Geostrategie gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken

Eine amerikanische Geostrategie gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken besteht darin, sie in die westliche Einflusszone zu integrieren, indem sie aus dem Einflussbereich Russlands herausgezogen werden.

Im Gegensatz zur linken Flanke Eurasiens, wo die NATO und die Europäische Gemeinschaft die amerikanischen Interessen zuverlässig schützen sollen, sind die Dinge im Süden Russlands viel komplizierter. Hier hat sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ein eurasischer Balkan gebildet, der laut Brzezinskis Lexikon zur Entwicklung eines ethnischen Hexenkessels bedroht. Das Wort Balkan, erinnert er, beschwört in Europa Bilder von ethnischen Konflikten und Stellvertreterkriegen herauf. Ähnliches ist an den südlichen Grenzen Russlands zu erwarten. (1)

Zugleich spielt diese Region aufgrund ihrer enormen Ressourcen eine entscheidende Rolle im geopolitischen Spiel auf dem eurasischen Schachbrett. Brzezinski schreibt: „Im Kampf um die Vormacht in Europa winkte der traditionelle Balkan als geopolitische Beute. Geopolitisch interessant ist auch der eurasische Balkan, den die künftigen Transportwege, die zwischen den reichsten und produktivsten westlichen und östlichen Randzonen Eurasien bessere Verbindungen herstellen sollen, durchziehen werden. … Viel wichtiger aber ist der eurasische Balkan, weil sich zu einem ökonomischen Filetstück entwickeln könnte, konzentrieren sich in dieser Region doch ungeheure Erdgas- und Erdölvorkommen, von wichtigen Mineralien einschließlich Gold ganz zu schweigen.“ (2)

Brzezinski geht davon aus, dass Russland einerseits politisch zu schwach ist, „um die Region wieder unter seine Herrschaft zu zwingen oder andere davon fernzuhalten“, aber andererseits zu nahe und zu stark ist, „um ausgeschlossen zu werden“. Amerika hingegen geografisch zu weit entfernt ist, „um in diesem Teil des Eurasiens eine beherrschende Rolle zu spielen“, aber zu mächtig ist, „um unbeteiligt zuzusehen“. (3) In dieser schwierigen Situation sucht Brzezinski nach solchen Methoden der Geostrategie, die das Erreichen des Hauptziels der amerikanischen Politik in Eurasien garantieren würden: das Entstehen einer neuen Weltmacht auszuschließen. Gleichzeitig verdienen drei wichtige Prinzipien von Brzezinskis Geostrategie besondere Aufmerksamkeit: die Unterstützung der von der „russischen Kolonisierung“ befreiten Länder in ihrem Streben nach Unabhängigkeit und nationalem Selbstbewusstsein sowie die Herausbildung eines sogenannten geopolitischen Pluralismus in der Region.

Man sollte sich jedoch nicht über die wahre Bedeutung der von Brzezinski verwendeten Begriffe täuschen. So macht er beispielsweise keinen Unterschied zwischen Amerikas wahren imperialen Ambitionen und Russlands Wunsch, einen wirtschaftlich gut funktionierenden postsowjetischen Raum wiederzubeleben, was für Brzezinski nichts anderes als ein neues russisches Imperium bedeutet. Er will nicht sehen, dass sich ein politisch-ökonomischer Großraum ohne ideologische Basis in Form des Weltkommunismus immer noch etwas ganz anderes ist als ein amerikanisch geführtes planetarisches Imperium. Die sogenannte Unabhängigkeit der zentralasiatischen Länder ist für ihn nur die Unabhängigkeit von Russland, nicht die volle Souveränität dieser Länder, die die Abhängigkeit von anderen Weltmächten ausschließt. Die Weltgemeinschaft ist für ihn lediglich die Gemeinschaft, die sich im Einflussbereich des Westens befindet. Der sogenannte geopolitische Pluralismus in der Region bedeutet, dass die westlichen Länder ihren Einfluss in der Region verstärken werden, während die Rolle Russlands geschwächt wird. Usw.

Der eurasische Balkan erfasst frühere asiatische Republiken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Armenien, Georgien sowie Afghanistan. Brzezinski analysiert alle sowjetischen Republiken eingehend anhand der Hauptfrage: Wie stark ist der Einfluss des Kremls, der aus der „kolonialen und imperialen“ Vergangenheit Russlands herrührt, hier noch? Die Vorteile, die sich aus der Erhaltung der wirtschaftlichen und politischen Einheit der ehemaligen Republiken, beispielsweise in Form der GUS, ergeben könnten, überwiegen seiner Meinung nach eindeutig nicht. Er schreibt: „Russlands Strategie läuft jedoch den Bestrebungen fast aller auf dem eurasischen Balkan angesiedelten Staaten zuwider. Ihre neuen politischen Eliten werden gewiss nicht freiwillig Macht und Privilegien aufgeben, die sie durch die Unabhängigkeit gewonnen haben. … Die zentralasiatischen Staaten mit ihren reichen Bodenschätzen und ebenso Aserbaidschan würden gern noch mehr amerikanisches, europäisches, japanisches und neuerdings auch koreanisches Kapital in ihre Länder locken. Auf diese Weise hoffen sie, ihre wirtschaftliche Entwicklung wesentlich beschleunigen und ihre Unabhängigkeit festigen zu können. Darum begrüßen sie auch, dass die Türkei und Iran eine immer wichtigere Rolle spielen, in der sie ein Gegengewicht zur russischen Macht und eine Brücke zur großen muslimischen Welt im Süden sehen.“ (4)

Wie in Europa hofft Brzezinski auf eine engere Zusammenarbeit zwischen den asiatischen Republiken, die ihre neugewonnene Souveränität vor russischem Einfluss schützen sollten. Er schreibt: „Die Angst von Russland veranlasste die zentralasiatischen Staaten außerdem zu einer stärkeren Zusammenarbeit. Die im Januar 1993 gegründete Zentralasiatische Wirtschaftsunion, die anfangs nur auf dem Papier existierte, erhielt nach und nach Substanz. Selbst der kasachische Präsident Nursultan Nasarbaew, zuerst überzeugter Verfechter einer neuen Eurasischen Union, bekehrte sich allmählich zur Idee einer engeren zentralasiatischen Kooperation. Er befürwortete eine stärkere militärische Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Region und die Unterstützung Aserbaidschans in dessen Bemühungen, Öl aus dem Kaspischen Meer und aus Kasachstan durch die Türkei zu schleusen. Außerdem trat er dafür ein, russischen und iranischen Versuchen, die Aufteilung des Kaspischen Schelfs und seinen Bodenschätzen unter den Anrainerstaaten zu verhindern, gemeinsam Widerstand entgegenzusetzen.“ (5)

Die Türkei und der Iran sind für Brzezinski selbstverständlich die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Akteure im eurasischen Balkan. Vor allem die Türkei mit ihrem Konzept des islamischen Gottesstaates, das als Befreiung ihrer Brüder aus langjähriger russischer Knechtschaft zu betrachtet ist, ist gegen die Interessen des Kremls. Brzezinski schreibt: „Jeder der drei Staaten (Russland, Türkei und Iran, Anm. d. Autors) strebt, das darf man wohl behaupten, zumindest nach eine Einflusssphäre; doch Moskau Ehrgeiz geht viel weiter, weil seine Erinnerung an imperiale Herrschaft noch relativ frisch ist, in der Region mehrere Millionen Russen leben und der Kreml Russland wieder in den Rang einer Weltmacht erheben möchte. Aus außenpolitischen Erklärungen Moskau geht klar hervor, dass es den gesamten Raum der früheren Sowjetunion als eine Zone besonderer geostrategischer Interessen betrachtet; aus der politischer und sogar wirtschaftlicher Einfluss von außerhalb ferngehalten werden sollte. … Demgemäß lehnte Moskau die Vorschläge zentralasiatischer Nationalisten ab, die verschiedenen zentralasiatischen Völker (von denen die meisten allenfalls ein rudimentäres Nationalgefühl entwickelt hatten) zu einer politischen Einheit zu verschmelzen – die den Namen Turkestan tragen sollte.“ (6)

Die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken Republiken versteht also Brzezinski in erster Linie als Unabhängigkeit von Russland zugunsten des Westens. Die Ukraine sollte dabei eine vorbildliche Rolle spielen. Er schreibt: „Die Konsolidierung einer souveränen Ukraine, die sich inzwischen als mitteleuropäischer Staat versteht und sich an einer engeren Integration mit Mitteleuropa beteiligt, ist eine ganz wesentliche Komponente einer solchen Politik. Dasselbe gilt für den Aufbau engerer Beziehungen zu strategischen Achsenstaaten wie Aserbaidschan und Usbekistan, ganz abgesehen von den allgemeineren Bemühungen, Zentralasien (allen Behinderungen Moskaus zum Trotz) dem Weltmarkt zu öffnen.“ (7)

Die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken ist in erster Linie ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit von Russland. Für Brzezinski besteht daher eines der wichtigsten geostrategischen Ziele in Zentralasien darin, Russland von den Öl- und Gasströmen abzuschneiden. Er hat dem in der Sowjetunion etablierten Energiesystem faktisch den Krieg erklärt. Er schreibt: „In diesem Hexenkessel geopolitischer Macht stehen somit der Zugang zu möglicherweise großem Reichtum, die Erfüllung nationaler und/oder religiöser Missionen und Sicherheit auf dem Spiel. In erster Linie jedoch geht es um Zugang zur Region, über den bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Moskau allein verfügen konnte. Alle Bahntransporte, Erdgas- und Erdöl-Pipelines und sogar der Flugverkehr wurden über das Zentrum geleitet. Die russischen Geopolitiker sähen es natürlich lieber, wenn es so bliebe, da sie genau wissen, dass derjenige, der den Zugang zur Region unter Kontrolle oder unter seiner Herrschaft hat, aller Wahrscheinlichkeit nach auch den geopolitischen und ökonomischen Gewinn einheimst. Genau diese Überlegung hat der Pipeline-Frage für die Zukunft des Kaspischen Beckens und Zentralasien eine so zentrale Bedeutung verliehen. Falls die wichtigsten Ölleitungen in die Region weiterhin durch russisches Territorium zum russischen Absatzmarkt am Schwarzen Meer in Noworossijsk verlaufen, werden sich die politischen Konsequenzen, auch ohne dass die Russen die Muskeln spielen lassen, bemerkbar machen. Die Region wird eine politische Dependance bleiben, und Moskau wird darüber entscheiden können, wie der neue Reichtum der Region verteilt werden soll. Wenn jedoch umgekehrt eine andere Pipeline über Kaspische Meer nach Aserbaidschan verläuft und durch die Türkei zum Mittelmeer und eine weitere durch den Iran zum Arabischen Meer führt, wird kein Staat das Monopol über den Zugang haben.“ (8)

Auf der Grundlage dieser Überlegung ist es leicht, die russische Geostrategie in dieser Region zu berechnen, was Brzezinski auch tut. Er schreibt: „Moskau setzte die neuen Staaten unter Druck, um sie so weit wie möglich für seine Vision von einem zunehmend integrierten Commonwealth zu gewinnen. Es drängte auf ein zentral gesteuerten Kontrollsystem über die Außengrenzen der GUS, auf engere militärische Integration innerhalb eines gemeinsamen außenpolitischen Rahmens und auf die Ausdehnung des bestehenden (ursprünglich sowjetischen) Pipeline-Netzes, um den Bau neuer Ölleitungen, die Russland umgehen könnten, zu verhindern. Strategische Analysen russischerseits haben ausdrücklich festgestellt, dass Moskau dieses Gebiet als eine angestammte geopolitische Interessensphäre betrachtet, auch wenn es nicht mehr Bestandteil seines Imperiums ist.“ (9)

Brzezinski begrüßt daher alle Bemühungen der zentralasiatischen Staaten, neue Pipelines zu bauen, um Russland zu umgehen und generell eine unabhängige Politik zu betreiben. Er schreibt: „Mit großem Trara wurde 1995 eine neue Bahnverbindung zwischen Turkmenistan und dem Iran eröffnet; auf diesem Weg können Europa und Zentralasien, unter gänzlicher Umgehung Russlands, miteinander Handel treiben. Diese Wiedereröffnung der alten Seidenstraße hatte etwas Symbolträchtiges, da Russland nun nicht in der Lage ist, Europa von Asien zu trennen.“ (10)

Sogenannte Nationalismen, die nach Ansicht Brzezinskis in Europa unerwünscht sind, weil sie amerikanischen Interessen widersprechen, sind in den zentralasiatischen Republiken verständlich und legitim. Sie entsprechen der amerikanischen Geostrategie in Zentralasien, nämlich die Region aus dem Einflussbereich Russlands herauszunehmen. Er schreibt: „Während die Russen vor Ort allmählich ihre vormals privilegierten Posten räumen, entwickeln die neuen Führungskräfte rasch ein persönliches Interesse an staatlicher Souveränität – ein dynamischer und ansteckender Prozess, der gleichfalls in den einst politisch passiven Bevölkerung zu beobachten ist, in denen sich ein nationalistisches Denken und, außerhalb Georgien und Armenien, auch ein stärkeres islamisches Bewusstsein breitmachen.“ (11)

Die wichtige Rolle beim Wachsen des nationalen Bewusstseins der zentralasiatischen Völker spielt dabei Usbekistan – mit seiner wesentlich homogenen Bevölkerung (ca. 25 Millionen). Brzezinski schreibt: „In der Tat betrachten manche Usbeken ihr Land als den nationalen Kern eines gemeinsamen zentralasiatischen Staatsgebildes, dessen Hauptstadt vermutlich Taschkent wäre. Die politische Führungsschicht Usbekistans – und in dem zunehmendem Maße auch seine Bevölkerung – bringt bessere subjektive Voraussetzungen für einen modernen Nationalstaat mit als die Herrschaftseliten der anderen zentralasiatischen Staaten, und sie ist – ungeachtet innenpolitischer Schwierigkeiten – fest entschlossen, nie mehr auf den Status einer Kolonie zurückzufallen. Infolgedessen kommt Usbekistan bei der Förderung eines modernen Nationalismus eine Vorreiterrolle zu.“ (12)

Brzezinski zeigt, wie schmerzhaft Russland darauf reagiert. Er schreibt: „Die stark nationalistische Haltung der usbekischen Führung hatte in der russischen Presse scharfe Verurteilungen ausgelöst wegen Usbekistans strickt prowestlicher Orientierung in der Wirtschaft, harscher Schmähungen gegen die Integrationsverträge innerhalb der GUS, entschiedener Ablehnung, selbst der Zollunion beizutreten, und wegen einer methodisch antirussischen Nationalitätenpolitik (sogar Kindergärten, die Russen benutzen, werden geschlossen) … Für die Vereinigten Staaten, die in Asien eine Politik der Schwächung Russlands verfolgen, ist diese Position ungemein attraktiv.“ (13)

Nicht nur Usbekistan, sondern auch viele andere ehemalige Republiken der Sowjetunion, darunter Georgien und die Ukraine, haben seit deren Zusammenbruch einen eindeutig antirussischen Charakter, ganz zu schweigen von Tschetschenien. Nach Brzezinskis Logik ist es gerade die antirussische Orientierung, die zur Grundlage des modernen Nationalismus in den Staaten geworden ist, die auf den Trümmern der UdSSR entstanden sind. Ein solcher Nationalismus steht voll und ganz im Einklang mit den amerikanischen Interessen in Eurasien und ihrem Wunsch, Russland in den demokratischen Westen zu integrieren. So reduziert sich Amerikas Geostrategie gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken auf die Unterstützung ihrer antirussischen nationalen Politik als wirksame Methode zur Bekämpfung des „imperialen“ Russlands.

Natürlich war sich Brzezinski bewusst, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken nicht vollständig von Russland losgerissen werden konnten. Aber er machte den Erfolg ihrer Zusammenarbeit mit Russland direkt davon abhängig, wie sich das ehemalige russische Reich in der Region verhalten würde: wieder in imperialer Manier oder Anerkennung der vollen Souveränität dieser Republiken. Er schreibt: „Somit kann das Bemühen Russlands, allein über den Zugang zu bestimmen, nicht hingenommen werden, da es der regionalen Stabilität abträglich ist. Russland aus der Region auszuschließen ist indessen weder wünschenswert noch machbar, und ebenso wenig ist es sinnvoll, Feindseligkeit zwischen den neuen Staaten des Gebiets und Russland zu schüren. Die aktive wirtschaftliche Teilnahme Russlands an der Entwicklung der Region ist nämlich ganz entscheidend für deren Stabilität – und im Gegensatz zu Russland als ausschließlichem Beherrscher kann ein Partner Russland erhebliche ökonomische Früchte tragen. Größere Stabilität und vermehrter Reichtum innerhalb der Region würden zu Russlands Wohlergehen beitragen und dem Commonwealth, das das Akronym GUS verspricht, wirklichen Sinn geben. Aber diese kooperative Option wird sich Russlands Politik nur dann zu eigen machen, wenn es seine viel ehrgeizigen, historisch anachronistischen und auf schmerzliche Weise an den europäischen Balkan erinnernden Pläne ein für alle Mal aufgibt.“ (14)

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, schien Brzezinskis Herangehensweise an die Probleme der Region durchaus gerechtfertigt. Russland war zu schwach, um die ehemaligen Sowjetrepubliken wirksam zu beeinflussen, während das Interesse des Westens an den riesigen Öl-, Gas- und anderen Mineraleinreserven der Region enorm war. Es ging um die tatsächliche Energiesicherheit des Westens. Brzezinski schreibt: „Der weltweite Energieverbrauch wird sich in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten enorm erhöhen. Schätzungen des US-Department of Energy zufolge steigt die globale Nachfrage zwischen 1993 und 2015 um voraussichtlich mehr als 50 Prozent, und dabei dürfte der Ferne Osten die bedeutendste Zunahme verzeichnen. Schon jetzt ruft die wirtschaftliche Aufschwung in Asien einen massiven Ansturm auf die Erforschung und Ausbeutung neuer Energievorkommen hervor, und es ist bekannt, dass die zentralasiatische Region und das Kaspische Becken über Erdgas- und Erdölvorräte verfügen, die jene Kuwaits, des Golfs von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellen.“ (15)

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Doch Amerikas Schieferrevolution hat das Interesse an der Region stark gedämpft: In zwei Jahrzehnten sind die USA von einem Importeur zu einem Exporteur von Öl und Gas geworden, und die amerikanische Wirtschaft hat sich in der zentralasiatischen Region und im Kaspischen Becken nie durchgesetzt. Der Westen verlor den Pipeline-Krieg mit Russland, und China wurde zum Hauptinvestor für die Wiederbelebung der Seidenstraße. Die amerikanische Geopolitik in der Region hat ihre wirtschaftliche Komponente verloren, wobei nur ihr politischer, militärischer und ideologischer Teil beibehalten wird.

Dies ermöglichte es den historischen Nachbarn im Zentrum Eurasiens, ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu stärken, ohne Grenz- und ethnische Konflikte zu entfachen. Die zentralasiatischen Republiken und Russland haben aus der Erfahrung gelernt, ihre Beziehungen auf der Grundlage rationaler Überlegungen aufzubauen, die nicht auf Ideologie, sondern auf den nationalen Interessen der Länder beruhen. Der geopolitische Pluralismus, den Brzezinski für diese Länder vorschlug, hat sich ebenfalls als nützlich erwiesen: Er gilt nun gleichermaßen für den Westen und Russland. Usbekistan beispielsweise ist ein Beispiel für die Abschwächung der antirussischen Ausrichtung seiner Politik, indem es die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Russland stärkt, das Erlernen der russischen Sprache in usbekischen Kindergarten und Schulen fördert usw. Eine klare Überraschung für Brzezinski wäre die heutige gemeinsame Arbeit zwischen Russland, der Türkei und dem Iran zur Lösung der Konflikte im Nahen Osten. Ganz zu schweigen von der Tschetschenischen Republik, die zu einem Garanten der Stabilität im Kaukasus geworden ist.

Brzezinskis Idee, die zentralasiatischen Staaten unter dem Westen zu vereinen, wurde bisher nicht verwirklicht. Ein Beweis dafür sind die schleppend verlaufenden Aktivitäten des diplomatischen C5+1-Gipfels, an dem Diplomaten aus den fünf zentralasiatischen Staaten – Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – sowie der US-Außenminister teilnehmen, um gemeinsame Themen zu erörtern und die Beziehungen zwischen den zentralasiatischen Staaten zu stärken. (16)

Wo hat sich Brzezinski verkalkuliert? Warum sind die Länder Zentralasiens und nicht beispielsweise die Ukraine, Georgien und Armenien, die die christliche Welt repräsentieren, heute besonders freundlich zu Russland und China? Vielleicht liegt es daran, dass die europäische Zivilisation, nachdem sie die Phase der Christianisierung der Neuen Welt hinter sich gelassen hat und an die Universalität ihrer Werte glaubt, nie gelernt hat, mit der kulturellen Vielfalt zu leben, wie es bei den asiatischen Völkern der Fall ist. Die Versprechungen des Westens, im Gegenzug auf die vollständige Unabhängigkeit von Russland volle Souveränität zu erlangen, konnten die Weisheit der asiatischen Völker, mit ihren sehr unterschiedlichen und schwierigen Nachbarn in Frieden zu leben, nicht überwinden.

Offensichtlich war Brzezinskis Unterstützung der nationalen Bestrebungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken, die darauf abzielten, Russlands imperialen Appetit zu zügeln, sein fataler Fehler. Die Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins der Völker führt nicht automatisch zur Konfrontation mit den Nachbarn, sondern trägt im Gegenteil dazu bei, die wahre Bedrohung für die Existenz des Landes zu erkennen, beispielsweise wenn das Land in fremde Konflikte hineingezogen wird. Dieses Verständnis lässt sich am besten an den zentralasiatischen Ländern demonstrieren.

Viele ehemalige Sowjetrepubliken haben erfahren, was Amerikas Interesse an ihnen bedeuten kann: Dieses Interesse hängt weitgehend davon ab, inwieweit ein Land dazu benutzt werden kann, das Entstehen eines starken Russlands im Zentrum Eurasiens zu verhindern, das Amerikas Ambitionen, ein planetarisches Imperium zu errichten, begraben könnte. Die Menschen in anderen Ländern müssen dies erst noch erkennen.

1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 155.

2. Ebenda, S. 155-157.

3. Ebenda, S, 175-176.

4. Ebenda, S. 179.

5. Ebenda, S. 181-182.

6. Ebenda, S. 158, 170.

7. Ebenda, S. 247.

8. Ebenda, S. 174.

9. Ebenda, S. 177.

10. Ebenda, S. 180.

11. Ebenda, S. 179.

12. Ebenda, S. 163-164.

13. Ebenda, S. 180.

14. Ebenda, S. 184-185.

15. Ebenda, S. 156-157.

16. https://en.wikipedia.org/wiki/C5%2B1