen. Außerdem ließen sich die Raketen mit „Multiple Kill Vehicles“ ausrüsten, sodass seine Vielzahl russischen Interkontinentalraketen mit einer einzigen Rakete auszuschalten wäre. (3)

In Moskau wuchs also die Sorge, seine Zweitschlagkapazität gegenüber den USA zu verlieren, d. h. auf einen überraschenden atomaren Erstschlag reagieren zu können. Sogar im Jahr 2006 erschienen in dem renommierten amerikanischen Fachblatt „Foreign Affairs“ die Artikel, wo die These diskutiert wurde, dass die USA womöglich in der Lage seien, das russische Atomarsenal mit einem atomaren Erstschlag praktisch vollständig ausschalten zu können. Die wenigen verbleibenden Raketen Russlands würden dann das Abwehrsystem übernehmen. Wie der US-Botschafter aus Moskau berichtete, traf dieser Artikel in Russland „einen Nerv“ und verstärkte die Befürchtungen, die US-Raketenabwehr könnte einen nuklearen Erstschlag möglich machen. (4)

Um zu verstehen, dass es keine paranoide Fantasie der russischen Führung war, lohnt sich Hiroshima und Nagasaki 1945 zu erinnern als auch ein Plan der Operation „Unthinkable“ (Unternehmen Undenkbar) im Mai 1945 und zahlreiche amerikanische Pläne des atomaren Angriffs auf die russischen Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz zu schweigen von der Karibikkrise 1962.

Anfang Juli 2007 schlug Putin vor, zunächst zusammen mit den USA und anderen interessierten Partnern zwei russische Radaranlagen zu nutzen, um die iranischen Raketentests zu überwachen. Diese Zusammenarbeit könne als Auftakt für die von den USA vorgeschlagene Kooperation bei der Raketenabwehr dienen. Putins Vorschlag war als Alternative zu den Basen in Tschechien und Polen gedacht, nicht als Ergänzung. In Washington jedoch wurde dieser russische Vorschlag nicht als aufrichtiger Vorstoß zur Zusammenarbeit interpretiert, sondern „als durchsichtiger Versuch, einen Keil in die Allianz zu treiben“ und die NATO in dieser Frage zu spalten. Die Allianz zeigte nun ihre Einigkeit unter der Prämisse: Wenn die NATO hart bleibe, werde Moskau irgendwann resignieren und die Spielregeln des Westens akzeptieren. Deshalb scheiterten alle folgenden Varianten eines Kompromisses zwischen Russland und der NATO, etwa keine Raketen nach Europa zu liefern, bis es keiner Gefahr von Iran gibt, oder permanenter Präsenz russisches Personal auf den Basen in Polen und Tschechien zu sichern. Nach dem Georgienkrieg im August 2008 waren produktive Verhandlungen ohnehin nicht mehr zu denken. (5)

Obwohl im November 2008 neue gewählte Präsident Obama begann, die Beziehungen mit Russland zu verbessern, sogar mit der Verkündigung, die Raketenabwehranlagen in Europa nicht zu stationieren, doch im Ergebnis handelte es sich nur um die Planänderung: Statt alten Systemen sollte das andere Abwehrsystem mit anderen, modernen Raketentypen zu installieren. Am 1. Oktober 2009 teilte Washington den Alliierten im Nordatlantikrat mit, das neue System der Raketenabwehr sei lediglich aufgrund von Änderungen bei der Bedrohungsanalyse sowie verbesserten technischen Fähigkeiten entwickelt und keineswegs auf eine mögliche russische Reaktion hin zugeschnitten worden. „Wenn Russland sich dennoch entscheidet, mit den USA und der NATO bei der Raketenabwehr zu kooperieren, dann umso besser.“

In einer ersten Phase würden bis 2011 erprobte Abwehrsysteme installiert. Wo genau die neuen Abfangraketen stationiert würden, darüber wurden keine Aufgaben gemacht: Es gebe mögliche Stationierungsorte. Aus einem Bericht der Warschauer US-Botschaft vom 23. September 2009 geht jedoch hervor, dass ein konkretes Angebot unterbreitet worden war. Polen sollte SM-3-Abfangraketen beherbergen und auch die vierte Aufbaustufe, die Interkontinentalraketen abfangen können sollte, war in Polen geplant. Mit Rumänien wurde im Februar 2010 – ohne vorherige Konsultation mit Moskau – ebenfalls ein Vertrag geschlossen. Dort ging die entsprechende Anlage bereits im Dezember 2015 in Betrieb. Hinzu kommen eine Radarstation in der Türkei sowie zahlreiche Aegis-Schiffe, die im Mittelmeer, im Schwarzen Meer, in der Ostsee und wohl auch in der Arktis eingesetzt werden sollen. (6)

Die Reaktion Russlands war erwartend. Im Vorfeld des Chicagoer NATO-Gipfels im Mai 2012, auf dem die teilweise Einsatzfähigkeit der Raketenabwehr verkündet wurde, stellte der russische Generalstabschef Nikolai Makarow klare Forderungen. Um zu verhindern, dass Russland seine Zweitschlagfähigkeit verliere, müsse es in die NATO-Raketenabwehr einbezogen werden. Konkret forderte er ein System, bei dem Russland für die Raketenabwehr eines Teils des NATO-Gebiets selbst verantwortlich gewesen wäre. Sollte das System dagegen so installiert werden wie vorgesehen, drohte er mit Präventivschlägen gegen die Stellungen in Polen und Rumänien. Dazu könnten Iskander-Raketen in Kaliningrad stationiert werden.

Die NATO lehnte den Vorschlag ab. Im Dezember 2012 sagte Putin auf einer Pressekonferenz, die NATO wolle weder technische Schritte unternehmen noch rechtsverbindliche Papiere unterschreiben, um die Raketenschild für Russland ungefährlich zu machen. Wenn es dabei bleibe, müsse Russland „Gegenmaßnahmen“ ergreifen, um das strategische Gleichgewicht zu erhalten, das die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg vor Großkriegen bewahre. Es hat sich in der Folge nicht geredet. (7)

Damals, im Jahr 2017, wenn das Buch „Eiszeit“ erschienen hat, waren aber die russischen „Gegenmaßnahmen“ noch nicht deutlich erkennbar. Heute bekam die Strategie Russlands für die Beibehaltung des Gleichgewichtes mehr ihrer Kontur. Es handelt sich um die Entwicklung von hochmoderner Hyperschallwaffe, die alle Abwehrsysteme nutzlos macht und Zweitschlagfähigkeit in allen Fällen garantiert. Der Impuls für rasche Entwicklung von solchen Waffen gab Russland selbst die westliche Politik, besonders seit Jahr 2007, wenn es ein fester Eindruck entstand, dass Washington seine Pläne durchziehen wollte, vollkommen unabhängig von russischer Haltung. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Die russische Hyperschallrakete wie „Awangard“ „Kinschal“ und „Sarmat“ zusammen mit anderen hochmodernen Waffen wie Unterwasserdrohne mit Nuklearantrieb „Poseidon“, Laserwaffensystem „Pereswet“ oder Raketenabwehrsystem S-500 „Prometei“ (schon produzierte oder getestete) werden zum realen hemmenden Faktor in der Weltpolitik. Mit dieser hochmodernen Technik, die alte russische Waffen ersetzen sollten, aber keine aufwendigen Investitionen brauchen, macht Russland einen bestimmten militärischen Vorsprung gegenüber Amerika.

Übrigens gibt genau dieser Vorsprung mehr Hoffnung, dass das Prinzip des militärischen, zuerst nuklearen Gleichgewichtes, das in der Zeit des Kalten Krieges noch herrschte und die Welt von neuem Vernichtungskrieg schützte, in der aktuellen globalen Weltpolitik wiederkehrt. Die Wiederherstellung des Prinzips der Zweischlagfähigkeit erschwert wesentlich die Perspektive des Überganges eines Konfliktes in der Ukraine oder noch irgendwo in der Welt in einem atomaren Armageddon.

1. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 191.

2. Ebenda, S. 192-193.

3. Ebenda, S. 195-196.

4. Ebenda, S. 195-196.

5. Ebenda, S. 200-208.

6. Ebenda, S. 208-214.

7. Ebenda, S. 217-218.