Verteidigungs- und Resilienzstrategie ist ein neues Wort für die Kriegsführung in der Ukraine, um ihrer Zukunft willen. Sie beruht nicht auf dem Mythos eines bevorstehenden Sieges der Ukraine über Russland, sondern auf der Tatsache, dass die Ukraine keine Chance hat, einen Krieg gegen ein viel mächtigeres Russland zu gewinnen. Dennoch sollten die Ukrainer so lange wie möglich kämpfen, um vor den Friedensgesprächen, die eines Tages stattfinden werden, eine günstigere Position einzunehmen. Die Aufgabe des Westens besteht darin, die Ukraine bei diesem Vorhaben aktiv zu unterstützen, auch finanziell, militärisch und politisch.
Eine solche Strategie für die Zukunft der Ukraine fordert PRIF Blog, der anlässlich des zweijährigen Jubiläums des Beginns der russischen Spezialoperation in der Ukraine einen Artikel mit dem Titel „Was in der Zukunft der Ukraine liegt: Plädoyer für eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie“ veröffentlichte. (1) Die Vorsilbe „Blog“ auf der Seite eines der führenden deutschen Forschungsinstitute auf dem Gebiet von Krieg und Frieden sollte niemanden verwirren. Auf den Seiten des PRIF-Blogs veröffentlichen Wissenschaftler des Peace Research Institute Frankfurt (Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung) Texte zu aktuellen Problemen des Krieges und Friedens. Natürlich geben die Autoren dieses Blogs einen Haftungsausschluss ab: „Die Beiträge geben nicht die Institutsmeinung, sondern lediglich die Meinung der jeweiligen Autor*innen wieder.“ (2) Doch überraschenderweise heißt die erste deutsche Nationale Sicherheitsstrategie, die von der Bundesregierung im Juni 2023 verabschiedet wurde, „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland“. (3) Mit anderen Worten: Die deutsche Strategie basiert auf denselben konzeptionellen Begriffen (Resilienz, Verteidigung), die auch von den Mitarbeitern des Instituts verwendet werden.
Aus Versehen? Nein, natürlich nicht. Um zu verstehen, woher der Wind weht, genügt es, den wissenschaftlichen Status des Autors des Artikels auf der Seite des PRIF-Bloges nennen: „Dr. Jonas J. Driedger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programmbereich „Internationale Sicherheit“ am PRIF sowie am Forschungszentrum Transformations of Political Violence (TraCe). Er forscht zu zwischenstaatlichen Kriegen, Abschreckung in den internationalen Beziehungen, Beziehungen zwischen Großmächten und ihren Nachbarstaaten sowie russischer und transatlantischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“ Es ist nicht nötig zu erraten, wessen politische Interessen dieser Wissenschaftler als Spezialist für internationales Recht vertritt. Die von ihm skizzierte Strategie, die von vornherein diplomatischen Druck auf die Kiewer Regierung ausschließt, um sie zu Friedensgesprächen an den Verhandlungstisch zu bringen, bedeutet für die Ukrainer wie auch für die russische Bevölkerung nichts anderes als die Ausstellung einer Sterbeurkunde, um einige höhere Ziele zu erreichen, die übrigens von den Strategen aus der Wissenschaft selbst formuliert sind.
Artikel-Themen: Vorgeschichte des Ukraine-Konfliktes / Logik der einzigen Supermacht Amerikas / Brzezinskis Fehler, der auf das Beste hoffen lässt / Zweckmühle-Spiel als neue Taktik im Ukraine-Konflikt / Recht im Dienste der Politik
Vorgeschichte des Ukraine-Konfliktes
Diese Vorgeschichte hat zwei Dimensionen: taktische und strategische. Die strategische Dimension des Ukraine-Konflikts geht auf die Kolonialzeit zurück, als sich England zu einem großen Empire entwickelte. Eine solche Annahme mag seltsam erscheinen, aber sie entspricht voll und ganz der von Carl Schmitt in seiner Erzählung „Land und Meer“ (1942) beschriebenen Formel der Weltentwicklung, die heute kaum jemand in Frage zu stellen wagt. (S. auch: Carl Schmitts Formel der Weltentwicklung)
Seemacht ist Weltmacht, wenn man dem berühmten Satz des berühmtesten englischen Seefahrers, Sir Walter Raleigh, glauben darf: „Wer das Meer besitzt, besitzt den Handel der Welt, und wer den Handel der Welt beherrscht, dem gehören alle Schätze der Welt und tatsächlich die Welt selbst.“ Der absoluten britischen Weltherrschaft stand jedoch der größte Kontinent der Welt, Eurasien, im Wege, der der vollständige Kolonisierung durch europäische Nationen entgangen war. Kontinentale Mächte wie Japan, China und vor allem Russland verhinderten schon durch ihre bloße Existenz, dass England sich als planetarische Weltmacht betrachten konnte. Die Landmächte Eurasiens wurden zu natürlichen Feinden der britischen Seemacht, was die Geopolitik als große Theorie Weltmachteroberung und Weltmachtsicherung begründete. Die Konfrontation zwischen Land und Meer wurde als Kampf zwischen dem mächtigen Walfisch Leviathan, der das britische Empire verkörperte, und dem ebenso mächtigen Landtier Behemoth, das das Gebiet Eurasiens besetzte, dargestellt: Der Behemoth bemühe sich, den Leviathan mit den Hörnern oder Zähnen zu zerreißen. Der Leviathan dagegen hakte mit seinen Fischflossen dem Landtier Maul und Nase zu, so dass es nicht essen und nicht atmen kann. Es ist leicht zu erkennen, dass im Kampf zwischen Land und Meer der Leviathan immer als Angreifer und der Behemoth als Verteidiger auftritt.
In seinem Bestreben, Eurasien zu unterwerfen, wurde das britische Empire durch die Kolonisierung Indiens, die Opiumkriege mit China, die Feldzüge in Afghanistan und das „Great Game“ mit Russland „berühmt“. Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann Englands Macht zu schwinden, insbesondere nachdem die Vereinigten Staaten von Amerika die Weltbühne betraten und ihren Anspruch auf die Weltherrschaft erhoben hatten. Es begann der Prozess der Vereinigung Englands mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Der Anstoß zur Vereinheitlichung ging von dem amerikanischen Marinetheoretiker und Historiker, Konteradmiral und einem der Begründer der Geopolitik, Alfred Thayer Mahan, aus. Schmitt schreibt dazu: „Entscheidend ist für ihn, dass die angelsächsische Herrschaft über das Meer der Welt aufrechterhalten werden muss, und das kann nur auf ‚insularer‘ Grundlage durch eine Verbindung der beiden angloamerikanischen Mächte geschehen. England selbst ist infolge der modernen Entwicklung zu klein geworden, daher nicht mehr die Insel im bisherigen Sinne. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind die zeitgemäße wahre Insel. … Der insulare Charakter der Vereinigten Staaten soll es bewirken, dass die Herrschaft zur See auf breiterer Grundlage aufrechterhalten und weiter geführt werden kann. Amerika ist die größere Insel, von der aus die britische Seenahme verewigt und als angloamerikanische Seeherrschaft über die Welt in größerem Stil fortgesetzt werden soll.“ (S. auch: Seemacht denkt sich nur als Weltmacht)
Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Amerika die Führungsrolle bei der Geopolitik der See. Aber auch Deutschland hat die Geopolitik für sich entdeckt und für seinen eigenen, „deutschen“ geopolitischen Denkendstil entwickelt. Man kann sogar von der Geopolitik des Landes sprechen, das sich verpflichtet hat, dem Anspruch einer Seemacht auf Weltherrschaft zu widerstehen. Die Grundlagen dieser neuen Geopolitik wurden vom NS-Regime als Hilfsmittel für sein Streben nach Weltmacht genutzt. Es versteht sich von selbst, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Geopolitik in Westdeutschland angeprangert wurde. Die „deutsche“ Geopolitik des Landes wie auch viele andere Theorien, die das Nazi-Regime für seine Zwecke aktiv genutzt hatte, wurden in die „politischen Quarantäne“ gelegt. Außerdem brauchten die europäischen Länder während des Kalten Krieges unter dem Schirm der USA keine eigenen geopolitischen Strategien. Die geopolitische Denkweise wurde zum Privileg einiger weniger deutscher Politiker geworden, wie etwa des Deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Erst seit Kurzem kann man von einer neuen Renaissance des geopolitischen Diskurses in Deutschland sprechen. (S. auch: Anmerkung zur Geopolitik)
In der Sowjetunion war der geopolitische Diskurs aus ideologischen Gründen verboten. Dennoch war das Land gezwungen, sich an die Gesetze der Geopolitik zu halten und als Vertreter des Behemoth oder besser gesagt des sibirischen Bären aufzutreten. In den 1990er Jahren, nach der Niederlage im Kalten Krieg, wurde in Russland die Geopolitik neu entdeckt und ist seitdem die Substanz des russischen geopolitischen Denkens geworden. Wie in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren, wenn die Niederlage im Ersten Weltkrieg eine „Nachfrage“ nach geopolitischen Deutungen herausgerufen hat, so auch in Russland die Niederlage im Kalten Krieg das Interesse zur Geopolitik erweckte. Die russische Politik stützt sich seither auf eine völlig klare, verständliche und berechenbare geopolitische Logik: Im Kern dieser Logik liegt die Tatsache, dass sich die Russische Föderation als Herzland des eurasischen Kontinentes immer wieder im Zentrum des Kampfes um Weltherrschaft befindet. Leviathan, also ein mächtiger angelsächsischer Walfisch, greift auf das Herzland des Eurasien und zwingt den rissigen russischen Bär, sich zu verteidigen. (S. auch: Russlands Logik der Defensive)
Logik der einzigen Supermacht Amerikas
Seit dem Zerfall der Sowjetunion nimmt der Kampf zwischen Leviathan und sibirischen Bär eine neue Dimension: Amerika als Sieger im Kalten Krieg hat die Verantwortung übernommen, auf dem Trümmern des kommunistischen Blocks eine neue Weltordnung aufzubauen. Sie macht das nach eigener Logik, die von dem bekannten amerikanischen Politikwissenschaftler Zbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ gefasst ist (in englischer Sprache wurde das Buch erstmals 1997 veröffentlicht). Brzezinskis These lautet: Nach Zusammenbruch der Sowjetunion ist Amerika die erste und die einzig wirkliche Weltmacht, eine „Hegemonie neuen Typs“. Im Gegensatz zu allen früheren Imperien beherrschen die Vereinigten Staaten nicht nur sämtliche Ozeane und Meere, sondern verfügen über die militärischen Mittel, um die Küsten unter Kontrolle zu halten. Die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft schafft die notwendige Voraussetzung für die Ausübung globaler Vorherrschaft. Die wirtschaftliche, militärische und technologische Überlegenheit Amerikas sowie die amerikanische Kultur machen sie zu der einzigen globalen Supermacht im umfassenden Sinne.
Für Brzezinski ist Eurasien der zentrale Schauplatz der Weltgeschichte, wo nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter aktiver Beteiligung Amerikas die Voraussetzungen für „ewigen Frieden“ geschaffen werden müssen. Diese Behauptung stützt sich auf eine Aussage des größten Theoretikers der Geopolitik, Harold Mackinder, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb: „Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland. Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel. Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“ Die Weltinsel ist Eurasien, während unter dem Herzland die eurasische Zentralregion gemeint ist, also Russland. Der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt also unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv die USA sich in Eurasien behaupten können, besonders in seinem „Schwarzen Loch“ Russland. (S. auch: Eurasien ist der zentrale Schauplatz für die neue Weltordnung)
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übernahmen die Vereinigten Staaten den Status der einzigen, aber nicht absoluten Supermacht: Ihr fehlt die Kontrolle über das Herz des Eurasiens, also über den riesigen Russland mit den riesigen Bodenschätzen. Deshalb wird die Eingliederung Russlands in die amerikanische Einflusszone zum Hauptziel der amerikanischen Geostrategie in Eurasien. Nach Brzezinskis Ansicht sind zwei Weltmächte in Eurasien zu viel: Kein Land auf diesem Kontinent dürfe Amerikas Vorherrschaft herausfordern, sonst verliere der amerikanische Anspruch auf alleinige Weltherrschaft an Bedeutung. Es ist daher logisch, dass Brzezinski Russlands legitime Ansprüche auf den Weltmachtstatus kategorisch ablehnt und eine gleichberechtigte Partnerschaft mit Amerika ausschließt. Er schreibt: „Amerika verspürte keinerlei Neigung, seine Weltmacht mit Russland zu teilen; Es wäre auch völlig unrealistisch gewesen. Das neue Russland war einfach zu schwach, seine Wirtschaft in einem dreiviertel Jahrhundert kommunistischer Herrschaft zu heruntergekommen und das Land gesellschaftlich zu rückständig, um ein wirklicher Partner im globalen Maßstab zu sein.“ (S. auch: Geostrategie gegenüber Russland)
So wird die Weigerung, Russland als gleichberechtigten Partner anzuerkennen, zum Ausgangspunkt der amerikanischen Strategie auf dem eurasischen Kontinent. Alles andere ist nur eine Folge dieser Haltung des „starken“ Amerikas gegenüber dem „schwachen“ Russland: Mehrfache NATO-Erweiterung, trotz der Proteste Russlands; Fragwürdige Demokratieförderung in den ehemaligen Sowjetrepubliken; Aktive Unterstützung der nationalen Eliten in den ehemaligen Sowjetrepubliken in ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit von Russland zugunsten einer Annäherung an den Westen; Amerikas einseitiger Rückzug aus Verträgen, die während der Entspannungsphase unterzeichnet wurden; Ignorieren der Interessen Russlands in Fragen der eigenen Sicherheit und Verdrängung Russlands aus dem europäischen Sicherheitssystem; Bestrafung Russlands für seine souveräne Politik in allen möglichen Formen – von Sanktionen bis Diskreditierung Russlands und Dämonisierung persönlich Putins. Dieser Prozess begann lange vor der Eskalation des Konflikts in der Ukraine im Jahr 2014, ausgelöst durch den Maidan und den anschließenden Staatsstreich.
Brzezinski beschreibt die amerikanische Geostrategie in Eurasien als ein Schachspiel, für das er spezifische Fahrpläne für alle wichtigen Akteure auf dem Kontinent entwickelt hat. Das ultimative Ziel der Strategie ist es, den „schwarzen“ König, d.h. Russland, schachmatt zu setzen und damit die amerikanische Dominanz über Eurasien zu stärken. Europa muss zum demokratischen Brückenkopf Amerikas werden – durch NATO- und EU-Osterweiterung. Die amerikanische Geostrategie gegenüber Frankreich und Deutschland besteht darin, deren Ambitionen, die Zukunft Europas selbst zu gestalten, zu bremsen. Die Geostrategie gegenüber Russland besteht darin, den Wiederaufbau des russischen Imperiums zu verhindern und das Land in Westeuropa zu assimilieren. Usw. (S. auch: Brzezinskis Logik der einzigen Supermacht)
Der Mythos von Russlands imperialen Ambitionen spielt in Brzezinskis Strategie eine besondere Rolle. Jede Kooperation zwischen Russland und seinen Nachbarländern, sei es die GUS oder die Eurasische Wirtschaftsunion, kann das Land stärken und ist daher gefährlich für seine Integration in die westliche Gemeinschaft. Natürlich war sich Brzezinski bewusst, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken nicht vollständig von Russland losgerissen werden konnten. Aber er machte den Erfolg ihrer Zusammenarbeit mit Russland direkt davon abhängig, wie sich das ehemalige russische Reich in der Region verhalten würde: wieder in imperialer Manier oder Anerkennung der vollen Souveränität dieser Republiken. Er schreibt: „Die aktive wirtschaftliche Teilnahme Russlands an der Entwicklung der Region ist nämlich ganz entscheidend für deren Stabilität – und im Gegensatz zu Russland als ausschließlichem Beherrscher kann ein Partner Russland erhebliche ökonomische Früchte tragen. Größere Stabilität und vermehrter Reichtum innerhalb der Region würden zu Russlands Wohlergehen beitragen und dem Commonwealth, das das Akronym GUS verspricht, wirklichen Sinn geben. Aber diese kooperative Option wird sich Russlands Politik nur dann zu eigen machen, wenn es seine viel ehrgeizigen, historisch anachronistischen und auf schmerzliche Weise an den europäischen Balkan erinnernden Pläne ein für alle Mal aufgibt.“ (S. auch: Geostrategie gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken)
Eine Kooperation ohne imperiale Ansprüche: Was könnte das bedeuten? Natürlich konnte Brzezinski als erfahrener Geopolitiker den grundlegenden Unterschied zwischen einem planetarischen Imperium und einer Regionalmacht nicht übersehen. Regionale Macht in Form eines Großraumes ist eines der wichtigsten Konzepte der Geopolitik. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat nur eine Macht den Status eines globalen Imperiums für sich beansprucht – die Vereinigten Staaten. Alle anderen Mächte, einschließlich Russlands, beanspruchen bestenfalls den Status einer Regionalmacht in Form eines Großraums. Aber eine Regionalmacht und ein globales Imperium sind völlig unterschiedliche Konzepte. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR beansprucht die Russische Föderation nicht mehr die planetarische – kommunistische – Vorherrschaft. Auf die Idee, das Weltproletariat im Kampf gegen die Weltbourgeoisie zu vereinen, käme heute nicht einmal der „furchtbarste“ Kommunist. Daher ist die Zusammenarbeit Russlands mit seinen Nachbarn rein regionaler Natur und erhebt im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten keinen Anspruch auf ein globales Imperium. Und was ist falsch daran, dass Russland die Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn sucht? Sind nicht alle Staaten bestrebt, ihren Wirtschaftsraum zu erweitern?
Dennoch wurde Brzezinskis Mythos von Russlands imperialen Ambitionen im Westen eifrig aufgegriffen und zum Hauptargument für die Organisation eines „Kreuzzugs“ gegen Russland. Das ist verständlich: Nach der Logik der einzigen Supermacht braucht der Westen kein starkes Russland im Zentrum Eurasiens. Aber wie kann man der internationalen Gemeinschaft erklären, dass eine Zusammenarbeit der Russischen Föderation mit ihren Nachbarn, die Russland stärken kann, etwas Schlechtes ist? Hier kommt der alte Mythos von den imperialen Ambitionen Russlands ins Spiel: Er verleiht der Politik der Eindämmung der Russischen Föderation eine gewisse Legitimität. (S. auch: Ein „blanker“ Mythos vom „blanken russischen Imperialismus“)
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion befand sich die Ukraine im Zentrum eines Kampfes zwischen Land und Meer, zwischen dem angelsächsischen Leviathan und dem russischen Bären. Die Brzezinskis Grundidee in Bezug auf die Ukraine lautet: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ Er schreibt: „Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch. Selbst ohne die baltischen Staaten und Polen könnte ein Russland, das die Kontrolle über die Ukraine behielte, noch immer die Führung eines selbstbewussten eurasischen Reiches anstreben, in welchem Moskau die nichtslawischen Völker im Süden und Südosten der ehemaligen Sowjetunion dominieren könnte. Aber ohne die Ukraine mit ihren 52 Millionen slawischen Brüdern und Schwestern droht jeder Versuch Moskaus, das eurasische Reich wiederaufzubauen, Russland in langwierige Konflikte mit den national und religiös motivierten Nichtslawen zu verwickeln, wobei der Krieg mit Tschetschenien vielleicht nur ein Vorgeschmack war.“
Brzezinski war davon überzeugt, dass allein die Existenz der Ukraine als unabhängiger Staat Russland dazu zwingen könnte, sich zu verändern. Er schreibt: „Das Auftreten eines unabhängigen ukrainischen Staates zwang nicht nur alle Russen, das Wesen ihrer eigenen politischen und ethnischen Identität neu zu überdenken, sondern stellte auch für den russischen Staat ein schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar. Da mehr als 300 Jahre russische Reichsgeschichte plötzlich gegenstandslos wurden, bedeutet das den Verlust einer potenziell reichen industriellen und agrarischen Wirtschaft sowie von 52 Millionen Menschen, die den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Russland zu einem wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen.“ Darüber hinaus, so Brzezinski weiter, beraubte eine unabhängige Ukraine Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war. Er schreibt: „Mitte der neunziger Jahre verfügte Russland nur noch über einen schmalen Küstenstreifen am Schwarzen Meer und war mit der Ukraine in einen ungelösten Streit über die Stützpunkterechte auf der Krim für die Reste der sowjetischen Schwarzmeerflotte verstrickt, während es mit offenkundiger Verärgerung zusah, wie NATO- und ukrainische Streitkräfte gemeinsam See- und Landemanöver durchführten und der türkische Einfluss in der Schwarzmeerregion wuchs.“
Auch bei der Unabhängigkeitsparade aller ehemaligen Sowjetrepubliken spielte die Ukraine eine Schlüsselrolle: Sie weist alle russischen Versuche, im postsowjetischen Raum irgendeine Art von Zusammenarbeit aufzubauen, von Anfang an zurück. Ob das ukrainische Volk es wollte oder nicht, aber geopolitisch gesehen sollte die Ukraine zu einem Vorposten im Kampf Amerikas um seine Vorherrschaft in Eurasien werden, d. h. zu einer vorgeschobenen Einheit auf dem Schlachtfeld zwischen dem angelsächsischen Leviathan und dem russischen Bären. (S. auch: Geostrategie gegenüber Ukraine)
Brzezinskis Fehler, der auf das Beste hoffen lässt
Das westliche Projekt des „Anti-Russlands“ in der Ukraine begann unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und symbolisiert den Kampf zwischen Meer und Land. Die Ukrainer wurden in den Schmelzofen eines globalen Konflikts geworfen, der nach Brzezinskis Logik von Anfang an unvermeidlich war. In seinem Streben nach Weltherrschaft muss Amerika einfach der Strategie Brzezinskis folgen. Das tut es seit den 1990er Jahren, nachdem es die Chance verpasst hat, gemeinsam mit Russland eine neue Weltordnung auf der Grundlage der Konvergenz der beiden Systeme – des sowjetischen und des westlichen – aufzubauen. Es ist bekannt, dass dies der Traum von Gorbatschow war, der bereit war, dem Westen Zugeständnisse zu machen, um eine friedliche Lösung des Konflikts zwischen der UdSSR und den USA zu erreichen. Doch Gorbatschows Traum von der Konvergenz blieb ein Traum: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion flammte der Kampf zwischen Land und Meer um den eurasischen Kontinent und sein Herzland, also Russland, mit neuem Elan auf. Natürlich konnte man sich mit dem besiegten Russland auf nichts einigen.
Doch in der neuen US-Strategie gegenüber Russland, die zweifellos auf Brzezinskis geopolitischer Logik beruht, hat sich ein Fehler eingeschlichen, der Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang des Konflikts in der Ukraine macht. Der Punkt ist, dass Brzezinski davon ausging, dass Russland zu schwach ist, um den Ausgang historischer Ereignisse zu beeinflussen, was bedeutet, dass es nicht mehr als gleichberechtigter Gegner (im juristischen Sinne als justus hostis, gerechter Feind) behandelt werden sollte. Es geht um die so genannte Kriminalisierung des Krieges, wobei nicht die Regeln und Methoden des Krieges im Vordergrund stehen, sondern das Recht der Siegermächte, zu entscheiden, welcher Krieg gerecht oder ungerecht ist, wer ein Aggressor bzw. ein Kriegsverbrecher ist. Der Gegner auf der anderen Seite wird diskriminiert, zu einem Kriminellen, der nicht mehr den geltenden Regeln unterliegt. Gegen ihn wird kein Krieg mehr geführt, sondern eine Aktion wie eine Polizeimaßnahme gegen einen Schädling oder Störer. (S. auch: Ukraine-Krieg soll einen dritten Weltkrieg verhindern)
Die weitere Schwächung Russlands, umgeben von stärkeren und dynamischeren Nachbarn, war die Grundlage von Brzezinskis Konzept. Aber die Geschichte hat wieder einmal eine Überraschung für die Welt vorbereitet, indem sie Russland mit dem Amtsantritt Putins auf den Weg des Wirtschaftswachstums brachte und seine politische Position in der Welt stärkte. Brzezinskis gesamte strategische Logik gegenüber Russland begann zu bröckeln. Die Russische Föderation steht nicht mehr im Vorzimmer Amerikas und sucht dessen Anerkennung, sondern baut hartnäckig ihre militärische und wirtschaftliche Souveränität auf, mit der Amerika einfach rechnen muss. Russland hat seine Autarkie unter Beweis gestellt, auch in Bezug auf die technische Aufrüstung seiner Armee, und den harten Sanktionsdruck des Westens souverän überwunden. Russland ist spürbar stärker geworden, und der Westen wird an den Fronten des ukrainischen Stellvertreterkriegs keinen leichten Sieg erringen. Wir können sagen, dass Russland in diesem Krieg allmählich aber sicher den Status eines gerechten Feindes zurückgewinnt, wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Erfolge auf dem Schlachtfeld bringen diesen Moment wie immer näher. Das bedeutet, dass Amerika und Russland eines Tages zu einer Verhandlung kommen müssen, wie sie es in der Vergangenheit schon oft getan haben, wenn sie nicht zu Selbstmördern oder gar zu Mördern des Planeten werden wollen. Je früher ernsthafte Schritte in diese Richtung unternommen werden, desto besser für das ukrainische Volk und alle Völker Europas.
Dies ist die Chance auf Hoffnung, die uns der große Geostratege Zbigniew Brzezinski hinterlassen hat.
Zweckmühle-Spiel als neue Taktik im Ukraine-Konflikt
Russland als justus hostis, also als gerechter Feind anzuerkennen, bedeutet, die Sicherheitsbedenken Russlands anzuerkennen, insbesondere in Bezug auf die Osterweiterung der NATO. Für die Vereinigten Staaten von Amerika ist dies inakzeptabel, da es bedeutet, den Aufbau einer unipolaren Welt unter ihrer Schirmherrschaft aufzugeben. Aber auch das volle Ignorieren der Interessen Russlands ist kein gutes Zeichen für den Westen, der sich in eine Eskalation der Beziehungen mit der Atommacht hineinziehen lässt, deren Ausgang schwer vorhersehbar ist.
Schachmatt dem „Schwarzen Loch“ Russlands kam sehr schwer zustande. Schach ist das russische Nationalspiel, ebenso wie im Westen, und so brauchten die Russen nicht lange Zeit, um die Regeln des geopolitischen Schachs gut zu lernen. Im geopolitischen Schachspiel zwischen Amerika und Russland waren Kaukasus-Krieg 2008, militärische Aktion in Syrien 2015 und insbesondere die Wiedervereinigung von der Russischen Föderation und der Halbinsel Krim (unabhängig von den völkerrechtlichen Interpretationen des Geschehens) die bedeutenden Schachzüge zugunsten Russlands.
Kurz gesagt: Die Amerikaner haben es nicht geschafft, ihre geopolitische Strategie in kurzer Zeit (Brzezinski sprach von einer Generation) erfolgreich umzusetzen. Putin hat in seinem geopolitischen Spiel keine Fehler gemacht, auch nicht auf der Krim und in der Ostukraine. Die USA und ihre Verbündeten mussten im Kampf um die Ukraine und um Eurasien mit schweren strategischen Verlusten rechnen. Die Situation war alarmierend. Man sollte die Taktik geändert werden, um die weiteren Verluste im Spiel mit dem klug gewordenen geostrategischen Schachspieler Putin zu vermeiden. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die Regeln des Zwickmühle-Spieles gelenkt.
Eine politische Zwickmühle bedeutet, in eine Situation zu geraten, aus der es keinen positiven Ausweg gibt. Der Ukraine-Konflikt ist ein solcher Fall. Die Taktik des Zwickmühle-Spieles ist nachvollziehbar. Russland hat bekanntlich einige rote Linien hingezogen, eine von ihnen lag gerade in der Ostukraine. Es handelt sich um die Bürgerkriege, die Russland auf seinen Grenzen unbedingt vermeiden möchte. Transnistrien, Abchasien, Südossetien, Tschetschenien und Bergkarabach sind die Orte, die von Bürgerkriegen seit Zerfall der Sowjetunion besonders getroffen wurden und ständige Aufmerksamkeit erforderten. (S. auch: Vorbeugung und Einhegung der Bürgerkriege auf seinen Grenzen ist für Russland zur Existenzfrage geworden)
Donbass gehört auch dazu. Die russische rote Linie sollte hier eine militärische Lösung des Ostukraine-Konfliktes seitens der Kiews Regierung ausschließen. Doch sie wurde in den Jahren 2014 und 2015 überschritten, mit dem intensiven Raketenabschuss und sogar mit den ukrainischen Luftangriffen, was zu den grausamen Folgen für die Zivilbevölkerung in Donbass führte. Die Minsker Abkommen I und II haben den Konflikt stabilisiert, aber nicht beseitigt: Die militärische Präsenz der ukrainischen Armee in Donbass steigerte sich von Jahr zu Jahr und bedrohte, die rote Linie „Bürgerkrieg“ wieder zu überschreiten.
Diese Entwicklung des Konflikts in der Ostukraine konnte erneut zu einem blutigen Bürgerkrieg führen, jetzt aber mit noch schlimmeren Folgen. Russland konnte dies nicht zulassen, was von den Zwickmühle-Spielern auch gut verstanden wurde. Der Zweck des Spieles bestand darin, „Geduld“ der Russen zu brechen und Moskau für militärische Aktionen in Donbass zu motivieren. Russland sollte also ermutigt werden, die Eskalation in Ostukraine mit militärischer Aktion zu beenden. Das Kalkül war, Russland als Aggressor darzustellen bzw. als absolute Böse zu diskreditieren und letztendlich zum größeren Symbol der planetarischen Bedrohung zu machen – nach der Logik der Kriminalisierung des Krieges. Das Endziel wäre, Russland aus dem Weg des Aufbaus einer unipolaren Welt endgültig zu räumen.
Hier könnte man von der taktischen Dimension des Ukraine-Konflikts sprechen, die im Wesentlichen auf der gleichen Grundlage beruht: dem Kampf zwischen Land und Meer. Aber zum ersten Mal wurde das Hauptprinzip der neuen Taktik während des Georgien-Krieges 2008 getestet. Die bekannte Russland-Expertin Gabriele Krone-Schmalz beschreibt dieses Prinzip in ihrem Buch „Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“ (2017) wie folgt. Nach der Rosenrevolution 2004 löste Saakaschwili seinen Vorgänger Schewardnadse als Präsident ab. Er genoss in den USA großes Vertrauen, denn er hatte in Amerika studiert, promoviert und einige Zeit als Anwalt gearbeitet. Die Bush-Regierung betrachtete ihn als „our guy“ im Kaukasus. Er hatte nie einen Hehl daraus, sich nach Westen orientieren zu wollen, und forcierte das schon unter Schewardnadse begonnene Streben nach einer NATO-Mitgliedschaft seines Landes. Beim Besuch Tiflis im Mai 2005 fand amerikanischer Präsident George W. Bush die lobenden Worte für die „Rosenrevolution“, pries den „mutigen Kampf des georgischen Volkes für Unabhängigkeit“ und nannte Georgien einen „Leuchtturm des Friedens“.
In der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 begann die georgische Großoffensive gegen Südossetien mit Panzern, Kampfjets und Raketenwerfern auf die schlafende Zivilbevölkerung und die dort stationierten russischen Friedenstruppen. Unter anderem wurden Streubomben eingesetzt. Dutzenden Zivilisten kamen ums Leben, das Ausmaß der Zerstörung gerade ziviler Objekte war enorm. Auch 14 Angehörige der russischen Friedenstruppen kamen ums Leben, da ihr Hauptquartier gezielt von georgischer Artillerie angegriffen wurde. Schon am selben Tag verkündete Georgien, weite Teile Südossetiens erfolgreich besetzt zu haben.
Es wäre für Saakaschwili eine „militärische Dummheit“, gegen Russland einen Krieg zu verkünden, stützte er sich nicht auf die Unterstützung von Amerika. Es handelte sich nicht nur um „mehr als hundert US-Militärberater“, die damals in den georgischen Streitkräften tätig gewesen seien, und nicht um „eine noch größere Zahl von US-Spezialisten und Beratern in den georgischen Machtstrukturen und der Verwaltung“. Tatsächlich, so Krone-Schmalz, ist nach wie vor unklar, welche Rolle sie zu Beginn und während des Georgienkrieges gespielt hatten. Noch wichtiger war die andere Unterstützung. Krone-Schmalz zitiert den „taz“-Artikel vom 13. August 2008, wo berichtet ist, wie NATO-Diplomaten hinter verschlossenen Türen inzwischen einräumten, dass die auf dem Bukarester Gipfel beschlossene Beitrittsperspektive für Georgien beim Kriegsausbruch insofern eine Rolle spielte, als sie Saakaschwili dazu ermutigt habe, Südossetien mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen. Für dieses Vorgehen habe er in den Monaten vor Konfliktbeginn „zahlreiche Signale der Unterstützung aus Washington erhalten“. Zusammen mit der massiven militärischen und politischen Unterstützung Georgiens durch die USA – unter anderem fand noch im Monat vor dem Angriff auf Südossetien ein gemeinsames Manöver statt, an dem mehr als 1000 US-Soldaten beteiligt waren – habe dazu geführt, dass alle russischen Warnungen bei Saakaschwili auf taube Ohren gestoßen seien.
Krone-Schmalz unterstreicht ausdrücklich: Moskau bereitete sich darauf vor, auf einen Angriff Saakaschwilis zu reagieren, doch wollte es den militärischen Konflikt nach Möglichkeit vermeiden. Aber nach Georgischer Großoffensive hatte es keine Wahl: Russland griff nun seinerseits Georgien an. Schon in wenigen Stunden nach der nächtlichen Bombardierung Südossetiens erklärte der damalige Präsident Russlands Dmitri Medwedew über Anfang der militärischen Operation „Zwang zum Frieden“. Es begann die neue Etappe des geopolitischen Schachspiels, wo die strategische Rolle Georgiens im Krieg 2008 besser erkennbar ist. Gemeint ist die Behauptung, dass gerade der Westen Russland eine Falle gestellt habe. Die USA haben Georgien zum Angriff auf Südossetien ermutigt, um Russland entweder als schwach (falls es nicht reagierte) oder als aggressiv (falls es doch reagierte) hinzustellen. Falls Russland nicht reagiert, dann wird es schwach, aber das ist unwahrscheinlich, weil dann Russland die Türen für einen blutigen Bürgerkrieg in Kaukasus öffnet. Falls Russland auf die georgische Großoffensive doch reagiert, was eigentlich unvermeidlich war, dann wird Russland zum grausamen Aggressor verdammt, der nicht nur Georgien, sondern die ganze Welt bedroht. Die westlichen Medien werden sich darum kümmern.
Einseitiger Vorwurf Russlands in der Aggression, unabhängig davon, ob es um Expansion aus welchen Gründen oder doch um notwendige Verteidigung geht, wird somit zur neuen geopolitischen Regel. Die für Saakaschwili vorbereitete Aufgabe bestand darin, einen sinnlosen Krieg zu beginnen, um Georgien anschließend als Opfer darzustellen. Wir können sagen, dass Saakaschwili diese geostrategische Aufgabe mit Bravour gemeistert hat, ohne sich zu fragen, was das sein Land kostet. (S. auch: Der Westen hat den Putins Russland „mitgeschafft“)
Nach der neuen Taktik soll Präsident Selenskyj auch versuchen, Donbass und die Krim militärisch zurückzuerobern, wie es bei Saakaschwili der Fall war. Die Mechanismen der „Ermutigung“ sind in beiden Fällen nicht sehr unterschiedlich. Es wäre natürlich auch für Selenskyj eine „militärische Dummheit“, gegen Atommacht Russland einen Krieg zu verkünden, stützte er sich nicht auf die Unterstützung von Westen. Es handelte sich nicht nur um zahlreiche Spezialisten und Berater in den ukrainischen Machtstrukturen und Armee, sondern um eine massive militärische und politische Unterstützung der Ukraine durch die NATO und die USA. Der Umfang dieser Unterstützung stand jedoch nicht im Verhältnis zum Umfang der Unterstützung für Georgien: nach technischer Aufrüstung, Aufbau der Armee gemäß NATO-Standarten, Zahl von gemeinsamen Manövern usw. Im Fall eines Krieges in Donbass wartete auf die russischen Soldaten eine sehr gut vorbereitete Verteidigungslinie. „Willkommen in der Hölle!“, lässt in Kiew ein populärer Slogan laufen.
Ähnlich wie Saakaschwili sollte Selenskyj zum Angriff auf Donbass ermuntern werden, um Russland entweder als schwach (falls es nicht reagierte) oder als aggressiv (falls es doch reagierte) hinzustellen. Falls Russland nicht reagiert, dann wird es schwach, aber das ist unwahrscheinlich, weil dann Russland die Türen für einen blutigen Bürgerkrieg in Ost-Ukraine öffnet. Falls Russland doch auf die ukrainische Offensive reagiert, was eigentlich unvermeidlich ist, dann wird Russland zum grausamen Aggressor verdammt, der nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Welt bedroht. Russland musste also in der Zwickmühle gedreht werden, wenn beide Varianten für ihn schlecht sind. Darüber sollten sich die westlichen Mainstream-Medien kümmern, die sich durch intensive Dämonisierung Putins Russland für die neue Aufgabe wesentlich besser vorbereitet haben als beim Georgien-Krieg. Kalkül bei Selenskyj sollte also darin bestanden, einen perspektivlosen Krieg zu beginnen, um sich dann im Westen als Opfer präsentieren zu können.
Zur Erinnerung: Die von Georgien beantragte einseitige Verurteilung Russlands als „Aggressor“ wies der Internationale Gerichtshof in Den Haag in einem Urteil vom 15. Oktober 2008 zurück. Doch in der westlichen Wahrnehmung, dank der Medien, bleibt Russland bis heute im Georgien-Krieg ein Aggressor, während Georgien die Opferrolle zugeschrieben wurde.
Dass in diesem Zwickmühlen-Spiel viel auf dem Spiel steht, ist im Westen wohl bekannt. Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland seine Interessen in der Ukraine bis zum Ende verteidigen wird. Für Russland geht es darum, ihre Souveränität, wenn nicht gar ihre Existenz, zu bewahren. Beim Versuch, Russland im Ukraine-Konflikt in eine Zwickmühle zu bringen, wie es im Georgienkrieg 2008 war, entsteht also für Westen eine Gefahr, sich selbst in eine Zwickmühle zu bringen, d. h. in eine Patt-Situation, in der alle Lösungen für ihn schlecht sind. (S. auch: Der Westen zieht sich in einer Zwickmühle)
Recht im Dienste der Politik
Es ist einfach, neue Narrative ohne Vorgeschichte zu schreiben, die nur auf der aktuellen Agenda basieren. Der politisch-mediale Mainstream macht diese Aufgabe noch einfacher, indem er Medienschaffende und Politiker selbst von der quälenden Suche nach der Wahrheit befreit. In seinem Buch „Mainstream. Warum die Deutschen ihren Medien nicht mehr trauen“ hat der Medienexperte Uwe Krüger als einer der ersten beschrieben, wie der Mainstream in Deutschland funktioniert. Er stellte einen direkten Zusammenhang zwischen seinen Forschungen und dem sich verschärfenden Konflikt in der Ukraine her. (S. auch: Warum die Deutschen den Medien nicht mehr trauen)
Am schwierigsten ist es für diejenigen, die im Dienste der herrschenden Eliten stehen, wie z. B. die Mitarbeiter akademischer Einrichtungen, neue Narrative zu verfassen und dabei auf Vorgeschichte zu verzichten. Aber, wie man so schön sagt, schwierig heißt nicht unmöglich. Ein Beispiel dafür ist das Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, in dessen Auftrag PRIF-Blog eine Resilienzstrategie für die Ukraine entwickelt.
Schon bei der Formulierung seiner Fragen geht Dr. Driedger, der Autor des Artikels „Was in der Zukunft der Ukraine liegt: Plädoyer für eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie“, nicht von der Notwendigkeit aus, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, was für einen Friedens- und Konfliktforscher logisch wäre, sondern von der Notwendigkeit, ihn so lange wie möglich zu führen. Angesichts der verschlechterten Situation in Kiew und verkürzten Militärhilfe fragt er: „Wird also die Ukraine auf sich alleine gestellt sein? Wird Russland die Ukraine überwältigen? Welche politischen Optionen hat die Ukraine überhaupt? Und wie kann man ihr Streben nach Frieden, Souveränität und Freiheit am besten unterstützen?“ (1)
Frieden, Souveränität und Freiheit sind die wichtigsten Kampfslogans auf Seiten der Kiewer Regierung, während gegen das russische Regime nur die Begriffe verwendet werden, die im politisch-medialen Mainstream erlaubt sind: formelle Annexion der Krim, anti-ukrainische Propaganda, massive Repressionen im Lande gegen den Kriegsgegner, Eroberung der ukrainischen Territorium und Brechen den Widerstandswillen der Ukrainer durch andauernde Bombardierung. Mit offensichtlichem Bedauern muss Dr. Driedger feststellen, dass es in der russischen Machtelite keinerlei Gesinnungswandel gibt, dass es keine Anzeichen für eine anstehende Revolution in Russland gibt, dass die Stabilität des Regimes scheint nicht erschüttert zu haben und die Beliebtheit Putins hoch bleibt.
Der Trostpreis für die ukrainische Regierung sollte sein, dass die USA die Ukraine weiterhin unterstützen werden, unabhängig davon, ob Trump oder Biden die Präsidentschaftswahlen im November gewinnen. Dr. Driedger schreibt: „Obgleich die Sorgen hinsichtlich einer republikanischen Regierung unter Trump begründet sind, spricht eine Reihe von Gründen dafür, dass sich auch in einem solchen Szenario die großen Linien der US-amerikanischen Politik gegenüber der NATO, Russland und der Ukraine nicht ändern werden. … Als Trump 2016 zum ersten Mal an die Macht kam, änderte sich dann auch nichts an der allgemeinen Ausrichtung der US-Politik gegenüber Russland und der Ukraine. Tatsächlich lieferten die USA in dieser Zeit erstmals Javelin-Raketenwerfer an Kyiv. Obgleich natürlich eine zweite Trump-Amtszeit nicht einfach eine Wiederholung der ersten sein würde, weisen all diese Faktoren darauf hin, dass auch unter einer republikanischen Regierung die USA nicht aufhören würden, die Ukraine wirtschaftlich und militärisch zu unterstützen.“
Dr. Driedger bezweifelt jedoch, dass die amerikanische Unterstützung der Ukraine helfen kann, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Das bedeutet, dass wir uns auf einen langwierigen Krieg einstellen sollten, zumal die Eliten beider Länder ihre militärischen Ziele klar verfolgen wollen. Er schreibt: „Auch scheint der Kampfeswille beider Seiten ungebrochen. Verfügbare Informationen über die russische Mehrheitsmeinung suggerieren, dass Putin und damit implizit auch seine Kriegspolitik weiterhin von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden. Auf ukrainischer Seite wird eine Kompromisslösung vehement und mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.“
Die Wahl Putins für eine weitere Amtszeit bestätigt die These von Dr. Driedger, dass seine Militärpolitik von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Selenskyj hat aber keine legitime Unterstützung in der Bevölkerung: Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sollten am 31. März 2024 stattfinden, wurden jedoch bis zur Aufhebung des Kriegsrechts im Land verschoben und sind derzeit unbestimmt. Es sei daran erinnert, dass Selenskyj die Wahl 2019 vor allem deshalb gewonnen hat, weil er im Gegensatz zum ehemaligen Präsidenten Poroschenko versprochen hat, den Konflikt in der Ostukraine friedlich zu lösen. Doch nach seiner Wahl verwandelte sich Selenskyj auf wundersame Weise von einem Präsidenten des Friedens in einen Präsidenten des Krieges. Er riskiert auch heute noch viel, wenn er eine neue Präsidentschaftswahl annimmt. Daher ist Dr. Driedgers These, dass sich die Stimmung der Ukrainer in fünf Jahren dramatisch verändert hat und dass sie gegen eine friedliche Lösung des Konflikts sind, durchaus umstritten. Vielmehr ist es ein Versuch, das Konzept des andauerten Krieges auf der Basis der Verteidigungs- und Resilienzstrategie zu verteidigen: Warum brauchen wir überhaupt eine solche Strategie, wenn der Konflikt friedlich gelöst werden kann?
Andere Argumente für die Verlängerung des Krieges verfolgen das gleiche Ziel: die Notwendigkeit einer Resilienzstrategie zu beweisen, d.h. die Idee, den Krieg fortzusetzen. So sollten die erfolgreichen Offensiven der russischen Armee mit dem Gedanken verrechnet werden, dass es viel einfacher ist, ein Gebiet zu verteidigen als es zu erobern und zu halten. Dem hohen russischen Mobilisierungspotenzial steht die stärkere Motivation des ukrainischen Militärs gegenüber. Ein weiteres wichtiges Argument von Dr. Driedger lautet wie folgt: „Auch kann die Ukraine, anders als Russland, Zehntausende ihrer Soldaten in der EU ausbilden lassen. Weiterhin erhält die Ukraine, trotz aller politischen Probleme beim Timing und Umfang, umfangreiche Wirtschaftshilfe und Waffenlieferungen durch die NATO und deren Mitglieder.“ Kurzum, es ist zu früh, um sich an den Verhandlungstisch zu setzen.
Die auf die Fortsetzung des Krieges ausgerichtete Verteidigungs- und Resilienzstrategie wird von ihrem Verfasser jedoch als Friedensstrategie betrachtet. Die Logik dieser Ersetzung von Begriffen lässt sich in wenigen Schritten darstellen. Erstens geht der Autor davon aus, dass ein ukrainischer militärischer Sieg in diesem Krieg unwahrscheinlich ist. Er schreibt: „Da viele der oben genannten Faktoren es kurz- und mittelfristig unwahrscheinlich machen, dass die Ukraine ihre Ziele militärisch durch einen strategischen Sieg erringen wird, und da das Streben nach einem solchen Sieg auch mit enormen Risiken und Kosten behaftet ist, sollten Friedensstrategien jenseits eines solchen ukrainischen Siegs erwogen, ermöglicht und umgesetzt werden.“
Gleichzeitig widerlegt der Wunsch nach Frieden nicht die militärischen Maßnahmen, sondern setzt sie im Gegenteil voraus. Dr. Driedger schreibt: „Aber auch, wenn eine alternative Friedensstrategie verfolgt wird, bleibt die militärische Dimension des Krieges von höchster Bedeutung. Denn gerade für die Ermöglichung von Frieden müsste zumindest sichergestellt werden, dass die Ukraine weiterhin in der Lage ist, dem andauernden militärischen Druck eines immer noch nach Maximalzielen strebenden Russlands standzuhalten. Hierdurch würden unmittelbar das Leben, die Freiheit und die Sicherheit der Menschen in der unbesetzten Ukraine weiter verteidigt. Ebenso würde dies den dringend nötigen Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft und Gesellschaft erlauben – auch schon in Kriegszeiten, denn die könnten noch lange andauern.“
Der nächste Schritt besteht darin, zu begründen, warum eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie notwendig ist, um den Frieden zu erreichen. Dr. Driedger schreibt: „Weiterhin würden sich durch ukrainische Resilienz die langfristigen Chancen auf Deeskalation oder gar ernsthafte Verhandlungen erhöhen. Dies wäre der Fall, wenn Russland durch eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie der Ukraine zunehmend die Hoffnung auf einen strategischen Sieg verliert und aufgrund der andauernden Kosten des Krieges zunehmend nicht-kriegerische Alternativen erwägen muss. … Auch würde eine Verteidigungs- und Resilienzstrategie der Ukraine die Chance geben, ihre Ressourcen zu schonen und im Falle von Änderungen in der russischen Innenpolitik besser handeln (und verhandeln) zu können.“
Aber das Schwierigste ist natürlich, die Menschen zum Siegen zu motivieren, wenn sie in der Defensive sein sollten. Aber auch hier findet Dr. Driedger einen Ausweg: Für ihn ist das Wesen der Strategie nicht das Erreichen eines Ziels, sondern das Versprechen, es zu erreichen. Er schreibt: „Eine solche Verteidigungs- und Resilienzstrategie bedeutet nicht die Aufgabe des Fernziels von Frieden und vollständiger Freiheit für die Ukraine, sondern den vielversprechendsten Pfad dorthin. Sie würde es Kyiv erlauben, an seinen legitimen und von der großen Mehrheit der Bevölkerung gestützten Zielen festzuhalten, ohne darauf angewiesen zu sein, diese Ziele kurzfristig erzwingen zu müssen und das Risiko eines eventuellen Scheiterns zu tragen. Das betrifft auch die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete, russische Reparationen und zukünftige Mitgliedschaft in der EU und in der NATO.“
Wie lange die Ukrainer in der Defensive kämpfen sollen, gibt Dr. Driedger nicht an: wahrscheinlich bis zum letzten Soldaten. Die wahre Bedeutung der Verteidigungs- und Resilienzstrategie wird jedoch deutlicher, wenn wir die Politik der Verbündeten der Ukraine mit den Empfehlungen von Dr. Driedger vergleichen: Sie unterscheiden sich nicht. Er schreibt: „Deutschland und andere Verbündete könnten und sollten eine solche Verteidigungs- und Resilienzstrategie durch eine ganze Reihe von Maßnahmen flankieren und unterstützen. Dies betrifft insbesondere die militärstrategische Notwendigkeit von verlässlichen und hinreichenden Wirtschafts- und Militärhilfen, damit die Ukraine sich weiter verteidigen kann und die Kosten des Krieges für das russische Regime weiter steigen. Die Sicherheits- und Kooperationsabkommen, welche die Ukraine jüngst mit Großbritannien, Frankreich und Deutschland abgeschlossen hat, sind ein gutes Signal in diese Richtung, müssten aber umfassend und effektiv umgesetzt werden. Zweitens können und sollten die Verbündeten der Ukraine weiterhin auch vermehrt Druck auf Russland ausüben, um die Kosten der andauernden Aggression in die Höhe zu treiben und nicht-kriegerische Strategien attraktiver zu machen. Das beinhaltet die Aufrechterhaltung und auch Intensivierung von Sanktionen und diplomatischen Bemühungen, um Russlands Verhalten international abzustrafen.“
Was die westlichen Eliten anstreben, ist allgemein bekannt. Sie selbst machen keinen Hehl daraus: Sie wachen über die westliche Demokratie im Kampf gegen die Anarchie, die undemokratische und autoritäre Regime wie Putins Russland mit sich bringen. Die Regierung in Kiew hat bereitwillig die Rolle des Verteidigers westlicher Werte im Kampf gegen Putins Russland übernommen und erhält daher die volle Unterstützung des Westens. Die Ukrainer müssen für die westlichen Werte sterben, und die Aufgabe des Westens ist es, sie mit Waffen zu versorgen. Mit anderen Worten: Das Leben der Ukrainer wird in den Schmelzofen des Kampfes für die Weltdemokratie geworfen. Dies ist eigentlich die wahre Bedeutung der Strategie der Verteidigungs- und Resilienzstrategie.
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Das Recht steht heute im Dienste der Politik. Leider. Hätten Rechtswissenschaftler die Möglichkeit, sich ohne Blick auf den politisch-medialen Mainstream zu äußern, hätten sie viel zu sagen über die juristische Willkür der Politik. So konnte Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, nicht nur in einem kleinen Artikel in der FAZ aus dem Jahr 2014, sondern auch vor einem breiten Publikum in einer populären Talkshow erklären, dass der Anschluss der Republik Krim an Russland aus völkerrechtlicher Sicht keine Annexion ist. So ist es nicht verwunderlich, dass bis heute in Deutschland die Angliederung der Krim an Russland offiziell nicht anders als Annexion bezeichnet wird. (4)
Über die Problematik von Krieg und Frieden könnte uns auch viel der Diskurs „Frieden durch Recht“ erzählen, wie es beispielsweise Dr. Lothar Brock 2004 versuchte und zu dem bitteren Schluss kam, dass die Idee, Frieden durch Recht zu sichern, in Bedrängnis geraten ist. Den Anlass, über die rechtlichen Aspekte von Krieg und Frieden nachzudenken, gab ihm der von der US-Regierung unter George Bush Jr. angekündigte Kampf gegen den internationalen Terrorismus. (5) Es ist auch nicht verwunderlich, dass er im Jahr 2022, nach dem Beginn der russischen Sonderoperation in der Ukraine, gezwungen ist, über eine weitere Erosion des Vertrauens in das Völkerrecht zu schreiben. (6)
Ohne den Druck des Mainstreams wäre die Kritik des Juristen und Verfassungsrechtlers Volker Boehme-Neßler am Verfassungsschutz legitim und verständlich gewesen. In keiner anderen modernen liberalen Demokratie gibt es eine vergleichbare Institution wie den Verfassungsschutz, sagt er und bestätigt dies mit den Worten: „In den USA, Großbritannien, Frankreich oder der Schweiz wäre es undenkbar, dass ein Inlandsgeheimdienst die eigenen Bürger und sogar die Opposition ganz offiziell ausspionieren darf.“ (7)
Es geht um eine Diskussionskultur im Völkerrecht, die in Deutschland eindeutig fehlt. Ein Beweis dafür ist die fast völlige Vernachlässigung der Untersuchung über Krieg und Frieden durch den berühmten deutschen Rechtsphilosophen Carl Schmitt, der in seinem bahnbrechenden Werk „Der Nomos der Erde“ (1950) vor den verhängnisvollen Folgen der Kriminalisierung des Krieges, die von den USA geführt wurde, warnte. Im Übrigen betonte er, dass ein Angriffsakt von einem Angriffskrieg unterschieden werden müsse. Die höchste Kunst des Völkerrechts besteht darin, eine Aggression so schnell wie möglich zu beenden, um eine Eskalation des Krieges zu vermeiden. Diese Kunst war den europäischen Juristen aus der Zeit des Westfälischen Friedens wohlbekannt.
Doch nach dem Ersten Weltkrieg ging die europäische Kunst, die Eskalation des Krieges einzudämmen, verloren, was zum Zweiten Weltkrieg führte. Heute sprechen westliche Politiker im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine nur noch von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, ohne zu präzisieren, was eine Annexion, einen Angriffskrieg oder ein Kriegsverbrechen im rechtlichen Sinne darstellt. Von Seiten der Sieger des Kalten Krieges wurde kein einziger Schritt zur friedlichen Beilegung von Konflikten unternommen, im Gegenteil: Der Einsatz militärischer Gewalt wurde zum Symbol der neuen Zeit. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Konflikt in der Ukraine vom Westen aus der Position seines Rechts betrachtet wird, zu entscheiden, wer der Aggressor und Kriegsverbrecher ist, ohne die rechtliche Bewertung der Ereignisse zu berücksichtigen und sich nur auf die Moral zu verlassen.
Dieses Versagen des internationalen Rechts ist weitgehend darauf zurückzuführen, dass das Recht heute im Dienste der Politik einfach zum Schweigen gebracht wird. (S. auch: Eskalation des Ukraine-Konfliktes ist ein Versagen des Völkerrechts)
2. https://blog.prif.org/ueber-dieses-blog/
3. https://dserver.bundestag.de/btd/20/072/2007220.pdf
5. https://www.jstor.org/stable/resrep14628
6. https://blog.prif.org/2022/12/06/der-ukraine-krieg-und-das-voelkerrecht-erneute-totsage-des-gewaltverbots/