Das Gleichgewicht der souveränen Staaten ist tragende Säule des Friedens

Es handelt sich nicht um formaler, sondern um rechtlich und institutionell gesicherter Gleichheit von Staaten, die im Jus Publicum Europaeum der kontinentalen Europa als Garant des Friedens eintrat. Der Krieg war nicht illegal, das heißt, dass die europäischen Staaten in den Fragen des Krieges genug souverän waren. Die Gleichheit der Souveräne, so Schmitt, machte sie untereinander zu gleichberechtigten Kriegspartner, die den Krieg auf ein und derselben Ebene miteinander führen und sich, trotzt des Krieges, gegenseitig nicht als Verräter und Verbrecher, sondern als justus hostis, also als anerkannter und gerechten Feind ansehen. Er schreibt: „Der Grundsatz der juristischen Gleichheit der Staaten macht es unmöglich zwischen dem Staat, der einen gerechten, und demjenigen, der einen ungerechten Staatenkrieg führt, zu diskriminieren. Sonst würde ein Souverän zum Richter über den anderen, und das widerspricht der rechtlichen Gleichheit der Souveräne.“ (1)

Der Krieg verwandelte sich in einer Art des europäischen Staatenduells. Man sollte nicht solcher Analog übertrieben werden, meint Schmitt, aber wo das Duell als Institut anerkannt ist, liegt die Gerechtigkeit und die Qualität eines Duells bzw. des Krieges. Die Qualität der duellierten Personen basiert sich auf die „Einhaltung eines bestimmten Verfahren und insbesondere in der paritätischen Zuziehung von Zeugen. Schmitt konstatiert: „Das Recht ist hier ganz institutionelle Form geworden; es besteht darin, dass satisfaktionsfähige Ehrenmänner einen Ehrenhandel in vorgeschriebenen Formen vor unparteiischen Zeugen unter sich abmachen. Eine Herausforderung zum Duell ist infolgedessen kein Angriff und kein Verbrechern, ebensowenig wie es die Kriegserklärung ist. Derjenige, der einen anderen fordert, braucht keineswegs in der Sache der Angreifer zu sein.“ (2)

Es ist gelungen den europäischen Mächten im Rahmen des europäischen Bodens eine feste Struktur des Friedens gefunden, die Schmitt als ein Gleichgewichts-System bezeichnet. Es lag im Grunde der eurozentristischen Raumordnung und der Hegung des Krieges. Schmitt schreibt: „Es handelt sich nicht um eine politisch-propagandistische Bewertung dieser Gleichgewichtspolitik, sondern um die Erkenntnis, dass die Idee der Gleichgewichts in spezifischer Weise spatialen Gesichtspunkten entspricht und der Gedanke einer umfassenden Raumordnung in ihr zutage tritt. Darin liegt, trotz aller Kritik und trotz politischen Missbrauch, die große praktische Überlegenheit der Gleichgewichts-Vorstellung selbst, weil darin zugleich ihre Fähigkeit liegt, eine Hegung des Krieges zu bewirken.“ (3)

Dabei war für Schmitt die von der Raumordnung her sich durchsetzende Gemeinsamkeit wichtiger als alles, was über die Souveränität und Nicht-Intervention behauptet worden ist. Er schreibt: „Nicht die prekären Bindungen des ´sich selbst bindenden` souveränen Willen, sondern die Zugehörigkeit zu einem als gemeinsam empfundenen, raumhaften Gleichgewichts-System und die dadurch ermöglichte Hegung des europäischen Kriegen machten den eigentlichen Halt dieser völkerrechtlichen Ordnung aus.“ Eine solche völkerrechtliche Ordnung, ergänzt Schmitt, ist kein regelloses Chaos egoistischer Machtwillen: „Alle diese egoistische Machtgebilde existieren nebeneinander in dem gleichen Raum einer europäischen Ordnung, wo sie sich gegenseitig als Souveräne anerkennen und wo jeder dem anderen gleichberechtigt ist, weil und soweit er einen Bestandteil des Gleichgewichts-System bildet.“ (4)

„In der Zeit seit dem Frieden von Utrecht (1713) bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galt das Gleichgewicht der europäischen Mächte mit Recht als die Grundlage und die Garantie des europäischen Völkerrechts“, bekräftigt Schmitt seine These. „Alle Teilnehmer werden durch eine Veränderung oder Bedrohung des Gleichgewichtes betroffen, nicht nur unmittelbaren Vertragspartner.“ Alle Staaten sollten also an der Schaffung der Struktur der gemeinsamen Raumordnung beteiligen. Schmitt schreibt: „In der Geschichte des europäischen zwischenstaatlichen Völkerrechts sind alle großen Gebietsänderungen, Neubildungen von Staaten, Unabhängigkeits- und Neutralitätserklärungen als Kollektivverträge auf europäischen Konferenzen zustandegekommen oder wenigstens sanktioniert worden. Dauerende Neutralisierung von Staaten – der Schweiz 1815 und Belgien 1831/39 – sind vor allem Angelegenheiten von Kollektivverträgen der europäischen Großmächte, weil dadurch bestimmte Staatsgebiete einen besonderen völkerrechtlichen Bodenstatus erhalten, in dem sie aufhören, Kriegsschauplatz zu sein. Die Kollektivverträge der großen europäischen Friedenskonferenzen – 1648, 1713, 1814/15, 1856, 1878, 1885 (Kongo-Konferenz) – bestimmen die einzelnen Abschnitte der Entwicklung dieses Völkerrechts als einer Raumordnung.“ Diese europäischen Konferenzen zeigen, „dass dem zwischenstaatlichen Völkerrecht Europas eine umfassende europa-zentrische Raumordnung zugrunde lag, die für alle wichtigen Gebietsänderungen ihre Methoden und Formen in gemeinsamer Beratung und Beschlussfassung entwickelte und die Vorstellung eines Gleichgewichts einen guten Sinn gab“. (5)

Die führenden europäischen Mächte spielten in diesem gesamten Prozess eine führende Rolle, „weil sie an der gemeinsamen Raumordnung am stärksten beteiligt“ waren. Das heißt, sie müssten das Gleichgewicht bewahren und pflegen, um die Zerstörung der bestehenden Raumordnung zu vermeiden. Allerdings, so Schmitt, die Kriege zwischen solchen Großmächten könnten die Ordnung leicht sprengen, wenn sie nicht um einen freien Raum und nicht in einem freien Raum, wie es in der Epoche des Kolonialismus war, geführt sind. Schmitt bemerkt: „Solche Kriege werden dann total in dem Sinne, dass sie die Konstituierung einer neuen Raumordnung herbeiführen müssen.“ Es ist der Fall, wenn eine Großmacht die Gesamtordnung grundsätzlich verneint und beginnt, ihren eigenen Krieg zu führen. Schmitt meint dabei napoleonische Kriege und schreibt: „Das ist der Sinn einer Lehre, die vom europäischen Gleichgewicht ausging, wie sie das Völkerrecht des 18. Jahrhunderts beherrschte, und die dazu führte, dass Krieg gegen den Störer des Gleichgewichts als zulässig und diesem spezifischen Raumsinne „gerecht“ galten. In den napoleonischen Kriegen war dieses Gleichgewicht wirklich bedroht. Aber die Bedrohung wurde auf dem Wiener Kongress 1814/15 durch eine wohlgelungenen Restauration mit Wirkung bis 1914 überwunden.“ (6)

In der führenden Rolle der Großmächten sah Schmitt „dar Wesen einer Großmacht, sobald dieses Wort nicht nur allgemein eine große Macht, sondern in prägnanter Weise die ausgezeichnete Position in Rahmen einer bestehenden Ordnung bezeichnet, in der mehrere Großmächte als solche anerkannt sind“. Die Anerkennung als Großmacht durch eine andere Großmacht betrachtete er als höchste Form völkerrechtlichen Anerkennung. „So konnten im 18. Jahrhundert Russland und Preußen, im 19. Jahrhundert (1867) Italien neben die bisherigen Großmächte treten und als Großmacht anerkannt werden“, erinnert Schmitt. Dies war für neue anerkannte Großmacht von großer Bedeutung: Deutsche Reich und Italien haben z.B. das Recht der Teilnahme an europäischen Konferenzen und Verhandlungen und das Recht des Zugangs zu kolonialen Erwerbungen in Afrika und in der Südsee bekommen. „So ist die Anerkennung als Großmacht zu allen Zeiten ein ebenso wichtiges Rechtsinstitut des Völkerrechtes gewesen wie Anerkennung eines neuen Staat oder einer Regierung“, macht Schmitt die Schlussfolgerung. (7)

Aber Italien, Deutsche Reich und Russland waren nicht die einzigen Länder, die im 19. Jahrhunderten von europäischen Großmächten als neue Großmächte anerkannt wurden: Dazu gehörten auch die Vereinigte Staaten von Amerika (in das Jahr 1865 datiert) und Japan (sowohl in das Jahr 1884 nach dem Krieg mit China wie in der Zeit nach den russisch-japanischen Kriege 1904/05 datiert). Mit einer ostasiatischen Macht, so Schmitt, begann von Asien her der Übergang zu einer neuen, nicht mehr europa-zentrischen Weltordnung. In den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erscheinen auch andere nicht-europäische und nicht immer christliche Staaten in der Völkerrechtsgemeinschaft, zuerst die Türkei 1856, obwohl nur unter Kapitulationsverträgen. Die europäische Völkergemeinschaft hat also ihre Tür für die ganze Welt geöffnet: „Erst werden 25 souveränen Staaten von Europa, dann 19 von Amerika aufgezählt, dann folgen die Staaten in Afrika…“ (8)

Die Aufnahme neuer Länder in der europäischen Gemeinschaft ist zum großen Problem des europäischen Gleichgewicht-Systems, des europäischen Völkerrechts und überhaupt der gesamten Ordnung der Erde geworden. Schmitt schreibt: „Die Atmosphäre der ersten Haager Friedenskonferenz von 1899 war noch rein europäisch im Vergleich zu der zweiten Haager Konferenz von 1907. Diese zeigte schon augenfällig durch die Zahl und die Rolle amerikanischer und asiatischer Teilnehmer, dass in weniger als zehn Jahren ein großer Schritt von einem jus publicum Europaeum zu einem nicht mehr im bisherigen Sinne europäischen Völkerrecht getan war. Wie in einem Rausch befangen, glaubten die europäischen Diplomaten und Juristen immer noch Siege und Triumphe ihres europäischen Völkerrechts zu feiern. Aber die Füße derer, die sie hinaustragen sollten, standen schon vor der Tür.“ (9)

Der Triumph des jus publicum Europaeum war nur ein kurzes Fest: Es begann seine Auflösung, die Schmitt vom 1890 bis 1919 datiert. Der erste lange Schatten auf europäisches Völkerrecht, so Schmitt, war vom Westen her, also von amerikanischen Staaten von Amerika gefallen. Symbolisch war die Anerkennung von amerikanischer Regierung der Kongo-Gesellschaft (1884), gerade vor der Kongo-Konferenz von 1885, die als Symbol der letzten gemeinsamen Solidarität der europäischen Mächte von Schmitt vorgestellt wurde. Er schreibt: „Das war ein Präzedenzfall, der die Anerkennung eines neuen Staaten auf afrikanischen Boden einleitete und zur Folge hatte. Doch wurde es damals als eine periphere Angelegenheit empfunden. Trotzdem war es ein Symptom dafür, dass das bisherige spezifisch europäische Völkerrecht sich allmählich auflöste, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Untergang des jus publicum Europaeum in einem unterschiedslos universellen Weltrecht war nicht mehr aufzuhalten. Die Auflösung ins Allgemein-Universale war zugleich die Zerstörung der bisherigen globalen Ordnung der Erde. … An deren Stelle trat für mehrere Jahrzehnte ein leerer Normativismus angeblich anerkannter Regeln, der dem Bewusstsein der Menschen die Tatsache verschleierte, dass eine konkrete Ordnung bisher anerkannter Mächte zugrunde ging und eine neue noch nicht gefunden war.“ (10)

„Doch, meint Schmitt, schien das bei Beginn dieses Entwicklungsabschnittes, um 1890, kein schwieriges Problem zu sein. Man hatte, wie gesagt, immer nur eine unproblematisch gemeinsame europäische Zivilisation im Auge. Ein Afrikanisches Völkerrecht gab es nur in dem Sinn, dass der afrikanische Boden für europäische Mächte das Objekt einer gemeinsamen Landnahme war. Von einem Asiatischen Völkerrecht war damals nicht einmal der Möglichkeit nach die Rede.“ Die universalistischen Denkgewohnheiten waren damals zu stark, erinnert Schmitt, und schreibt: „Bis um 1890 herrschte die Auffassung, dass das spezifische europäische Völkerrecht ein allgemeines universales Völkerrecht ist. Das war auf dem europäischen Kontinent und insbesondere auch in Deutschland ganz selbstverständlich. Zwar waren es weltumfassende, universalistische Vorstellungen wie Menschheit, Zivilisation und Fortschritt, welche die allgemeinen Begriffe der Theorie und das Vokabularium der Diplomaten bestimmten. Aber gerade dadurch bleib das Gesamtbild zunächst durchaus europazentrisch, denn unter der Menschheit verstand man zuerst die europäische Menschheit, Zivilisation bedeutete selbstverständlich nur europäische Zivilisation, und Fortschritt war die gradlinige Entwicklung zu dieser Zivilisation.“ (11)

Die Folge sei, so Schmitt, dass die europäische Völkerrechtslehre gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Bewusstsein der Raumstruktur ihrer bisherigen Ordnung verloren. „Sie hat einen immer weiter, immer äußerlicher und immer oberflächlicher werdenden Universalisierungsprozess in der naivsten Weise für eine Sieg des europäischen Völkerrechts gehalten“, schreibt Schmitt, und ergänzt: „Die Juristen glaubten eine für Europa sehr schmeichelhafte Rezeption der Nichteuropäer zu erleben und haben nicht einmal bemerkt, dass sie alle Grundlagen einer Rezeption auflösten, weil die bisherige, gute oder schlechte, aber immerhin als eine gewisse konkrete Ordnung, d. h. vor allem als Raumordnung, wirklich vorhandene Hausgenossenschaft europäischer Fürstenhäuser, Staaten und Nationen verschwand, und zwar ersatzlos verschwand. Was an deren Stelle trat, war kein „System“ von Staaten- sondern ein raum- und systemloses Durch- und Nebeneinander faktischer Beziehungen, ein ungeordnetes, räumlich und geistig zusammenhangloses Durch- und Nebeneinander von über fünfzig heterogenen, angeblich gleichberechtigten, gleich-souveränen Staaten und ihren verstreuten Beziehungen, ein strukturloses Chaos, das keiner gemeinsamen Hegung des Krieges mehr fähig war und für das schließlich nicht einmal immer der Begriff „Zivilisation“ als Substanz einer gewissen Homogenität gelten konnte.“ (12)

Eine eröffnete Tür im Haus der europäischen Familie für nicht-europäische Staaten und Nationen, so Schmitt, bedeutete in Wirklichkeit keine bloß quantitative Ausdehnung und Erweiterung, sondern ein Übergang auf eine neue Ebene. Er schreibt: „Zunächst freilich war es ein Absturz in das Nichts einer raum- und bodenlosen Allgemeinheit. An die Stelle der überaus konkreten Ordnung des bisherigen jus publicum Europaeum trat auch nicht der Schatten einer neuen, konkreten völkerrechtlichen Raumordnung. Die Erklärung der Monroe-Doktrin hatte bereits im Jahre 1823 den Bereich der westlichen Hemisphäre der weiteren europäischen Landnahme entzogen. Das System des europäischen Gleichgewichts, in dem die Ordnung des 18. und 19. Jahrhunderts einen Ausdruck fand, ließ sich nicht einfach auf ein Welt-Gleichgewicht des Erdballs übertragen. Einen Augenblick allerdings hatte England den Anspruch angemeldet, die Mitte der Welt zu sein und aus dem Handhaber des bisherigen europäischen Gleichgewichts der Träger eines neuen, die Großräume balancierenden globalen Welt-Gleichgewichts zu werden.“ Doch dieses Ziel, so Schmitt, hat sich von der Insel England aus nicht verwirklichen lassen: „Für die große, globale Kraftleistung war die kleine europäische Insel anscheinend doch zu schwach. (13)

Diese Aufgabe hat bekanntlich die Vereinigten Staaten von Amerika übernommen. Mit ihrem Eintritt in den Ersten Weltkrieg verwandelte sich ein rein europäischer Krieg im Weltkrieg. Die Gleichheit der souveränen europäischen Staaten als Grunde des europäischen Friedens gerät in der Krise, und das europa-zentrische Gleichgewichts-System brach zusammen. Es wurde durch ein neues, auf die westliche Hemisphäre zugeschnittenes System ersetzt, das erstmals im Völkerbund erprobt wurde. Schmitt verwendet der Begriff „hegemoniales Gleichgewicht“, um die amerikanischer Erfahrung beim Aufbau des neuen Systems zu beschreiben. Es ist der Fall, behauptet Schmitt, wenn „die Hegemonie eines überragend Stärkeren viele Mittlere und Kleinere in Ordnung hält“. Neben der üblichen Idee des reinen Gleichgewichts-Föderalismus gibt Schmitt also auch die Idee eines hegemonialen Gleichgewichtes und hegemonialen Föderalismus zu, „wofür das Deutsche Reich der Konstruktion Bismarcks ein gutes Beispiel bietet“. (14)

Im Grunde des neuen Systems des hegemonialen Gleichgewichts lag die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit Amerikas auf den amerikanischen Kontinent. Hier versucht Amerika die Kriege zwischen amerikanischen Staaten, im Gegensatz zur in Kriegen versinkenden Europa, abzuschaffen. Schmitt schreibt: „Der Sinn dieses neuen Verfahren ist die Aufhebung der Ordnung und Ortung, die in der bisherigen Form des Staatsgebiets enthalten war. Durch alle Einzelheiten der neuen Herrschafts- und Kontrollmethoden hindurch ist ihr Wesensmerkmal erkennbar: die territoriale Souveränität verwandelt sich in einem leeren Raum für wirtschaftlich-soziale Vorgänge. Der äußerliche territoriale Gebietsbestand mit seinen linearen Grenzen wird garantiert, nicht aber der soziale und wirtschaftliche Inhalt der territorialen Integrität, ihre Substanz. Der Raum der ökonomischen Macht bestimmt den völkerrechtlichen Bereich.“ (15)

Schmitt beschrieb dieses System ausführlich genug, um seine Bedeutung für die weitere Entwicklung der Weltpolitik vorzustellen. Er schreibt: „Der Liga gehörten zahlreiche amerikanische Staaten an, die man als souveräne Staaten bezeichnet, die aber vor den Vereinigten Staaten abhängig sind und deren außenpolitischen Handel unter der Kontrolle der Vereinigten Staaten steht. Staaten wie Kuba, Haiti, San Domingo, Panama und Nicaragua waren Mitglieder der Genfer Liga. Sie waren aber nicht nur wirtschaftlich und nicht nur faktisch von den Vereinigten Staaten abhängig, sie lagen nicht nur in den Bereichen der Monroe-Doktrin und der sog. Karibischen Doktrin, sondern sie waren auch durch förmlichem ausdrückliche Verträge außenpolitisch gebunden. Verträge, wie sie die Vereinigten Staaten mit Kuba unter dem 22. Mai 1903 oder mit Panama unter dem 18. November 1903 abgeschlossen haben, sind typisch für die moderne Form einer Lenkung, deren ersten Kennzeichnen der Verzicht auf die offene, territoriale Annexion des gelenkten Staaten ist. Der territoriale Boden-Status des gelenkten Staates wird nicht in der Weise verändert, dass sein Land in Staatsgebiet des gelenkten Staates verwandelt wird. Wohl aber wird das Staatsgebiet in den spatialen Bereich des kontrollierenden Staates und dessen special interests, d. h. in seine Raumhoheit, einbezogen. Der äußere, entleerte Raum der territorialen Souveränität bleibt unangetastet, der sachliche Inhalt dieser Souveränität wird durch Sicherung des ökonomischen Großraums der kontrollierten Macht verändert. So entsteht der moderne Typus der völkerrechtlichen Interventionsverträge. Die politische Kontrolle und Herrschaft beruht hier auf Interventionen, während der territoriale Status quo garantiert bleibt. Der kontrollierende Staat hat das Recht, zum Schutz der Unabhängigkeit oder des Privateigentums, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit, zur Wahrung der Legitimität einer Regierung oder aus anderen Gründen, über deren Vorliegen er selbst nach seinem Ermessen entscheidet, in die Verhältnisse des kontrollierten Staaten einzugreifen. Sein Interventionsrecht ist durch Stützpunkte, Flotten- und Kohlenstationen, militärische Besetzungen, Landpachtungen oder in anderen Form nach innen und nach außen gesichert. Das Recht zur Intervention wird durch Vertrag und Vereinbarung anerkannt, so dass es möglich wird, zu behaupten, im rein juristischen Sinne liege hier überhaupt keine Intervention mehr vor.“ (16)

Es war gerade die Genfer Liga, wo mehrere amerikanischer Staaten als souveräne, gleichberechtigte Mitglieder in Genf gesessen haben, aber gleich von den Vereinigten Staaten abhängig waren und unter der Kontrolle der Vereinigten Staaten standen. Diese Staaten waren nur formell souverän: Sie waren dazu bestimmt, das Schicksal den Satelliten zu erleiden. Man kann also von einer modernen Form der Intervention sprechen, die – im Namen des Weltfriedens! – in Wirklichkeit nur dazu dient, die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten rechtlich zu rechtfertigen.

Die Frage ist aber, ob das hegemoniale Gleichgewichts-System genug effektiv ist, um die Kriege und Konflikte in der Welt einzuhegen. In der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 hat es schon seine Schwäche gezeigt: Die Pariser Friedenskonferenz 1918/19 und ein Jahr später gegründete Genfer Liga, die eigentlich den Weltfrieden gesichert sein sollten, in der Wirklichkeit den Weg zum neuen vernichtenden Zweiten Weltkrieg frei gemacht hatten. Wie es Schmitt bemerkt, die führende Weltmächte, darunter die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan, „waren nicht mehr wie die führende Großmächte des europäischen Völkerrechts, durch eine gemeinsame Raumordnung miteinander verbunden“. Alle Mächte verfolgten ihren eigenen „spezialen“ Interessen, ohne bindenden Charakter der gemeinsamen Ordnung im Blick zu haben. Schmitt beschreibt die neuen Situation folgendes: „Von den nichteuropäischen Räumen der Erde war auf den Konferenzen in Paris 1918/19 nur gelegentlich die Rede. Die außereuropäische Ordnung blieb stillschweigend außerhalb des Friedens. Auch die Freiheit der Meere, d. h. die Raumordnung der Erde außerhalb des festen Landes, wurde nicht als Problem behandelt, sondern unverändert vorausgesetzt, als habe sich die Raumordnung der Erde seit dem Frieden vom Utrecht (1713) und dem Wiener Kongress (1814/15) in nichts Wesentlichen geändert.“ (17)

Doch gerade in der Zeit, wenn die globale Raumordnung verletzt ist, ist, nach Schmitt, die Gleichgewichts-Vorstellung wichtig, „weil darin zugleich ihre Fähigkeit liegt, eine Hegung des Krieges zu bewirken“. Wie es Schmitt bemerkt, bedeutet das Wort und die Idee des Gleichgewichts auch heute für viele nichts anderes „als eine ausbalancierte Ordnung von Kräften und Gegenkräften im Allgemeinen, die zu einem Ausgleich gekommen sind“. „Infolgedessen, so Schmitt, kann das Bild vom Gleichgewicht der Kräfte auch dort verwendet werden, wo gerade raumhafte Vorstellungen ausgeschaltet sind.“ (18)

Das Problem des hegemonialen Gleichgewichtes ist hier offensichtlich. Zum Beginn des Zweiten Weltkrieges haben die Vereinigten Staaten von Amerika durch ihren Doktrinen die westliche Hemisphäre auf den ganzen Planet erweitert und den globalen Anspruch des Welt-Interventionismus erhebt. Es handelte sich aber nicht mehr um hegemoniales Gleichgewicht auf amerikanischen Kontinent, das eigentlich damals gut funktionierte, und nicht mehr um europäisches Gleichgewicht, das der britische Empire bis Ersten Weltkrieg gesichert hatte, sondern um ein planetarisches Gleichgewicht, also um einer globalen Weltordnung im Zeitalter, wenn viele neue souveräne Großmächte gewachsen sind, vorerst Deutschland und bolschewistisches Russland.

Die Frage, ob ein hegemoniales Gleichgewichts-System überhaupt funktionsfähig ist, bleibt bis heute offen. Die bipolare Ordnung des Kalten Krieges war gerade der Gegenteil dem hegemonialen Gleichgewicht: Sie wurde doch auf dem Prinzip des Gleichgewichts-Föderalismus gebaut, wo die Machtbalance der zwei gegenseitigen Imperien, also der amerikanischen und sowjetischen Weltmächte die Weltordnung gesichert und die Vernichtungskriege eingehegt hatte. Erst nach der Zerstörung der Sowjetunion wird diese Frage neue gestellt. Nun soll der Westen beweisen, dass von ihm erfundenes hegemoniales Gleichgewichts-System, das im Grunde des globalen Welt-Interventionismus gelegt wurde, doch besser ist als das schon erprobte und gut funktionierte Gleichgewichts-System des Jus Publicum Europaeum und der bipolaren Welt.

Heute, wenn die Konflikte und die Kriege kein Ende finden, wächst wider die Bedeutung des europäischen Prinzips der Hegung des Krieges mit ihrem erfolgreichen Gleichgewichts-System als Garantie des Weltfriedens: obwohl nicht als das Prinzip des zwischen-staatlichen Friedens des Jus Publikum Europaeum, sondern als Modell der Kriegsverhütung in einer multipolar gewordenen Welt. In dieser neuen Welt sind die Großmächte gleichberechtigte Akteure und anerkannte justus hostis, also sie übernehmen die Rolle von wirklich souveränen Staaten des Jus Publicum Europaeum. Nicht die Abschaffung, sondern die Hegung des Krieges wird wieder zum Wesen des neuen Völkerrechts. Der Krieg selbst wird nicht mehr illegal, sollte aber durch die Regeln und Methoden auf der Basis der Gleichberechtigung von allen Beteiligten eingehegt werden. Die Weltmächte müssen dafür sorgen, dass die Akte der Aggression nicht zu großen Angriffskriegen eskalieren. Usw. In dieser Weltordnung ist das amerikanische hegemoniale Gleichgewichts-System obsolet, unabhängig von allen Bemühungen des Westens zu beweisen, dass nur in einer einheitlichen liberal-demokratischen Welt einen echten Weltfrieden ohne Chaos und Anarchie geschafft werden könnte.

Auch die andere Rechtsinstitute, Regeln und Methoden des Jus Publicum Europaeum, die vierhundert Jahren dem Frieden aufrichtig und in gutem Glauben dienten, sollten wichtige Bestandteile der neuen Weltordnung werden, wie die Neutralität als Rechtsinstitution und die Treue großer Politiker zu ihren Worten.

1. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde, S. 114-115, 138.

2. Ebenda, S. 114-115.

3. Ebenda, S. 161.

4. Ebenda, S. 137, 139.

5. Ebenda, S. 162.

6. Ebenda, S. 132, 158.

7. Ebenda, S. 163-164.

8. Ebenda, S. 163, 206.

9. Ebenda, S. 202-204.

10. Ebenda, S. 200.

11. Ebenda, S. 201, 204.

12. Ebenda, S. 206-207.

13. Ebenda, S. 210-211.

14. Ebenda, S. 161.

15. Ebenda, S. 225-226.

16. Ebenda, S. 225.

17. Ebenda, S. 213.

18. Ebenda, S. 161.