Die Ausgrenzung der Welt auf „Freund“ und „Feind“ ist das schwerste Erbe der westlichen Zivilisation

Schon die ersten Kämpfte um der Neuen Welt, die die europäischen Landnehmer unter sich führte, machten notwendig eine gewisse Teilungen und Einteilungen. Sie waren die Folge einer bestimmten Denkweise, die Schmitt als globales Liniendenken charakterisiert. Es hat seine eigene Entwicklungsgeschichte.

Die ersten, unmittelbar nach der Entdeckung Amerikas globalen Linien wurden vom Papst gezogen, bekannt als spanisch-portugiesischen Verteilungslinien, den Rayas. Schmitt schreibt: „Zur Raya gehört, dass sich zwei Fürsten, die beide die gleiche geistige Autorität auch völkerrechtlich anerkennen, über den Erwerb des Landes andersgläubiger Fürsten und Völker einigen. … Die Raya setzt also voraus, dass christliche Fürsten und Völker das Recht haben, sich vom Papst einen Missionsauftrag geben zu lassen, auf Grund dessen sie nicht-christliche Gebiete missionieren und im weiteren Verlauf der Mission okkupieren.“ Diese Tätigkeit stützte sich stets auf die schiedsrichterliche Autorität des Papstes, der sich das Recht anmaßte, die Boden nicht-christlichen Fürsten und Völker von dem der Christen zu unterscheiden. (1)

Diese spanisch-portugiesische Verteilungslinien, die Raya, wurden später durch französisch-englische Freundschaftslinien ersetzt, den amity lines. Nach Schmitt war es einen großen geschichtlichen Wandel. Diese Freundschaftslinien betraf ebenfalls die europäische Land und Seenahme der Neuen Welt, aber sie beruhte auf ganz anderen Voraussetzungen. Sie gehörte, so Schmitt, wesentlich in das Zeitalter der Religionskriege zwischen den landnehmenden katholischen und protestantischen Seemächten und wurden zunächst nur mündlich, durch Geheimklausel vereinbart. Während des 17. Jahrhunderts waren Freundschaftslinien ein wichtiger Bestandteil des damaligen europäischen Völkerrechts.

Für diese Epoche, erklärt Schmitt, bleibt der Grundsatz in Kraft, „dass Verträge, Frieden und Freundschaften sich grundsätzlich nur auf Europa, d. h. auf die alte Welt, auf den Bereich diesseits der Linie beziehen.“ Allgemein bekannt ist, dass die Linien besonders den englischen „privateers“, also den englischen Freibeuterschiffen ein freien Feld für ihre Beutezüge eröffnete. Aber selbst Spanier haben geltend gemacht, „dass die sonst gültige Verträge in „Indien“ nicht gelten, weil dieses eine „Neue Welt“ ist“. Auch die französische Regierung „bei ihrer rein politischen Haltung in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts allen Grund“ hatte, sich auf die „Linie“ zu berufen, obwohl sich beim Kampf gegen gefährlichen Ketzern, wilden Piraten und Filibusters mit dem katholischen König von Spanien koalierte. (2)

Nun beschreibt Schmitt den völkerrechtlichen Sinn der Freundschaftslinien des 16. und 17. Jahrhunderts: „An dieser „Linie“ endete Europa und begann die „Neue Welt“. Hier hörte das europäische Recht, jedenfalls das „europäische öffentliche Recht“ auf. Hier endete infolgedessen auch durch das bisherige europäische Völkerrecht bewirkte Hegung des Krieges und wurde der Kampf um die Landnahme hemmungslos. Jenseits der Linie beginnt eine „überseeische“ Zone, in der mangels jeder rechtlichen Schranke des Krieges, nur das Recht des Stärkeren galt. Die typische Besonderheit dieser Freundschaftslinien bestand darin, dass sie, ganz anders als die Raya, einen Kampfraum zwischen den landnehmenden Vertragspartner ausgrenzten, eben weil diesen jeder andere gemeinsame Voraussetzung und jede gemeinsame Autorität fehlte. Das einzige, worüber die europäischen Partner solcher Beziehungen praktisch einig waren, war die Freiheit der neuen Räume, die jenseits der Linie begannen. Die Freiheit bestand darin, dass die Linie einen Bereich freier und rücksichtsloser Gewaltanwendung ausgrenzte. Sie unterstellte zwar als selbstverständlich, dass nur christlich-europäische Fürsten und Völker sich an der Landnahme der Neuen Welt beteiligen und Partner solcher Verträge sein könnten; aber die darin liegende Gemeinsamkeiten der christlichen Fürsten und Nationen enthaltet weder eine gemeinsame, konkret-legitimierende, schiedsrichterliche Instanz, noch ein anderes effektiven Okkupation. Daraus musste die allgemeine Vorstellung entstehen, dass alles, was „jenseits der Linie“ geschieht, überhaupt außerhalb der rechtlichen, moralischen und politischen Bewertungen bleibt, die diesseits der Linie anerkannt sind.“ (3)

Der Gedanke der Ausgrenzung einer „vom Recht ausgenommenen Sphäre der Gewaltanwendung“, so Schmitt, entspricht einer Gedankenweise, „die zwar sehr alt ist, die aber bis in die neueste Zeit hinein in typischer Weise englisch blieb, während sie dem staatsbezogenen Rechts- und Gesetzesdenken der kontinental-europäischen Nationen immer fremder wurde“. Der praktischen Sinn solcher Ausgrenzung bestand darin, „der Bereich des europäischen öffentlichen Rechts als einer Sphäre des Friedens und der Ordnung„ zu entlasten. Dadurch würde die Vorgänge jenseits der Linie nicht so unmittelbar gefährdet, wie das ohne eine solche Ausgrenzung der Fall gewesen wäre. Nun macht Schmitt eine wichtige Schlussfolgerung: „Die Ausgrenzung einer außereuropäischen Kampfzone diente also der Hegung des europäischen Krieges. Das ist ihr völkerrechtlicher Sinn und ihre Rechtfertigung.“(4)

Gleichzeitig entwickelte sich die moralische Argumentation der Ausgrenzung, um die unmenschlichen Praktiken des Kolonialismus zu rechtfertigen. Schmitt lädt zum Wort den bekannten spanischer Humanist Juan Ginés de Sepúlveda (1494-1573), der die Eingeborenen als Wilde und als Barbaren hinstellte, „um sie, unter Berufung auf Aristoteles, mit dieser Begründung rechtlos und ihr Land zum Objekt einer freien Landnahme zu machen“. Der Aristoteles Satz, dass barbarische Völker „von Natur Sklaven“ sind, wurde damals oft zitiert. Außerdem, ergänzt Schmitt, gleich zu Beginn der Conquista ist geltend gemacht worden, „dass die Indianer Götzenanbeter, Menschenopferer, Kannibalen und Verbrecher aller Art seien.“ Bekannter Sepúlvedas Satz lautet: „Die Spanier stehen über die Barbaren wie der Mensch über dem Affen.“ (5)

Das war damals übrige Argumentation. Schmitt schreibt: „Alle christlichen Theologen wussten, dass auch die Ungläubigen, Sarazenen und die Juden Menschen sind und doch beruhte das Völkerrecht der Republica Christiana, mit seinen tiefen Unterscheidungen verschiedener Arten der Feinde und infolgedessen auch des Krieges, auf tiefen Unterscheidungen zwischen den Menschen und auf einer großen Verschiedenheit ihres Status.“ Den praktischen Sinn der Argumentation, bei derer den Indianer die Eigenschaft von Menschen abgesprochen war, bestand darin, „einen Rechtstitel für die große Landnahme und die Unterwerfung der Indianer zu gewinnen“. Solche im Prinzip inhumane Argumentation, so Schmitt, findet ihre klassische Formulierung bei dem englischen Philosophen Francis Bacon, der sagt, die Indianer seinen als Kannibalen „von der Natur selbst proskribiert“, also von der Natur geächtet sind. „Sie stehen außerhalb der Menschheit, hors I’humanite, und sind rechtlos.“ (6)

Für Schmitt ist es aber keineswegs paradox, „dass gerade Humanisten und Humanitäre solche inhumanen Argumente vorbringen.“ Dazu schreibt er: „Denn die Idee der Humanität hat zwei Seiten. Sie ist einer oft überraschenden Dialektik fähig. Wegen des wichtigen Zusammenhanges mit dem Zwei-Seiten-Aspekt der Humanitätsidee erinnern wir hier daran, dass eben derselbe Bacon dem Satz „homo homini lupus“ („Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“, Anm. d. Autors) den Satz „homo homini Deus“ („Der Mensch ist ein Gott für den Menschen“, Anm. d. Autors) entgegenstellt hat. Im deutschen humanitären 18. Jahrhundert hätte man wahrscheinlich für diesen anderen Aspekt der Humanität das Wort „Unmensch“ gebraucht. (7)

Mit dem Wort „Unmensch“ steigert sich damals die diskriminierende Aufspaltungskraft der humanitären Ideologie. Schmitt schreibt: „Die Aufspaltung in Menschen und Unmenschen hatte natürlich einen politischen Sinn und konnte sich nicht ohne Grund auf die Politik des Aristoteles berufen. Sie war in dieser Ausdrucksweise und Steigerung nicht mehr christlich, sondern setzte sich erst mit dem Sieg einer Philosophie der absoluten Humanität im 18. Jahrhundert durch. Erst mit dem Menschen im Sinne der absoluten Humanität erscheint nämlich, als die andere Seite desselben Begriffs, sein spezifischen neuer Feind, der Unmensch. Der Absetzung des Unmenschen vom Menschen folgte dann in der Geschichte der Menschen im 19. Jahrhundert eine noch tiefere Aufspaltung, die des Übermenschen vom Untermenschen. Wie der Mensch den Unmenschen, so bringt der Übermensch mit dialektischer Notwendigkeit gleich den Untermenschen als einen feindlichen Zwilling mit sich in der Geschichte der Menschheit.“ (8)

Um zu sehen, wie fest der Dualismus des absoluten Humanismus in der europäischen Politik verankert war, reicht es aus, nur ein Beispiel zu nennen, das Schmitt vielleicht nicht bewusst war: Die Hungersnot in Bengalen 1943, die als die größte humanitäre Katastrophe in Britisch-Indien im 20. Jahrhundert gilt und von 1,5 bis 4 Millionen Leben von Menschen kostete. Dabei wurde insbesondere dem damaligen britischen Premierminister Winston Churchill vorgeworfen, sich gegenüber dem Elend in Bengalen gleichgültig gezeigt oder es sogar wissentlich in Kauf genommen zu haben. Seiner Geringschätzung für die Inder gab Churchill gegenüber einer englischen Politiker Ausdruck, die als kurze Übersetzung auf Deutsch lautet: „Ich hasse Inder, sie sind ein tierisches Volk mit einer tierischen Religion. Die Hungersnot sei ihre eigene Schuld und eine Folge davon, dass sie sich wie die Karnickel vermehren.“ (9)

Die dritte globale Verteilungslinie bekam ihren eigenen Name: „westliche Hemisphäre“. Schmitt schreibt: „Mit der westlichen Hemisphäre wurde den europäischen Linien des globalen Weltbildes eine neue, nicht mehr europa-zentrische, sondern, im Gegenteil, das alte Europa in Frage stellende, globale Linie entgegenstellt. Die öffentliche Geschichte dieser neuen Linie beginnt erst mit der Proklamation der sog. Monroe-Doktrin im Dezember des Jahres 1823.“ Nach Schmitt gehören seitdem Monroe-Doktrin und westliche Hemisphäre zusammen. Die Vereinigten Staaten von Amerika konstruierte sich völkerrechtlich als „eine Zone der Selbstverteidigung“, um „das politische System der westlichen Hemisphäre, als eine Regime der Freiheit, dem andersgearteten politischen System der damaligen absoluten Monarchien Europas“ entgegenzustellen. Nicht gegen Asien oder Afrika, sondern gegen Europa richtet sich zuerst diese Abgrenzungslinie: Die gesamte amerikanische Kontinent wird zum Bereich der „Raumhoheit der Vereinigten Staaten von Amerika“ – als „Protest gegen weitere europäische Landnahmen auf amerikanischen Boden“. (10)

Aber, so Schmitt, das bedeutete nicht etwa einen Verzicht darauf, was zum Bereich der europäischen Zivilisation gehört. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich vielmehr von Anfang an gerade als Träger europäischer Zivilisation und europäischen Völkerrechts gefühlt. Auch die damals entscheidenden ibero-amerikanischen Staaten zählten sich selbstverständlich zur „Familie der europäischen Nationen“. Die globale Linie der westlichen Hemisphäre könnte also nur in einem bestimmten Sinne als anti-europäisch bezeichnet werden, in einem Sinne, in dem sie den moralischen und kulturellen Anspruch enthalten, „das freie, echte und eigentliche Europa zu sein“. Die Abgrenzungslinie der westlichen Hemisphäre war also in spezifischer Weise eine Isolierungslinie, „nämlich eine Selbstisolierungslinie“. (11)

Um solche Denkweise zu formulieren, zitiert Schmitt die Aussagen von einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, ihren dritten Präsident Jefferson. Am Anfang des Jahres 1812, im vollen Hass gegen England und Verachtung des alten Europa, sagte er: „Das Schicksal Englands ist nahezu entschieden, und die gegenwärtige Form seiner Dasein neigt ihrem Untergange zu. Wenn unsere Stärke uns erlauben, unserer Hemisphäre das Gesetz aufzuerlegen, so sollte es darin bestehen, dass der Meridian, der mitten durch den Atlantischen Ozean läuft, die Demarkationslinie zwischen Krieg und Frieden bildet, diesseits derer keine Feindseligkeiten begangen werden und der Löwe und das Lamm in Frieden nebeneinander ruhen sollen.“ (12)

Die Ideen Jefferson, betont Schmitt, sollen hier nicht übertreiben werden, aber die geschichtliche und weltpolitische Charakter einer derartigen Isolationslinie und das Bewusstsein der Auserwähltheit der calvinistischen Puritaner dürfen nicht unerwähnt bleiben. Schmitt schreibt: „Die Eroberung Amerikas durch die Europäer im 18. Jahrhundert, die große Landnahme amerikanischen Bodens, die bisher von katholischen und protestantischen Eroberern als eine Mission des christlichen Glaubens gerechtfertigt worden war, erscheint jetzt in humanitären Perspektiven als eine unmenschliche Gräueltat. … Die amerikanische Erklärungen der Menschenrechte dagegen werden als eine Art Neugeburt der Menschheit aufgefasst.“ (13)

Immer wird, betont Schmitt, wie auch in der Monroe-Botschaft selbst, der Ausdruck „westliche Hemisphäre“ in der Weise gebraucht, dass die Vereinigten Staaten sich mit allem identifizierten, was moralisch, kulturell oder politisch für Substanz dieser Hemisphäre gehört. Und dies, obwohl selbst für Hobbes, den Philosophen des 17. Jahrhunderts, Amerika noch ein Bereich des Naturzustandes im Sinne eines vorstaatlichen, freien Kampfes der egoistischen Interessen war.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gehen die Philosophen der französischen Aufklärung dazu über, das freie, unabhängige Nordamerika als den Bereich einer wiederum anderen Art von Naturzustand anzusehen, nämlich als Naturzustand im Sinne Rousseaus, d. h. als einen von der Korruption des überzivilisierten Europa noch unberührten Boden. Schmitt schreibt:„So wurde Amerika für das europäische Bewusstsein zum zweiten Male ein Raum der Freiheit und der Natürlichkeit, dieses Mal jedoch mit einem positiven Inhalt, der auch der amerikanischen Isolation einen positiven Inhalt gab. Es war eine grundsätzliche Isolation, die einen Bereich des gesicherten Friedens von einem Bereich des Despotismus und der Korruption trennt. Sie muss auch völkerrechtlich in einer anderen Lage sein als die korrupte alte Welt, die bisher der Mittelpunkt, Träger und Schöpfer des europäisch-christlichen Völkerrechts, des jus publicum Europaeum war.“ (14)

Nach Schmitt wäre es aber zu wenig gesagt, dass Amerika als Asyl der Gerechtigkeit und Tüchtigkeit bezeichnete. Er schreibt: „Vielmehr liegt der eigentliche Sinn dieser Auserwähltheitslinie darin, überhaupt erst auf amerikanischem Boden die Bedingungen gegeben sind, die als normale Situation sinnvolle Haltung und „habits“, Recht und Frieden ermöglichen. Im alten Europa, wo ein Zustand der Unfreiheit herrscht, kann auch ein im Wesen und Charakter guter und anständiger Mensch zum Verbrecher und zum Übertreter der Gesetze werden. In Amerika dagegen wird die Unterscheidung von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, von anständigen Menschen und Verbrechern, nicht durch falsche Situation und falsche „habits“ verwirrt. … Der neue Westen erhebt den Anspruch, der wahre Westen, der wahre Occident, das wahre Europa zu sein. Der neue Westen, Amerika, will den bisherigen Westen, Europa, aus seiner bisherigen weltgeschichtlichen Verortung, aus bisherigen Mitte der Welt verdrängen.“ (15)

Doch zum Ende des 19. Jahrhunderts „erschienen die außenpolitische Signale, dass die Welt als Wendung zum Imperialismus verstand“. Schmitt schreibt: „Dieser hielt sich nicht an die alten kontinentalen Vorstellungen von der westlichen Hemisphäre, sondern griff auch tief in den pazifischen Ozean hinein und nach dem alten Osten. Für die weiten Räume Asiens trat an die Stelle der veralteten Monroe-Doktrin die Forderung der offenen Tür.“ Die kontinental begrenzten Linien der westlichen Hemisphäre standen nicht mehr im Einklang mit den neuen globalen Herausforderungen. Es wächst das globale Bewusstsein Amerikaner, geprägt von „den wachsenden räumlichen und politischen Dimensionen eines solchen globalen Liniendenkens und modernen industriell-wirtschaftlicher Großraumbildung“. Das ändert auch die Grenze der amerikanischen Auserwähltheitslinie, die im Anspruch genommen hat, auf den amerikanischen Kontinent eine Zone des Rechtes, des Frieden und der Freiheit zu schaffen. Wie es Schmitt bemerkt: „Der Anspruch Amerikas, die neue, nicht korrupte Welt zu sein, war im 19. Jahrhundert nach Bewusstwerdung eines globalen Erdbildes erhoben werden.“ (16)

Die westliche Hemisphäre wird also zur neuen globalen Linie und sollte seinen alten Charakter einer Isolationslinie überwinden. Schmitt beschreibt diese Wende als „eine Dialektik von Isolation und Intervention, deren Dilemma sich mit jedem weiteren Schritt der geschichtlichen Entwicklung steigert“. Erstes Mal war dieses Dilemma nach dem Sezessionskrieg von 1861-64 sichtbar, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika „ihr altes Überlegenheitsgefühl gegenüber den europäischen Großmächten zurückgewonnen hatten“. Die Isolation des amerikanischen Kontinents vom alten Europa ging mit intensiven Eingriffen in die umliegenden Regionen einher. Zweitens Mal „äußerte sich das ungelöste Dilemma in einer Mischung von Anwesenheit und Abwesenheit“ der amerikanischen Politik in Europa seit 1890 bis 1939, also in der Zeit der Zerstörung der bestehenden Weltordnung des Jus Publikum Europaeum, die „zum Schicksal der Genfer Liga geworden ist“. Während des ersten Weltkrieg 1914-1918 bewegte es die Politik des amerikanischen Präsident Woodrow Wilson, die sich „zwischen den beiden Extremen von Selbs-Isolierung und Welt-Intervention„ befangen, „bis sie mit ungeheurer Wucht auf die Seite des Interventionismus fiel“. (17)

Die Genfer Liga war Wilsons „eigenen Lebenswerk“, der sein „Ideal einer universalen, erdumfassenden Liga des Weltfriedens“ verwirklichen sollte. Doch das Ideal scheiterte vor der geschichtlichen Entwicklung der Dialektik von Isolation und Intervention. Um das zu beweisen, zitiert Schmitt zwei Wilsons Erklärungen aus 1914 und 1917 Jahren. In seiner Rede vom 19. August 1914, also gleich nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, „bekannte er sich feierlich zu dem Ideal einer absoluten, rigorosen, ja skrupelhaften Neutralität“. Amerikaner müssen unparteiisch sein in Gedanken und Taten und „jede Handlung vermeiden, die als Bevorzugung irgendeiner der kämpfenden Parteien ausgelegt werden kann“. Das war Wilsons feste Haltung, mit der er im November 1916 zum zweiten Male zum Präsidenten gewählt wurde. Aber in der Erklärung vom 2. April 1917 „änderte er in aller Form und Öffentlichkeit diesen Standpunkt und sagte, nicht nur die Zeit, sondern auch das Zeitalter der Neutralität sei vorüber, und der Friede der Welt und die Freiheit der Völker rechtfertige den Eintritt in einem Europäischen Krieg. Nach Schmitt, „erst dadurch ist der Ersten Weltkrieg aus einem europäischen Krieg alten Stils zu einem Welt- und Menschheitskrieg geworden.“ (18)

Eine Mischung von offizieller Abwesenheit und effektiver Anwesenheit in Genf war aber, nach Schmitt, nicht nur aus den persönlichen Eigenarten des Präsident Wilson zu erklären. Schmitt schreibt: „Der Schlüssel zu ihrem Verständnis liegt in der Trennung von Politik und Wirtschaft, eine Trennung, die von Vereinigten Staaten behauptet und von Europa anerkannt wurde. Die Trennung schien ja der berühmten, traditionellen und typischen Maxime zu entsprachen: Soviel Handel wie möglich und so wenig Politik wie möglich. Das bedeutete nach Innen die Herrschaft einer staatsfreien Wirtschaft und einer im gleichen Sinne freien Gesellschaft über den Staat. Nach Außen enthielt es nicht etwa eine Verzicht auf Schutzzölle, Protektionismus und Wirtschaftsautonomie – die Außenhandelspolitik der Vereinigten Staaten war vielmehr durch eine hochprotektionistische Zollpolitik gekennzeichnet -, sondern es bedeutet eine indirekte Methode der politischen Beeinflussung, deren wichtigstes Kennzeichen darin liegt, dass sie sich auf den freien, d. h. staatsfreien Handel und den ebenso freien Markt als Verfassungsstandart des Völkerrechts beruft und unter Inanspruchnahme von offener Tür und Meistbegünstigung über die politisch territorialen Grenzen hinweggeht.“ (19)

„Die offizielle Abwesenheit, so Schmitts Schlussfolgerung, war also im Sinne der Trennung von Politik und Wirtschaft eine nur politische Abwesenheit, die nicht-offizielle Anwesenheit dagegen eine außerordentlich effektive, nämlich wirtschaftliche Anwesenheit und nötigenfalls auf politische Kontrolle.“ Solche Trennung von Politik und Wirtschaft wird als das letzte Wort menschlichen Fortschritts, als Kriterium des modernen Staates und der Zivilisation überhaupt betrachtet, aber, so Schmitt, „in Wirklichkeit war sie durch den Primat ökonomische Motive verwirrt und vermehrte sie nur die Unordnung, die das ungelöste Raumordnungsproblem der Erde herbeiführte.“ (20)

Um zu verdeutlichen, „dass es sich bei dem Umschwung von der Isolation zur Intervention um objektive Kräfte und Tendenzen, nicht etwa nur um die persönlichen Meinungen und individuellen Schwankungen Wilsons handelt“, verweist Schmitt auf eine auffällige Wiederholung der gleichen Situation, nur nicht 1917, sondern 1939. In der amtlichen Neutralitätserklärung vom 5. September 1939 bekennt sich die Vereinigten Staaten von Amerika „offiziell zu dem alten Neutralitätsbegriff des zwischenstaatlichen Völkerrechts, zu strengster Unparteilichkeit und gleicher Freundschaft mit allen kriegsführenden Parteien“. Parallel erklärte der damalige amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt in seiner Rede vom 5. Oktober 1937 in Chicago, „dass man der internationalen Anarchie und Gesetzlosigkeit, die sich heute in der Welt zeige, nicht durch bloße Isolierung und Neutralität entgegen könnte“. (21)

Später, am 31. März 1941, wurde auf der Pressekonferenz im Weißen Haus „die Todeserklärung der alten Isolierung und Neutralität“ offen verkündet: „Ich leugne nicht, sagt der Sprecher der Regierung der Vereinigten Staaten, dass sich im 19. Jahrhundert besondere Neutralitätsregeln herausgebildet haben, die auf dem Gedanken der Neutralität beruhen, und das diese Regeln durch die verschiedene Haager Konferenzen ergänzt wurden. Die Anwendung dieser Regeln hat sich jedoch überlebt. Die Ereignisse seit dem Weltkrieg haben ihnen ihre Gültigkeit genommen“. (22)

Die Entwicklung der alten Isolations- und Neutralitätspolitik zur Interventionspolitik sind gut in den amerikanischen Doktrinen und Erklärungen nachvollziehbar. Schmitt hebt die Bedeutung von vier solchen Dokumenten hervor: Tobar-Doktrin 1907, Briand-Kellogg-Pakt 1928, Stimson-Doktrin 1932 und Erklärung von Panama 1939. Er schreibt: „Nach der sog. Tobar-Doktrin die einer Vereinbarung der mittelamerikanischen Republiken Costa-Rica, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Salvador vom 20. Dezember 1907 zugrunde lag, soll keine Regierung eines anderen Staates anerkannt werden, die durch einen Staatsstreich oder eine Revolution zur Macht gelangt ist, solange sie nicht durch eine freigewählte verfassungsmäßig organisiert ist. Damit war die demokratische Erscheinungsform der Legalität und Legitimität zum völkerrechtlichen Standard erklärt. Die Praxis des Präsidenten W. Wilson hat diesen Standard demokratischer Legalität für den Bereich der westlichen Hemisphäre zum völkerrechtlichen Grundsatz erhoben. Danach werden nur solche Regierungen anerkannt, die im Sinne einer demokratischen Verfassung legal sind. Was demokratisch und legal in concreto bedeutet, wird in der Praxis selbstverständlich von der anerkennenden Regierung selbst, also hier von der Regierung der Vereinigten Staaten definiert, interpretiert und sanktioniert. Offensichtlich hat eine solche Doktrin und Praxis der Anerkennung neuer Regierungen interventionistischen Charakter. Für die westliche Hemisphäre führt sie im Ergebnis dazu, dass die Regierung in Washington jeden Verfassungs- und jeden Regierungswechsel eines anderen amerikanischen Staates effektiv kontrollieren kann. Solange sich die Vereinigten Staaten auf die alte westliche Hemisphäre beschränken, bezieht sich das nur auf diesen Großraum. Es betrifft aber jeden anderen Staat der Erde, sobald sie den globalen Anspruch des Welt-Interventionismus erheben.“ (23)

Mit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 änderte sich der Weltaspekt des Völkerrechts. Schmitt schreibt: „Jetzt trat die westliche Hemisphäre auf den Plan und bestimmte den weiteren Sinnwandel des Krieges.“ Die amerikanische outlawry of war, also die Ächtung und Verurteilung des Krieges, die ursprünglich als Ideal der Freiheit und des Friedens auf der amerikanischen Kontinent – im Gegengewicht zu einer von den Kriegen zerrütteten Europa – zu verstehen war, sollte nun für die ganze Erde gelten. Sie hatte den Sinn, „die große Entscheidung über die Zulässigkeit eines Weltkrieges auch gegenüber der Genfer Liga und gegenüber England und Frankreich, den beiden die Genfer Liga beherrschenden europäischen Mächten, in der Hand der Vereinigten Staaten zu halten“. (24)

Die Stimson-Doktrin 1932 (bekannt auch als Hoover-Stimson-Doktrin) knüpft juristisch an den Kellogg-Pakt von 1928 an. Schmitt schreibt: „Danach behält sich die Regierung der Vereinigten Staaten für alle Teile der Erde das Recht vor, Besitzänderung, die durch unrechtmäßige Gewalt zustandegekommen sind, die „Anerkennung“ zu versagen. Das bedeutet, dass die Vereinigten Staaten, über die Unterscheidung von westlicher und östlicher Hemisphäre hinweg, den Anspruch erheben, über Recht und Unrecht jeder Gebietsänderung auf der ganzen Erde zu entscheiden. Ein solcher Anspruch betrifft die Raumordnung der Erde. Jeder Vorgang an irgendeinem Punkt der Erde kann die Vereinigten Staaten angehen.“ (25)

Schmitt zitiert die Worte des Präsidenten Hoover (1928), die von Außenminister Stimson bei der Begründung seiner Doktrin in den Mittelpunkt gestellt worden: „An act of war in any part of the world ist an act that ihjures the interests of my country.“ (von eng.: „Eine Kriegshandlung in irgendeinem Teil der Welt ist eine Handlung, die die Interessen meines Landes verletzt.“) Zur völkerrechtlichen Bedeutung der Doktrin schreibt Schmitt: „Die Praxis des jus publicum Europaeum suchte die Konflikte im Rahmen eines Gleichgewichtssystem zu erfassen; jetzt werden sie im Namen der Einheit der Welt universalisiert.“ In diesem neuem Gesichtspunkt sah Schmitt die Rechtfertigung den Interventionen, „die alle wichtigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten der Erde erfassen“. Dadurch wurde den Übergang von Selbst-Isolierung zur Welt-Intervention vollendet. Wie es Schmitt feststellt: „Damals, bei Beginn des Sezessionskrieges, waren die Vereinigten Staaten ganz in einer sich isolierten Defensive. Die Erklärung von 1932 dagegen stellt ihre neue Doktrin auf interventionistische Basis.“ (26)

Eine besondere Rolle spielte die Erklärung von Panama vom 3. Oktober 1939. Schmitt schreibt: „Innerhalb einer durch diese Erklärung bestimmten Sicherheitszone zum Schutz der der Neutralität amerikanischen Staaten sollen die Kriegsführenden keine feindlichen Akten vornehmen. Die Linie dieser Sicherheitszone erstreckt sich zu beiden Seiten der amerikanischen Küsten bis auf 300 Seemeilen in den Atlantischen und in den Pazifischen Ozean hinein.“ Es war eine neue Art von Raumausgrenzungen aus dem freien Meer als Kriegsschauplatz. Schmitt schreibt: „Früher dachte man, wenn man vor den Monroe-Doktrin sprach, im allgemeinen nur an das feste Land westlichen Hemisphäre und setze für den Ozean die Freiheit der Meere im Sinne des 19. Jahrhunderts voraus. Jetzt werden die Grenzen Amerikas auch auf die See erstreckt.“ Es war, nach Schmitt, eine neue, moderne Form der Seenahme und der Beseitigung früherer Seenahme. (27)

Für Schmitt ist die Entwicklung der westlichen Hemisphäre von Selbst-Isolierung zum Welt-Intervention nicht anderes, als der Ausdruck des Problems des neuen Nomos der Erde, das in der sogenannten imperialistischen Ära, also seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden hat. Damals wurde die Welt von wachsendem globalem Bewusstsein geprägt, „entsprechend den wachsenden räumlichen und politischen Dimensionen eines solchen globalen Liniendenkens und moderner industriell-wirtschaftlicher Großraumbildung.“ In dieser Ära, so Schmitt, „befand sich die westliche Hemisphäre in eine ungeheuerliche Alternative“, und zwar „zwischen einer in immer neuen Ansätzen sich bildenden Pluralität von Großräumen und einem globalen Weltanspruch, zwischen Monismus und Pluralismus, Monopol und Polypol.“ Wie es Schmitt bemerkt, die Dialektik dieser Widersprüche ist allen Historiker, Juristen und Wissenschaftler aufgefallen, die die Entwicklung der westlichen Hemisphäre seit 1890 beobachtet hatten. Um zu unterstreichen, wie groß diese Dialektik für die Entwicklung der Welt ist, schreibt Schmitt: „Die Widersprüche stammen aus der ungelösten Problematik einer Raumentwicklung, die den Zwang enthält, entweder der Überhang zu begrenzbaren, andere Großräume neben sich anerkennende Großräumen zu finden oder aber den Krieg des bisherigen Völkerrechts in einen globalen Weltbürgerkrieg zu verwandeln.“ (28)

Das Problem des neuen Nomos der Erde ist also hier von Schmitt als Konflikt zwischen zwei möglichen Entwicklungen der westlichen Hemisphäre seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dargestellt: Monismus oder Pluralismus, Monopol oder Polypol, ein globalen Weltanspruch Amerikas mit daraus folgendem Weltbürgerkrieg oder doch die Anerkennung, neben sich, den anderen Großräumen. In der Tat haben wir es mit zwei Logiken der Entwicklung der modernen Weltordnung zu tun: unipolare oder multipolare Welt, Vorherrschaft einer Supermacht Amerika oder Gleichgewicht von mehreren Großräumen. Die Schmitts skeptische Frage, ob der Planet reif ist für das globale Monopol einer einzigen Supermacht, bleibt dabei die wichtigste.

Die amerikanische Doktrinen und Erklärungen in der Zeit von 1890 bis 1939 deutlich zeigen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika die erste Variante ausgewählt hatte. Dadurch transformierte die westliche Hemisphäre – diese neue globale Linie – von Selbst-Isolierung zur globalen Welt-Intervention. Doch diese Entwicklung trägt mit sich ein Problem, das in einer globalen Welt von immer wachsenden anderen Großräumen zu schwer auszulösen ist. Schmitt schreibt: „Eine globale Linie, die die Welt nach gut und schlecht in zwei Hälften einteilt, stellt eine Plus- und Minus-linie moralischer Bewertung dar. Sie enthält eine fortwährender Absage an den anderen Teil des Planeten, solange sie sich nicht mit völliger Beziehungslosigkeit verbindet.“ (29)

Das ist genau das Problem, mit dem Amerika konfrontieren sollte, als sie ihrer Anspruch, die neue Welt zu sein, auf der ganze Planet erstreckt hatte: Nicht alle wachsende Großmächte waren bereit, sich mit amerikanischen Supermacht zu verbinden. Das ist zum globalen Herausforderung Amerikas geworden, die von ihr die Entwicklung von effektiven Mechanismen und Methoden der Welt-Intervention forderte, um die Welt im Namen der Einheit zu universalisieren bzw. der ganze Planet frei, demokratisch und friedlich zu machen. Man könnte sogar von der Geburt eines neuen normativen Projekts des Westens sprechen, wie es in den amerikanischen Doktrinen und Erklärungen von 1890 bis 1939 zum Ausdruck kam.

Die amerikanische Politik in Europa, geprägt von Dilemma zwischen Selbst-Isolierung und Welt-Intervention, war nicht genug effektiv, um die Widersprüche, die „aus der ungelösten Problematik einer Raumentwicklung“ stammten, aufzulösen. Wie es Schmitt ausdrücklich zeigt, „äußerte sich das ungelöste Dilemma in einer Mischung von Anwesenheit und Abwesenheit“ Amerikas in Europa und ist „zum Schicksal der Genfer Liga“ geworden. Und fügt hinzu: „Die Vereinigten Staaten von Amerika als führende Macht waren in Genf offiziell nicht anwesend, aber doch achtzehn amerikanische Staaten waren in Genf anwesend.“ Im Ergebnis gelingt der Genfer Liga nicht, den Zweiten Weltkrieg als globaler Vernichtungskrieg zu hegen.

Die Truman-Doktrin 1947 steht nicht in der Liste von Schmitt untersuchten Dokumenten, obwohl sie zur logischen Folge der Entwicklung der westlichen Hemisphäre von Selbs-Isolierung zum Welt-Intervention gehört. Im amerikanischen Programm, das der Präsident Truman am 12. März 1947 vor beiden Häusern des Kongresses angekündigt hat, begriffen sich die USA als Hüter der freiheitlichen Gesellschaftsordnung gegen kommunistische Bedrohungen. Truman sagte: „Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt – und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation.“ Demokratieförderung wird also zum Kampfbegriff der Welt-Intervention. Truman betont: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte muss fast jede Nation zwischen alternativen Lebensformen wählen. Nur zu oft ist diese Wahl nicht frei. Die eine Lebensform gründet sich auf den Willen der Mehrheit und ist gekennzeichnet durch freie Institutionen, repräsentative Regierungsform, freie Wahlen, Garantien für die persönliche Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit und Freiheit von politischer Unterdrückung. Die andere Lebensform gründet sich auf den Willen einer Minderheit, den diese der Mehrheit gewaltsam aufzwingt. Sie stützt sich auf Terror und Unterdrückung, auf die Zensur von Presse und Rundfunk, auf manipulierte Wahlen und auf den Entzug der persönlichen Freiheiten. Ich glaube, es muss die Politik der Vereinigten Staaten sein, freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Ich glaube, wir müssen allen freien Völkern helfen, damit sie ihre Geschicke auf ihre Weise selbst bestimmen können.“ (30)

Die berühmte Rede des britischen Premierministers Winston Churchill zum Eisernen Vorhang (1946) und die Truman-Doktrin ebnen den Weg für den Kalten Krieg. Die berühmte Rede des britischen Premierministers Winston Churchill zum Eisernen Vorhang (1946) und die Truman-Doktrin ebnen den Weg für den Kalten Krieg. Man kann sagen, dass es sich um die offizielle Ankündigung der Geburt des neuen normativen Projekts des Westens handelt, nun aber unter ganz neuen Konstellationen: Die USA hat als erstes Land in ihre Hände die Atom-Waffe bekommen und sie sogar in Hiroshima und Nagasaki erprobt. Es wäre ein überzeugender Argument bei der Realisierung des normativen Projektes des Westens, hätte Sowjetunion in einer kürzeren Zeit keine eigene Atom-Programm entwickelt: Am 29. August 1949 wurde sowjetische Atombombe erfolgreich getestet.

Im Kalten Krieg wurden die globalen Widersprüche, die sich aus dem ungelösten Problem der räumlichen Entwicklung ergaben, durch die Aufteilung der Welt in Einflusszonen zweier anerkannter Supermächte – der USA und der UdSSR – in die Zukunft verlagert. Nach 1989/90 scheint Kommunismus besiegt zu werden, aber die globale Widersprüche sind geblieben und stellten vor der Amerika die alte Problematik der Raumentwicklung: Neben sich die andere wachsende Großräume anzuerkennen oder doch ihrer Anspruch, die neuen Welt zu sein, endlich zu verwirklichen.

Der unglaublich schnelle Zerfall des kommunistischen Blocks gab dem Westen die Illusion, sein normatives Projekt problemlos zu realisieren. Doch die wachsenden Großräume, wie früher, zeigen keine Bereitschaft, im westlichen Projekt freiwillig zu beteiligen. Der Planet ist noch nicht reif für ein globales irdisches Universum, und wird noch lange nicht reif. Wie es Schmitt vorausgesagt hat, verwandelt sich dann „den Krieg des bisherigen Völkerrechts in einen globalen Weltbürgerkrieg“. Unter dem bisherigen Völkerrecht ist heute die nach Jalta-Konferenz bestehende Weltordnung zu verstehen, die aber seit 1989/90 von Westen in Frage gestellt wurde. Als „globaler Weltbürgerkrieg“ könnten man die zahlreiche Bürgerkriege vorgestellt werden, die in allen – ohne Ausnahme! – Ländern ausgebrochen wurden, die mit der westlichen Demokratisierung kennengelernt haben.

Die westliche Hemisphäre steht also wieder von der „ungeheuerlichen Alternative“ und sucht für ihre globale Linie die neuen Feinden, um die Welt „nach gut und schlecht in zwei Hälften“ einzuteilen. Statt pro-kommunistischen Regimen kommen nun die autoritären und anti-demokratischen Regime. Das globale Liniendenken realisiert sich in der Ausgrenzung den west-liberalen Demokratien von der anderen Welt, unter dem Motto: „Konsolidierte Demokratien fuhren keine Kriege gegeneinander.“ Die Kampfzone, wo die Gewaltanwendung nach dem Recht des Stärkeren rechtfertigen und legitimieren lässt, liegt jenseits dieser Freundschaftslinie, also außerhalb des Westens. Dadurch trägt in sich die Demokratieförderung die Rechtfertigung der Kampfansage an allen, die mit dem normativen Projekt des Westens nicht einverstanden sind und amerikanischer Weltherrschaftsanspruch nicht akzeptieren.

Aber eine solche Politik stößt einmal mehr auf die rein amerikanische Dialektik von Isolation und Intervention, ein Dilemma, das im so genannten „Trumpismus“ seinen Ausdruck findet. Die von Donald Trump benutzte Motto „America First!“ entstand bekanntlich in der Epoche der Selbst-Isolierung und betont den amerikanischen Nationalismus, den Anti-Interventionalismus und die Auserwähltheit. Nach Schmitt, dieses Dilemma kann sich „mit jedem weiteren Schritt der geschichtlichen Entwicklung“ nur steigern. Das heißt, dass die alte amerikanische Dialektik von Isolation und Intervention noch keinen Endstation erreicht hat: Sie wird voraussichtlich sogar zur Kernfrage der Innen- und Außenpolitik Amerikas in der Epoche der Suche nach neuem Nomos der Erde.

Das Freund-Feind-Schema, das im Zwei-Seiten-Aspekt der absoluten Humanität des 18. Jahrhunderts seinen höchsten Ausdruck bekommen und in der westlichen Zivilisation tiefe Wurzeln geschlagen hat, realisiert sich heute nicht nur in der Ausgrenzung Christen von Nicht-Christlichen, Europa von Neuen Welt, Zivilisation von Barbarei, Menschen von Unmenschen oder Demokratien von Nicht-Demokratien: Es frisst auch die westliche Zivilisation von innen auf. Ein reines Beispiel dafür ist die Spaltung der deutschen Gesellschaft unter der Berufung der Impfpflicht oder des Kampfes gegen Rechtsextremismus. Schmitt untersucht nicht die Rassentheorien, aber eine klassische Definition des Rassismus, die zum Beispiel das Internet-Plattform „Stiftung gegen Rassismus“ mit Hilfe der Argumentation von englischer Soziologe Stuart Hall (1932-2014) präsentiert, ist mit der Schmitts Problemstellung des Liniendenkens fast identisch.

Beim Rassismus, Stuart Hall, ,,handelt es sich um Markierung von Unterschieden, um sich gegenüber anderen abzugrenzen, soziale, politische und wirtschaftliche Handlungen zu begründen und für sich einen privilegierten Zugang zu materiellen, ökonomischen, politischen und symbolischen Ressourcen zu sichern. Im Kontext des Kolonialismus ist diese „Rasse“-Konstruktion offensichtlich: Sie musste eine Erklärung dafür gefunden werden, warum die Europäer einem großen Teil der Weltbevölkerung den Status des Menschseins absprachen, und sogar in der Epoche der Aufklärung, wenn alle Menschen als frei und gleich erklärt wurden? Es war zuerst ein biologisches Merkmal, die Hautfarbe, das zur Markierung der Fremdgruppe verwendet wurde. Heute sind soziale, kulturelle und religiöse Unterschiede im Gebrauch. Wenn die Unterschiede als „naturgegeben“ und statisch gedacht werden, nehmen sie leicht den Platz von „Rasse“ ein und funktionieren in derselben Logik. Dabei hat Rassismus immer etwas mit Macht zu tun: Sie muss bestimmte Menschen abwerten und benachteiligen, um davon die Privilegien zu erhalten. „Die Rassentheorie ist als ideologisches Konzept entstanden, um Verletzungen der Menschenrechte und Herrschaftsansprüche zu rechtfertigen“, so ist der Verdikt von Stuart Hall. (31)

Es scheint so, dass die Freund-Feind-Schema nicht nur ein Phänomen des Politischen ist, wie es Schmitt in seiner Freund-Feind-Theorie vorgestellt hat, sondern neigt zur Phänomen der westlichen Zivilisation zu werden. Die Ziehung von Freundschaftslinien ist historisch und nach Maßstab größer als die Unterscheidung der Menschen nach ihrer Zugehörigkeit zum politischen Einheit. Das Liniendenken ist also zum schwersten Erbe der westlichen Zivilisation geworden, das den Westen daran hindert, das Existenz von anderen wachsenden Zivilisationen neben sich anzuerkennen.

1. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Duncker&Humbolt GmbH, Berlin, 5. Auflage 2011, S. 55-59.

2. Ebenda, S. 59-61.

3. Ebenda, S. 62.

4. Ebenda, S. 66.

5. Ebenda, S. 71.

6. Ebenda, S. 72-75.

7. Ebenda, S. 72.

8. Ebenda, S. 72-73.

9. https://de.wikipedia.org/wiki/Hungersnot_in_Bengalen_1943

10. Ebenda, S. 226, 256, 261.

11. Ebenda, S. 261-262.

12. Ebenda, S. 262.

13. Ebenda, S. 263-264.

14. Ebenda, S. 263-264.

15. Ebenda, S. 264-265.

16. Ebenda, S. 267-268, 270-271.

17. Ebenda, S. 270-271.

18. Ebenda, S. 227, 271-272.

19. Ebenda, S. 228-229.

20. Ebenda, S. 228-229.

21. Ebenda, S. 272-273.

22. Ebenda, S. 273.

23. Ebenda, S. 281-282.

24. Ebenda, S. 255, 272.

25. Ebenda, S. 283-284.

26. Ebenda, S. 284.

27. Ebenda, S. 257-258.

28. Ebenda, S. 271.

29. Ebenda, S. 270.

30. https://de.wikipedia.org/wiki/Truman-Doktrin#cite_ref-1

31. Shop – Materialien 20/21 / Stiftung gegen Rassismus (stiftung-gegen-rassismus.de), beim Suchbegriff „Was ist Rassismus?“