Die Welt ist noch nicht reif für ein universelles Völkerrecht

Die Perspektivlosigkeit des Universalismus im Völkerrecht zeigte Schmitt auf dem Beispiel der turbulenten Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Der damaligen Vorstellung eines raumlos globalen Universalismus, so Schmitt, entsprach „ein freier Welthandel und Weltmarkt, mit Freizügigkeit des Goldes, des Kapitals und der Arbeit.“ Eine kommerzielle Globalität war dem allgemeinen europäischen Denken geläufig. Schmitt fügt hinzu: „Die zahlreichen, auch damals bereits offensichtlichen Hindernisse und Einschränkungen der liberalen Wirtschaft, Schutzzollsysteme und Protektionismus aller Art, wurden als bloße Ausnahmen empfunden, die den ewigen Fortschritt und sein Endergebnis nicht in Frage stellten. In der herrschenden Stellung Englands und in dem eigentlichen Interesse am freien Welthandel und freien Seeverkehr lag eine starke Garantie für ein derartiges Weltbild. Über, unter und neben staatlich-politischen Grenzen eines scheinbar rein zwischen-staatlichen politischen Völkerrechts verbreitete sich, alles durchdringend, der Raum einer freien, d. h. nicht-staatlichen Wirtschaft, die eine Weltwirtschaft war. In der Idee einer freien Weltwirtschaft lag nicht nur die Überwindung der staatlich-politischen Grenzen. Sie enthielt auch, als wesentliche Voraussetzung, eine Standard für die innerstaatliche Verfassung der einzelnen Mitglieder, dieser Völkerrechtsordnung: sie setzte voraus, dass jedes Mitglied ein Minimum von konstitutioneller Ordnung bei sich einführte. Dieses Minimum bestand in der Freiheit, d. h. Trennung einer staatlich-öffentlichen Sphäre von dem Bereich des Privaten, vor allem in der Nicht-Staatlichkeit von Eigentum, Handel und Wirtschaft.“ (1)

Solche Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht wurde zum Normalstatus des innerstaatlichen Lebens erhobt. Es handelte sich um einen liberalen Konstitutionalismus, der zum europäischen Verfassungsstandart geworden war. Schmitt schreibt: „Am Ende des 19. Jahrhundert, zu der Zeit, als die Haager Landkriegsordnung entstand, galt der liberale Konstitutionalismus als identisch mit Verfassung und Zivilisation im europäischen Sinne.“ Bei den Kriegen wurde dieser innerstaatlichen Verfassungsstandart für beide kriegsführenden Seiten, für Okkupanten wie auch für Okkupierten, „stillschweigend, oft auch ausdrücklich, völkerrechtlich allgemein vorausgesetzt“. Die Eingriffe in das Privateigentum des okkupierenden Staates wurden ausgeschlossen. Es entstand ein Rechtsinstitut occupatio bellica, die kriegerische Okkupation, die keine Souveränitätswechsel oder Regimewechsel voraussah. „Sie war, so Schmitt, keine Landnahme mehr und bewirkte keinen Gebietswechsel, sondern eine bloß provisorische und bloß faktische Inbesitznahme des Bodens und der auf ihm befindlichen Diene, sowie eine ebenso provisorische und faktische Unterwerfung der auf dem okkupierten Boden befindlichen Menschen, ihrer Verwaltung und Justiz.“ (2)

Der Bereich des nicht-staatlich Privaten umfasste vor allem die Wirtschaft. Schmitt schreibt: „Die durchgängige, anerkannte Wirtschaftsverfassung schafft einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Im 19. Jahrhundert war das die Ordnung der freien, sich selbst steuernden Wirtschaft. Die Schutzzölle dieser Zeit haben die Grundtatsache einer gemeinsamen freien Wirtschaft nicht aufgehoben. Hier bildet sich also von der Wirtschaft her ein eigener völkerrechtlicher Raum, ein gemeinsamer freier Markt, die über die politischen Grenzen der souveränen Staaten hinwegging. Verfassungsrechtlich gesprochen, war allen Staaten dieser Völkerrechtsordnung ein bestimmtes Verhältnis von öffentlichem und privatem Recht, von Staat und staatlicher Gesellschaft gemeinsam.“ (3)

Allerdings, so Schmitt weiter, wurde gerade in dieser Zeit eine scharfe Trennung von Innen und Außen, also von innerstaatlichen Recht und Völkerrecht in der juristischen Darstellungsweise herrschend und üblich. Diese Trennung, bemerkt Schmitt, entsprach dem staatsbezogenen Denken eines wesentlich staatlichen Beamtentums, dessen Denkweise das öffentliche Recht beherrschte, während der freie Kaufmann die Welt als sein Feld betrachtete. Schmitt schreibt: „So bestand im 19. Jahrhundert im europäischen Völkerrecht neben dem eigentlich zwischen-staatlichen, nach Innen und Außen dualistisch unterschiedlichem Recht, ein gemeinsames Wirtschaftsrecht, ein internationales Privatrecht, dessen gemeinsamer Verfassungsstandart (die konstitutionelle Verfassung) wichtiger war als die politische Souveränität der einzelnen (politisch, aber nicht wirtschaftlich) in sich geschlossenen Flächenordnung.“ (4)

Es handelt sich um ein internationales Recht des freien Handels und freien Wirtschaft, das sich mit der vom englischen Weltreich interpretierenden Freiheit der Meere verbunden war. Diese beiden Freiheiten, die weit stärker als die zwischenstaatliche Souveränität gleichberechtigter Staaten waren, bestimmten, nach Schmitt, die Wirklichkeit des europäischen Völkerrechts im 19. Jahrhundert. Das stellte England in eine besondere Position: Es lehnte in seiner Rechtsordnung common law den Dualismus von öffentlichem und privatem Recht ab und „könnte unmittelbar mit dem privaten, staatsfreien Bestandteil jedes europäischen Staates in unmittelbare Verbindung treten.“ Die Bedeutung des internationalen Wirtschaftsrechts als konstitutionelles Minimum für die britische Herrschaft in Europa ist hier offensichtlich. Wie es Schmitt formuliert: „Je schärfer nun vom Öffentlichen her der scharfe Dualismus von Innen und Außen die Türen verschloss, um so wichtiger wurde es, dass im Bereich des Privaten die Türen offen bleiben und eine über die Grenzen hinweggehende Durchgängigkeit des privaten, insbesondere des wirtschaftlichen Bereichs bestehen blieb. Davon hing die Raumordnung des jus publicum Europaeum ab.“ (5)

Seit der Mitte des 19. Jahrhundert, so Schmitt, versuchte die Wissenschaft sogar das internationale Privatrecht ganz von völkerrechtlichen Begriffen zu lösen. Er schreibt: „Sie ging scheinbar ihren eigenen Weg und trennte sich als isolierte juristische Spezialität vom Völkerrecht ab. In Wahrheit hat sich schließlich nichts anderes getan, als das sie positivistisch werden wollte und sich auf eine rein nationale, d. h. einzelstaatliche, gesetzliche Grundlage zu stellen suchte.“ (6)

Am wichtigsten ist hier der Appell an den Positivismus. Schmitt als Jurist hatte seine eigene, im Prinzip kritische Beziehung zum diesen Begriff. Das Problem der positivistischen Rechtswissenschaft bei der Lösung von vielen rechtlichen Problemen sieht er in der Natur der positivistischen Methode, „die infolge ihrer Abhängigkeit von staatlichen Rechtssetzungswillen sowohl vor völkerrechtliches wie vor verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten versagt“. Das bestimmt ihre Schwäche: „Sie stellt dann meistens einfach ab und erklärt die Frage für nicht juristisch, sondern politisch“. (7)

Auch der staatsbezogene Gesetzespositivismus, der die Juristen zum Ende des 19. Jahrhundert beherrschte, war für Schmitt „nicht mehr imstand, die begrifflichen Werkzeuge zu liefern, mit denen man die Wirklichkeit eines solchen Durcheinander von einzelstaatlicher Souveränität und überstaatlichen freier Wirtschaft zu einleuchtenden Institutionen hätte gestalten können.“ Noch weniger erfolgreich wirkte Positivismus außerhalb Europa. Schmitt schreibt: „Die allgemeine Bewegung zur Freiheit, eine Aufhebung traditioneller Ortungen und in diesem Sinne eine totale Mobilmachung intensiver Art, eine allgemeine Entortung, hob die europazentrische Welt aus den Angeln und stürzte sie in andere Kraftströme, in denen sich der staatsbezogene Gesetzespositivismus der innerstaatlich ganz hilflos zeigte.“ Der Dualismus von zwischen-staatlichem und international-wirtschaftlichen Recht blieb also unbeachtet. Schmitt resümiert: „Gerade hier, in der Wirtschaft, verlor die alte Raumordnung der Erde offensichtlich ihre Struktur.“ (8)

„Was jetzt als Völkerrecht, genauer als International Law rechtswissenschaftlich behandelt wurde, war keine konkrete Raumordnung mehr“, schreibt Schmitt. „Es war – von speziellen technischen Materien abgesehen – nichts als eine Reihe von Generalisierungen zweifelhaften Präzedenzfälle, die meistens auf völlig entschwundenen oder völlig heterogenen Situationen beruhten, kombiniert mit mehr oder weniger allgemeinen anerkannten Normen, die umso allgemeiner und umso lebhafter „anerkannt“ waren, je umstrittener ihre Anwendung auf den in concreto streitigen Fall war.“ Die völkerrechtlichen Präzedenzfälle wurden ohne jede raumhafte Bestimmung verwendet, das heißt, dass alles, was sich in Europa zwischen Schweden und Norwegen ereignete, „sollte ohne weiteres ein Präzedenzfall für die Regierungen zwischen Japan und Mexiko sein“. Die fundamentalen Vorbehalte des Völkerrechts, die eigentlich die internationalen Verhältnisse zwischen Vertragspartnern rechtlich sichern sollten, „verwandelten die schönsten Vereinbarungen in eine bloße Fassade“. Schmitt schreib sogar über eine „völlig nihilistische Inflation zahlloser, sich widersprechender und durch offene oder stille Vorbehalte gänzlich entleerter Pakte“. (9)

Nach Schmitt haben die Juristen dieses Zeitabschnittes das neue globale Problem überhaupt nicht beachtet, obwohl von deutschen Vertreter der Nationalökonomie bereits um 1900 in aller Klarheit gestellt wurde, etwa in der Frage: Universalismus oder Pluralismus der Weltwirtschaft? Schmitt schreibt: „Juristisch schien es jetzt nur noch eine einzige, nichts mehr unterscheidende, internationale Völkerrechtsgemeinschaft zu geben, die communauté inetmationale mit einigem, noch noicht effektiv okkupierten, staatsfreien Boden in der Arktis und einigen noch staatsfreien Beduinenstämmen“. Es fehlte nicht an anderen großen Problemen, die damals entstanden hatten, etwa die Unterscheidung von universalem und partikulärem Völkerrecht oder die Bedeutung der Monroe-Doktrin für neues Raumproblem. „Aber, so Schmitt, die damaligen Juristen des Völkerrechts haben die darin liegende eigene Abdankung schließlich sogar noch für Positivismus erklärt. Alle echte Probleme, politische, wirtschaftliche und Raumverteilungs-Fragen, wurde damit als unjuristisch außerhalb des Juristischen, d. h. außerhalb ihres eigenen wissenschaftlichen Bewusstseins verwiesen.“ (10)

Der Universalismus im Völkerrecht t stößt sich also auf die gleiche Frage, welche Schmitt für eine einheitliche Weltmacht formuliert hat: Ist der Planet reif für ein solches globales Monopol? Im Falle der Völkerrechtes hört sich das so an: Ist der Planet reif für das globalen Monopol eines einzigen, grundlegend liberalen konstitutionellen Minimum als Verfassungsstandart? Die Reaktion von damaligen Juristen, die die bevorstehende große Probleme als unjuristisch erklärt und sie in dem Positivismus abgelegt haben, war für Schmitt eine bittere Erkenntnis. Am Ende des 16. Jahrhunderts, bemerkt er, hatte den Theologen seines Zeitalters zugerufen, um eine selbstständige Rechtswissenschaft des jus gentium, also „Recht der Völker“ zu begründen. Dreihundert Jahre später, am Ende des 19. Jahrhunderts, „legte sich die Rechtswissenschaft durch das, was sie für juristischen Positivismus hielt, selber Schweigen auf zu allen großen Rechtsfragen der Zeit“. Die daraus abgeleitete These Schmitts ist heute von entscheidender Bedeutung: „Mit dieser Abdankung des Völkerrechts taumelte Europa in einen Weltkrieg, der den alten Erdteil aus der Mitte der Erde entthronte und die bisher gelungene Hegung des Krieges beseitigte.“ (11)

Heute, angesichts der totalen Politisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – von Sport, Medizin und Kultur bis hin zu Wirtschaft, Bildung und Forschung – klingt das wie eine weitere Warnung Schmitts an die kommenden Generationen: Wenn die Rechtswissenschaft der Politik Platz macht, wird es Krieg geben. Der Westen hat wieder einmal Gefallen daran gefunden, sich zweifelhafter Präzedenzfälle zu bedienen, das Völkerrecht durch sie zu ersetzen und selbst die schönsten Abkommen in eine bloße Fassade zu verwandeln. In der modernen Sprache nennt man das regelbasierte Ordnung.

1. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde, S. 208.

2. Ebenda, S. 178, 181.

3. Ebenda, S. 169.

4. Ebenda, S. 185.

5. Ebenda, S. 183-185.

6. Ebenda, S. 209.

7. Ebenda, S. 180.

8. Ebenda, S. 209-210.

9. Ebenda, S. 207, 211-212.

10. Ebenda, S. 207, 211-212.

11. Ebenda, S. 212.