„Kriminalisierung des Krieges“ ist die größte Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden

Schmitt beschreibt solche Bedrohung des Friedens durch die Lehre des gerechten Krieges, die er grundlegend am Beispiel der mittelalterlichen Ordnung, der Republica Christiana, analysiert. Im europäischen Völkerrecht, dem Jus Publicum Europaeum, hat diese Lehre ihren Einfluss verloren (alle souveräne Staaten in Europa waren gerechte Kriegsgegner), aber nach dem Ersten Weltkrieg bekam sie die neue Impulse – als moderne Lehre des gerechten Krieges. Der Übergang von nicht-diskriminierten zwischenstaatlichen Krieg, der in Europa bis 1914 herrschte, zum neuen diskriminierten Krieg, die sich auf die Kriminalisierung des Gegners im kriminellen Sinne beruht, beschreibt Schmitt als Sinnwandel des Krieges. Dabei stützt er sich auf eine gründliche Untersuchung des Friedensvertrages von Versailles und zahlreichen Protokollen und Entwürfen der Genfer Liga von 1918 bis 1939.

Den ersten Ansatz zum Sinnwandel des Krieges, nach Schmitt, gab Artikel 227 des Versailler Vertrags, wo die Handlung des deutschen Kaisers als strafbar qualifiziert und „durch die Überschrift bewusst ausgesprochen“ wurde. Schon hier ist eine Kriminalisierung beabsichtigt. Schmitt schreibt: „Als Ankläger erscheinen sämtliche alliierten und assoziierten Mächte, nicht nur die fünf Hauptmächte. Ob jede einzelne Macht oder aber alle Zusammen Ankläger sind, wird nicht gesagt. Durch den Friedensvertrag stellen sie den vormaligen Kaiser unter öffentliche Anklage. Dieser ist der einzige Angeklagte und als solcher mit Namen, Wilhelm II. von Hohenzoller, ehemalige deutscher Kanzler, persönlich genannt. Der Kaiser blieb auch dann der einzige Angeklagte dieser neuen Art internationalen Verbrechens, als der Reichskanzler Bethmann-Hollweg 1919 öffentlich erklärte, dass er die volle Verantwortlichkeit für alle unter seiner Kanzlerschaft (1914 bis 1917) begangenen Amtshandlungen des Kaisers übernehme. Keiner der Ankläger ist auf diese Erklärung des konstitutionell verantwortlichen Reichskanzlers eingegangen. Diese Klage wegen des neuen Kriegsverbrechens blieb auf das Staatsoberhaupt persönlich beschränkt.“ (1)

Mit der Personifizierung des Kriegsverbrechens haben also die Siegermächte versucht, den wichtigsten Grundprinzip des Jus Publicum Europaeum zu kippen, und zwar, dass nur der Staat, nicht aber Menschen zum Feinde genannt bzw. bestraft werden kann. Doch alle Versuche, ein Staatshaupt zu bestrafen, blieb zuerst erfolglos. Schmitt bemerkt: „Es war damals, 1919, keine schwierige Aufgabe, diesen Art. 227 sowohl nach bisherigem europäischen Völkerrecht wie auch in strafrechtlicher Hinsicht zu kritisieren und zu widerlegen. Eine internationale Gerichtsbarkeit eines Staates über einen anderen anerkannten Staat oder über das anerkannte Staatshaupt eines anderen souveränen Staates kannte das europäische Völkerrecht nicht. … Der Krieg wurde in aller Schärfe als eine Beziehung von Staat zu Staat, nicht von Individuen oder Gruppen aufgefasst. Er wurde völkerrechtlich nicht von einzelnen Menschen, nicht von dem Staatshaupt persönlich, sondern vom Staat als solchen geführt. Der Feind war justus hostis, d. h. er wurde vom Verbrecher unterschieden. Was den Tatbestand des neuen Verbrechens angeht, so war er in Art. 227 sehr unbestimmt angegeben.“ Im Ergebnis war die Strafaktion gegen Wilhelm II. „unbestimmt und ganz in das Ermessen des Richters gestellt“. Die Folge solcher Unbestimmbarkeit war die Tatsache, dass Deutscher Kanzler nie „als internationaler Verbrecher vor ein internationales Gericht“ gezogen wurde. (2)

Der erste Versuch, einen Mensch persönlich wegen eines Kriegsverbrechens zu verurteilen, war somit ein erfolgloser Präzedenzfall für das neue Völkerrechts. Doch später, besonders nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wurde die Personifizierung des Kriegsverbrechens jedoch zu einem Merkmal des internationalen Gerichtsverfahrens. Man könnte natürlich diskutieren, ob es gerecht oder ungerecht war, im Nürnberger Prozess 1945-1946 nicht nur Staatshaupt Hitler, sondern die oberste Führung des Naziregimes zu bestrafen und das gesamte deutsche Volk für Kriegsverbrechen verantwortlich zu machen. Aber in jedem Fall lässt solche Personifizierung des Kriegsverbrechens entscheidende Fragen des Krieges, etwa Kriegsursache und Mitschuld in dem Krieg, außer Acht. In Nürnberg wurden beispielsweise die aktive Beteiligung amerikanischer Unternehmen am Wiederaufbau der deutschen Kriegsmaschinerie und die Rolle des Münchner Abkommens von 1938 bei der Eskalation des Krieges nicht diskutiert. Der Faschismus wurde zwar verurteilt, aber ohne den Versuch, wenigstens seine wahren Wurzeln klar zu definieren.

Die Blindheit des internationalen Gerichtshofs, verborgen hinter der politisch-moralischen Brille, hält bis heute an. Das zeigt die alleingängige Verurteilung Präsident Jugoslawiens Milošević als Verbrecher gegen die Menschlichkeit im Jugoslawien-Krieg durch Internationalen Strafgerichtshof 1999, aber auch die aktuelle Versuche, Putin und Russland allein für die Krise in der Ukraine verantwortlich zu machen. Die aktive Militarisierung des Kiews Regime und hartnäckige Ablehnung der Propaganda des Faschismus in der Ukraine durch den Westen bringt uns wieder zurück zu Hegels berühmtem Paradox, das besagt, dass die Geschichte nur lehrt, dass sie nichts lehrt.

Schmitt beschreibt den Ursprung des Sinnwandels des Krieges. Nach ihm, es waren gerade amerikanische Delegierte, die eine Bestrafung der Staatshäupter forderten und zwar als ein moralisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Um der Sinn solches Wandels des Krieges zu zeigen, zitiert Schmitt „eine typisch amerikanische Auffassung“, die sich aus einem Entwurf im Rahmen der Vorbereitung des Versailler Vertrages ergibt und „den Krieg vom August 1914 als ungerechten Krieg und Angriffskrieg bezeichnet“. Diese Erklärung spricht über einen Krieg, „der durch seine Ausdehnung, seine unnötige Vernichtung menschlichen Lebens und Eigentums, seine unerbittlichen Grausamkeiten und seine unerträglichen Leiden alle Kriege der modernen Zeiten übertrifft“. Die Urheber solches schändlichen Krieges, so ist der Kernpunkt der Erklärung, „sollten nicht in die Geschichte eingehen, ohne gebrandmarkt zu werden.“ Das heißt, sie sollten „vor die Schranken der öffentlichen Weltmeinung zitiert werden, um das Urteil zu erleiden, das die Menschheit gegen die Urheber des größten gegen die Welt begangenen Verbrechens ausspricht.“ (3)

Schon in dieser Erklärung, nach Schmitt, spricht sich zweifellos eine bewusste Abweichung von der bisherigen völkerrechtlichen Auffassung des Krieges aus. Er schreibt: „Der Grundgedanke des zwischenstaatlichen europäischen Völkerrechts, die Lehre vom justus hostis, wird aufgegeben.“ Doch, betont Schmitt, handelte es sich zuerst „nicht von einer allgemeinen Kriminalisierung des Angriffskrieges, sondern nur von einem moralischen Verbrechen gegen die Menschheit die Rede, das nur die Staatshäupter der Zentralmächten begangen haben und niemand anderes“. Selbst Präsident Wilson, der laut Schmitt als Verfechter der Lehre vom gerechten Krieg gilt, war weit von einer allgemeinen Kriminalisierung des Aggressors entfernt. In seiner Rede vom 26. Oktober 1918 hat er unter anderem gesagt: „Keine einzelne Tatsache hat den Krieg hervorgerufen, sondern im letzten Grunde trägt das ganze europäische System die tiefere Schuld am Kriege.“ Auch deutsche Delegation protestierte damals in ihrer Note gegen den Vorwurf, alleiniger Urheber des Krieges zu sein. (4)

Die Ersetzung der Kollektivschuld durch die Identifizierung eines bestimmten Kriegsverbrechers (aus moralischen, politischen oder noch welchen Gründen) wurde zum nächsten Ansatz des Sinnwandels des Krieges. Diese Wende schildert der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrags, der, nach Schmitt, die Frage betrifft, ob die Mittelmächte „einen ungerechten Angriffskrieg geführt haben und deshalb ohne Einschränkung für allen Schaden haften“, oder doch Deutschland allein die Verantwortung für der Krieg tragen bzw. die Reparationen bezahlen muss. Die Siegermächte Frankreich und England versuchten freilich Deutschen allein für Krieg schuldig zu machen, unter den Gedanken, „dass der Krieg Deutschlands ein ungerechter Krieg und ein Angriffskrieg war“. (5)

Über eine allgemeine Schuld im Ersten Weltkrieg war keine Rede mehr. Es war also ein Präzedenzfall, wenn die Gleichberechtigung der souveränen Staaten als der formale Anhaltspunkt für die Bestimmung des gerechten Krieges durch Autorität der Siegermächte ersetzt wurde. Man kann sagen, dass die Autorität der Siegermächte die Rolle der alten Autorität der Kirche übernommen hat und zum neuen institutionellen Substanz der modernen Lehre des gerechten Krieges geworden ist. Es war ein neuer Trend in den Kriegsfragen: Nicht mehr das „Recht im Krieg“, das bis 1914 keine Diskriminierung des Kriegsgegners kannte, sondern die Siegermächte, gemäß ihrem neuen Status quo und ihren politisch-moralischen Vorstellungen, entscheiden, wer die Schuld am Krieg trägt und wer ein Kriegsverbrecher ist. Nicht die Justiz, sondern die Politik und Moral tritt nun als Schiedsrichter in den Fragen des Krieges.

Nach der Ukraine-Krise 2014 ist solcher Trend mehr als offensichtlich. Die Supermacht Amerika zusammen mit den Verbündeten zeigt keine Bereitschaft, die Mitverantwortung für die katastrophale Veränderung in der Welt zu tragen: In allen Problemen, Konflikten und sogar Katastrophen sollte man die Schuld in Putins Russland und persönlich in russischen Präsident Putin gesucht werden, gefolgt von Autokraten aller Couleur, die die westliche liberale Demokratie bedrohen.

Den größten Ansatz zum Sinnwandel des Krieges, nach Schmitt, gaben die Vereinigten Staaten von Amerika, mit dem Versuch, den Krieg als solchen abzuschaffen: rein in amerikanischer Tradition der outlawry of war, die alle Kriege als solche ächtet und verurteilt und das amerikanischen Kontinent, im Gegenteil zu einer von den Kriegen zerrütteten Europa, zum Ideal der Freiheit und des Friedens erhebt. Die amerikanische outlawry of war, die Abschaffung des Krieges, sollte also zur neuen völkerrechtlichen Konstruktion der neuen Weltordnung, die Präsident der Vereinigten von Amerika, W. Wilson, auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 angekündigt hatte, gemacht werden. Es handelte sich eigentlich um ein neues amerikanisches Modell des Friedens, gemäß dem neuen Status quo Amerikas als wachsende wirtschaftliche Weltmacht, das an die Stelle des alten Systems der Kriegsverhütung des Jus Publicum Europaeum, nämlich der Hegung des Krieges, treten sollte. Doch es war kein einfacher Prozess.

Schmitt zufolge gab es zwischen 1920 und 1924 zahlreiche Versuche und Vorschläge, „das Kriegsverhütungs-System der Genfer Liga zu stärken“. Aber die Delegierten des Völkerbundes konnten sich nie darauf einigen, was ein Angriff, ein Angriffskrieg und vor allem was ein internationales Verbrechen ist. Für den Juristen der kontinental-europäischen Denkweise, erklärt Schmitt, „war es selbstverständlich, dass die bloße Verwendung des Wortes Verbrechen für das Völkerrecht noch keine Kriminalisierung bedeutete, … solange Tatbestand, Täter, Strafe und Gericht nicht mit deutlichen Worten bestimmt und umschrieben waren“. Doch Amerikaner sah es anders. Schmitt schreibt: „Es ist anzunehmen, dass weite Kreise der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten von Amerika die Worte outlawry der Krieges und crime für eine ausreichende Kriminalisierung gehalten haben und zwar in den Sinne, dass die verantwortlich gemachten Urheber des Krieges ohne weiteres kriminell bestraft werden könnten.“ (6)

In dem Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 gib es zwar tatsächlich der Satz, „dass der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen ist“, aber keine Entwürfe des Protokolls, nach Schmitt, sind perfekt geworden. Auch selbst Genfer Protokoll ist nicht in Kraft getreten: Es hat infolge des englischen Wiederstandes gescheitert, aufgrund von Gedanken, dass formale Definitionen des Angreifers nicht unterschieden werden kann, ob militärische Aktion einem Verteidigungszweck dienen oder nicht. Schmitt stützt sich dabei auf die Erklärung der englischen Regierung, von Sir Austen Chamberlain am 12. März 1925 vor dem Rat der Genfer Liga. In dieser Erklärung wird auch ferner gesagt, „dass solche formalen Bestimmungen des Angriffs und Angreifers die Lösung des eigentlichen Problems, nämlich der Ursachen des Krieges, und ebenso die Abrüstung nicht beschleunigen, sondern eher verhindern.“ (7)

Die Amerikaner hatten aber die andere Auffassung. Schmitt schreibt: „In den Beratungen der Pariser Konferenz waren es gerade amerikanische Delegierte gewesen, die den Angriffskrieg mit großem Nachdruck als Unrecht bezeichnete“. Besonders bekannt ist der sogenannten Entwurf Shotwell bei der Vorbereitung des Genfer Protokolls von 1924 – nach dem Name des Sprechers der amerikanischen Friedensdelegation, James T. Shotwell. Dieser Entwurf trug die Überschrift „Outlawry of Aggressive War“ und erklärte den Angriffskrieg (aggressive war) für ein Verbrechen. Übrigens war damals für amerikanischen Delegierten nur Staat der Täter dieses Verbrechens, und die Sanktionen als Bestrafung „waren nicht kriminalrechtlicher, sondern hauptsächlich ökonomischer Art“. (8)

Solcher Konflikt zwischen europäischen und amerikanischen Denkweise beschreibt Schmitt als der Gegensatz zwischen Methoden der kontinental-europäischen Juristen bei der Hegung des Krieges und den Vorstellungsweise der öffentlichen Meinung Amerikas, „sobald es sich um das Problem der Abschaffung des Krieges handelt“. Dieser tiefe Gegensatz, überzeugt Schmitt, „lässt sich nur dadurch lösen, dass die juristische Frage nach dem eigentlichen Tatbestand des neuen internationalen Verbrechens geklärt wird“. Das heißt, dass bei allen Bestrebungen einer outlawry des Krieges geklärt seine sollte, worüber es geht: um einem Verbrechen des Krieges, um Verbrechen des Angriffs, um Verbrechen des Angriffskrieges oder schließlich um Verbrechen des ungerechten Krieges? Das sind, nach Schmitt, doch offensichtlich ganz verschiedene Verbrechen mit ganz verschiedenen Tatbeständen.

Die Unterscheidung des Angriffsaktes von dem Angriffskrieg wäre dabei besonders wichtig. Das ist, nach Schmitt, nur auf den ersten Blick künstlich und formalistisch. Er schreibt: „Jeder Krieg, auch der Angriffskrieg, ist als Krieg normalerweise ein zweitrangiger Vorgang, ein Kampf auf beiden Seiten. Der Angriff dagegen ist ein einseitiger Akt. Die Frage nach dem Recht oder Unrecht des Krieges, auch eines Angriffskriegs, im Ganzen bedeutet etwas völlig anderes als die Frage nach dem Recht oder Unrecht eines bestimmten Angriffsaktes, mag dieser Angriffsakt nun zu einem Kriege führen oder noch rechtzeitig gestoppt werden. Angriff und Verteidigung sind nicht absolute, moralische Begriffe, sondern situationsbestimmte Vorgänge.“ (9)

Das heißt, dass die Erklärung des Angriffskrieges zum Verbrechen ganz anderes ist als die Reaktion auf einen Angriffsakt, bei dem, zum Beispiel, den ersten Schuss abgegeben wurde. Im ersten Fall bleiben die Urheber, Verursacher oder Schuldige des Krieges ungeklärt, während im zweiten Fall bleibt die Hoffnung, den bevorstehenden Aggressionskrieg zu hegen. „Die Beschränkung auf den Angriffsakt, betont Schmitt, ist also zweckmäßig und sogar notwendig, gerade um die Schwierige Frage nach der justa causa, d. h. nach dem in der Sache gerechten Krieg und der Schuld am Kriege zu vermeiden. … Das Äußerliche und Formalistische dieser Methode wird im Kauf genommen, um den Angriffsakt und die Gewaltanwendung so schnell wie möglich zu stoppen, und den Ausbruch des Krieges selbst zu vermeiden.“ (10)

Die juristische Besonderheit des Angriffsaktes gegenüber dem Angriffskrieg, nach Schmitt, wurde damals den Juristen und Diplomaten bewusst, „aber der öffentlichen Meinung breiter Schichten ebenso unbekannt und fremd“. Deshalb scheint es für Schmitt notwendig, an den praktischen Sinn dieser Unterscheidung von Angriff und Angriffskrieg zu erinnern: In diesem Unterschied tritt „gleichzeitig der tiefgreifende Unterschied zwischen einer rein juristischen und rein moralischen Denkweise zutage“. Einer der ersten, der die friedliche Regelung aller solchen völkerrechtlichen Streitigkeit vorgeschlagen hat, war Lord Robert Cecil, seit 1923 Präsident der Genfer Liga. Er war der Urheber einen wichtigen Entwurfs für einen Garantievertrag (1923), wo „die Notwendigkeit einer schnellen und einfachen Bestimmung des Angreifers“ dargelegt wurde. Schmitt schreibt dazu: „Der Angreifer soll durch den Rat der Genfer Liga mit einer Mehrheit von Dreiviertel der Stimmen festgestellt werden. Der abzuschließende Garantievertrag soll denjenigen als Angreifer bezeichnet, der absichtlich und mit Vorbehalt das Gebiet eines anderen verletzt. Auch wurde betonen, dass es sich nicht darum handelt, auf wessen Seite das gute Recht ist, sondern nur darum, wer die erste feindliche Handlung begangen hat.“ (11)

Schmitt kommentiert: „Ein Jurist wird es leicht verstehen, dass auf solche Weise die präzise Definition des Angriffs von der Frage des in der Sache gerechten Krieges gänzlich und absichtlich getrennt wird.“ Das Verbrechen des ersten Schusses ist doch etwas anderes als das Verbrechen des Krieges. Aber auch der Angriffskrieg, der durch amerikanisches outlawry abgeschafft sein sollte, ist, nach Schmitt, etwas anderes als ein ungerechter Krieg. Er schreibt. „Wenn der Krieg als solcher rechtlich verboten werden soll, so ist damit selbstverständlich nur der ungerechte Krieg gemeint. Das Verbot des Angriffskrieges ist nicht einfach ein Fall des Verbotes des ungerechten Krieges. Denn es gibt auch gerechte Angriffskriege, wie die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg immer betont hat. Insbesondere bleibt das Recht auf Selbstverteidigung und damit eine gewisse Entscheidung über die möglichen Mittel der Selbstverteidigung immer vorbehalten, sodass sogar der alte Satz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist, praktisch werden kann. Die Frage der Gerechtigkeit eines Krieges lässt sich in der Sache von der Frage nach der justa causa, d. h. den Kriegsursachen und dem gesamten außenpolitischen Zusammenhang nicht ablösen.“ (12)

In der Logik des Kriegsverbots gibt es also kein Platz für die Frage nach den Ursachen des Krieges. Seitdem ist zur tragenden Säule der modernen Lehre vom gerechten Krieg geworden, die Vorgeschichte bzw. die Ursachen des Krieges zu vertuschen, zu verzerren, zu verfälschen oder einfach zum Schweigen zu bringen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als der Kampf zwischen den beiden großen Ideologien – dem Liberalismus und dem Kommunismus – seine Macht als Ursache aller Weltkonflikte verlor, ist dieser Trend besonders deutlich zu spüren. Wer kann es sich heute noch leisten, über die Ursachen der Kriege und Konflikte in Jugoslawien, im Kaukasus, in der Ukraine oder im Nahen Osten zu sprechen, geschweige denn zu debattieren? Die Empörung des politischen Establishments wird garantiert sein.

Nach Schmitt ist das Genfer Protokoll vom Oktober 1924 daran gescheitert, „dass es die sachlichen Zusammenhänge der Frage des gerechten Krieges nicht beantwortete und nicht einmal beantworten wollte.“ Er schreibt: „Der Eindruck, den dieser Misserfolg auf die europäischen Völker und Regierungen machte, namentlich den Eindruck der englischen Regierungserklärung vom 12. März 1925, war sehr groß. Er hat es verhindert, dass sich in Europa die rechtliche Überzeugung von der Entstehung eines neuen internationalen Verbrechens festigen könnte. Die amerikanischen Beförderer einer outlawry of war haben sich aber durch den Misserfolg nicht beirren lassen und 1928 in dem Kellogg-Pakt eine förmliche Comdemnation, eine Verurteilung des Krieges als Mittel der nationalen Politik erreicht.“ (13)

Im Kellog-Pakt haben die Vereinigten Staaten von Amerika, „über die Unterscheidung von westlicher und östlicher Hemisphäre hinweg, den Anspruch erheben, über Recht und Unrecht jeder Gebietsänderung auf der ganzen Erde zu entscheiden“. Mit anderen Doktrinen ist im Weiteren zur Praxis erhoben werden, nur solche Regierungen anzuerkennen, die im Sinne einer demokratischen Verfassung legal sind. Was demokratisch oder legal bedeuten seien könnte, wird selbstverständlich von der amerikanischen Regierung selbst „definiert, interpretiert und sanktioniert“. Das war „die Todeserklärung der alten Isolierung und Neutralität“ der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Übergang von Selbst-Isolierung zur Welt-Intervention. (14)

Zur Bedeutung des Kellog-Pakt schreibt Schmitt: „Mit dem Kellogg-Pakt von 1928 änderte sich der Weltaspekt des Völkerrechts. Das ist wichtiger als die Auslegung seiner Verurteilung des Krieges, wichtiger auch als die Auslegung der zahlreichen ausdrücklichen und stillschweigenden Vorbehalte, die er enthielt. Jetzt trat die westliche Hemisphäre auf den Plan und bestimmt die weiteren Sinnwandel des Krieges. Alle Versuche, die Verurteilung des Krieges, die Kellog-Pakt aussprach, mit der Genfer Liga und dem Genfer Protokoll in Einklang zu bringen, blieben erfolglos. Gleichzeitig aber schaltete sich vom Osten her die Sowjetunion in die Bestimmung des Sinnwandels ein. Auf der Abrüstungskonferenz und in der Londoner Konventionen vom Juli 1933 hatte sie bereits die Führung in der Frage der Definition von Angriff und Angreifer. So gingen die Kräfte, die den Kriegsbegriff des europäischen Völkerrechts aus den Angeln hoben, von Westen und Osten her über die an sich selber unsicher gewordenen europäischen Staaten hinweg. Osten und Westen trafen sich schließlich im Londoner Statut vom August 1945, um dort für einen Augenblick zu verschmelzen. Die Kriminalisierung nahm jetzt ihren Lauf.“ (15)

Das Londoner Statut legte bekanntlich die Rechtsgrundlagen und Prozessordnung des Internationalen und der amerikanischen Militärgerichtshöfe fest, die für die Nürnberger Prozesse ins Leben gerufen wurden. Die wichtigste Ansätze des Sinnwandels des Krieges, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Kriminalisierung des Krieges führte, waren aber in Nürnberg auch dabei: Personifizierung des Kriegsverbrechens, Ignorierung des Prinzips der Kollektivschuld, keine deutliche Definition des Angreifers und Angriffskrieges und keine Bedenken über das Recht der Siegermächte zu entscheiden, was im Krieg gerecht oder ungerecht ist.

Nun könnte man eine Formel der Kriminalisierung des Krieges zusammengefasst wird. Im Mittelpunkt dieser Formel steht das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges, das den Krieg selbst zu einem Verbrechen im kriminellen Sinne des Wortes macht. An zweiter Stelle in der Formel steht eine Diskriminierung des Gegners im Namen des gerechten Krieges. „Allerdings, bemerkt Schmitt, steckt in der Gerechtigkeit des Krieges, wenn diese auf die justa causa bezogen wird, immer ein latenter Ansatz zur Diskriminierung des ungerechten Gegners und damit zur Beseitigung des Krieges als Rechtsinstitut. Der Krieg wird dann schnell zur bloßen Strafaktion, er erhält punitiven Charakter (Strafcharakter, Anm. d. Autors), die vielen ernsten Dubia (lat. Zweifel, Anm. d. Autors) der Lehre vom bellum justum (lat. ein gerechter Krieg, Anm. d. Autors), sind schnell vergessen, der Feind wird einfach Verbrecher, und das Weitere, nämlich die Entrechtung und Plünderung des Gegners, d.h. die Zerstörung des formal immer noch einen justus hostis voraussetzenden Feindbegriffes, ergibt sich dann praktisch von selbst.“ (16)

Die Abschaffung des Krieges durch eine Diskriminierung des Gegners ist hier offensichtlich. Schmitt schreibt dazu: „Bei dem modernen, diskriminierten Kriegsbegriff dient der Unterscheidung von Recht und Unrecht des Krieges gerade dazu, dass der Feind nicht mehr als justus hostis, sondern als kriminelle Verbrecher behandelt wird. Der Krieg hört infolgedessen aus, ein völkerrechtlicher Begriff zu sein, wenn auch die Tötung, Plünderung und Vernichtung keineswegs aufhört, sondern sich durch neue, moderne Vernichtungsmittel sogar noch steigert. Indem der Krieg auf der einen Seite zur Strafaktion im Sinne der modernen Kriminalrecht wird, kann der Gegner auf der andere Seite kein justus hostis mehr sein. Gegen ihn wird nicht mehr Krieg geführt, wenig wie gegen einen Piraten, der in einem ganz anderen Sinne Feind ist als der Kriegsgegner im Sinne des europäischen Völkerrechts. Er hat ein Verbrechen im kriminellen Sinne begangen, das Verbrechen des Angriffs, „le crimend de l’attaque“. Die Aktion gegen ihn ist infolgedessen ebensowenig Krieg wie die Aktion der staatlichen Polizei gegen einen Gangster Krieg ist; sie ist bloße Exekution und schließlich – mit der modernen Verwandlung des Strafrechts in soziale Schädlingsbekämpfung – nur eine Maßnahme gegen einen Schädling oder Störer, gegen einen perturbateur, der mit allen Mitteln moderner Technik, z. B. durch ein police bombing, unschädlich gemacht wird. Der Krieg ist abgeschafft, aber nur deshalb, weil die Feinde sich gegenseitig nicht mehr auf der gleichen moralischen und juristischen Ebene anerkennen.“ (17)

Schon damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, unter der Prägung der angloamerikanischen Bombardierung den deutschen Städten, sah Schmitt im Wandel des zwischenstaatlichen Krieges zum modernen gerechten Krieg eine globale Gefährdung des Weltfriedens. Jeder Krieg und auch ein gerechter Krieg, betont Schmitt, ist von der Waffe abhängig. Die technische Entwicklung des Vernichtungsmittels ändert den Charakter des Krieges grundsätzlich. Schmitt zeigt das auf dem Beispiel der Luftwaffe. Der Luftkrieg trägt einen Vernichtungscharakter, weil der Bombenabruf aus der Luft „nur den Sinn und Zweck einer Vernichtung“ hat. (18)

Die modernen Kriege sind also von technischer Entwicklung der Fernwaffen stark geprägt und sind im Prinzip die Vernichtungskriege. Im 21. Jahrhundert wird das zur Kernfrage des Krieges: Zu den modernen Vernichtungswaffen gehören heute sicherlich nicht nur Bomben- oder Tiefflieger, über welchen Schmitt schreibt, sondern auch Drohnen, Rakete und Systeme, die diese Rakete und Drohnen anfangen und vernichten können. Solche Vernichtungsmittel bezeichnen noch mehr die Sinnwandel des Krieges, die mit der Etablierung des Luftkrieges begonnen hat.

Die beiden Probleme – technisches und des gerechten Krieges – sind also die wichtigsten Fragen des Weltfriedens. Zum Krieg auf beiden Seiten, betont Schmitt, gehört eine gewisse Chance, ein Minimum von Möglichkeit des Sieges. „Hört das auf, so ist der Gegner nur noch Objekt einer Zwangsmaßnahme. Dann steigert sich der Gegensatz der kämpfenden Parteien in entsprechendem Grade.“ Nun formuliert Schmitt das wirkliche Problem des modernen gerechten Krieges: „Die Überlegene hält seine Waffen-Überlegenheit für einen Beweis seiner justa causa und erklärt den Feind für einen Verbrecher, weil man den Begriff des justus hostis nicht mehr zu realisieren vermag. Die Diskriminierung des Feindes zum Verbrecher und die gleichzeitige Hineinziehung der justa causa laufen parallel mit der Steigerung der Vernichtungsmittel und mit der Entortung des Kriegsschauplatzes. Die Steigerung der technischen Vernichtungsmittel reißt den Abgrund einer ebenso vernichtenden, rechtlichen und moralischen Diskriminierung auf.“ (19)

Im Kalten Krieg herrschte ein atomares und militärisches Gleichgewicht zwischen zwei Supermächten, der verhinderte, den Gegner zu kriminalisieren. Die beide Supermächte, die USA und die Sowjetunion, müssten sich gegeneinander als justus hostis, also als gerechte Feinde akzeptieren. Sie galten in allen internationalen Organisationen als anerkannte und gleichberechtigte Mächte. Die justa causa, also die Frage der Kriegsursache, löste sich dabei in der ideologischen Konfrontation: Die Autorität der beiden Mächten war genügend, um die eigene Interessen militärisch zu verteidigen. Die Kriege wurden nicht abgeschafft (Vietnam, Afghanistan usw.), aber, seit Karibische Krise 1962, sie befand sich in den Rahmen den Regional- oder Stellvertreterriegen, ohne einen vernichtenden atomaren Krieg aufzurufen. Man kann sagen, dass die moderne Lehre des gerechten Krieges in der bipolaren Weltordnung nach Jalta-Konferenz 1945 ihre Wirkung verloren hat.

Doch nach dem Zusammenbruch der UdSSR war es für die USA als Sieger im Kalten Krieg genügend, um jeden Feind zum Verbrecher zu erklären, ohne das Problem der Schuldfrage und die Lehre des justus hostis zu beachten. Das passierte genau seit Mitte der 1990er, nach der NATO-Erweiterung und voller Ignorierung von Sicherheitsinteressen Russlands. Der Gegner, also die Russische Föderation, wird von Subjekt der Weltpolitik zum Objekt einer Zwangsmaßnahme. Je mehr die USA die technische Überlegenheit gegenüber geschwächtes Russland verfügte, die sich in der modernen Vernichtungsmittel konzentrierte, desto mehr sie zur Verlockung neigte, Russland als Feind zu diskriminieren – rechtlich, moralisch oder noch auf welcher Art. Alle Strafaktionen gegen Russland bekommen nun den Status des gerechten Krieges.

„Im gerechten Krieg der gerechten Seite jedes Mittel erlaubt sein sollte“, lautet die christlich-theologische Lehre vom gerechten Krieg. Schmitt zeigt, zu welchen Ergebnissen der Geist des gerechten Krieges führen könnte: „Indem man heute den Krieg in eine Polizeiaktion gegen Störenfriede, Verbrecher und Schädlinge verwandelt, muss man auch die Rechtfertigung der Methoden dieses „police bombing“ steigern. So ist man gezwungen, die Diskriminierung des Gegners ins Abgründe zu treiben.“ (20)

Ein Übergang vom gerechten zum totalen Krieg wird hier sichtbar. Die rasch wachsende Russophobie und die persönliche Diskriminierung des russischen Präsidenten Putin dienen dazu, den Feind vollständig zu diskreditieren und ihn schließlich in den Abgrund des Vergessens zu stürzen. Die Risiken eines möglichen Übergangs von einem gerechten Krieg zu einem totalen Krieg nehmen dramatisch zu, wenn nicht vergessen wird, dass „im gerechten Krieg der gerechten Seite jedes Mittel erlaubt sein sollte“. In der Konfrontation zwischen zwei, heute wieder gleichgewichtigen atomaren Mächten Amerika und Russland, wäre es der eine atomare Vernichtungskrieg.

Es ist nicht zufällig, dass Schmitt sein Werk Der Nomos der Erde gerade mit der Warnung von Kriminalisierung des Krieges beendet hat. Sie ist heute das größte Hindernis für den Weltfrieden.

1. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde, S. 235-236.

2. Ebenda, S. 236-237.

3. Ebenda, S. 237, 239.

4. Ebenda, S. 239-240, 242-243.

5. Ebenda, S. 241, 243.

6. Ebenda, S. 245, 248.

7. Ebenda, S. 245-246, 254.

8. Ebenda, S. 246-247.

9. Ebenda, S. 248-249.

10. Ebenda, S. 247-249, 251.

11. Ebenda, S. 252.

12. Ebenda, S. 249-251.

13. Ebenda, S. 255.

14. Ebenda, S. 281-283.

15. Ebenda, S. 255.

16. Ebenda, S. 93.

17. Ebenda, S. 94-95.

18. Ebenda, S. 294.

19. Ebenda, S. 298.

20. Ebenda, S. 299.