Eurasien ist der zentrale Schauplatz für die neue Weltordnung

Solche Behauptungen basiert sich auf den Grundlagen der klassischen amerikanischen Geopolitik. Sie wurde von einem der bedeutendsten Theoretiker der Geopolitik, Harold Mackinder, zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert: „Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland. Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel. Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“ Die Weltinsel ist Eurasien, während unter dem Herzland die eurasische Zentralregion gemeint ist, die ganz Sibirien und einen Großteil Zentralasiens und Osteuropa umfasst, also Russland. Dieses riesige Gebiet, das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt, und insbesondere sein „Schwarzes Loch“, Russland, sind für Brzezinski der Schauplatz des global play, eine Art geopolitisches Schachbrett, auf dem sich der Kampf um die Weltherrschaft abspielt. (1)

Mitte der neunziger Jahre, als Brzezinski seine Geostrategie entwickelte, schien es, als läge Eurasien Amerika zu Füßen. Er schreibt: „Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. Ein halbes Jahrtausend lang haben europäische und asiatische Mächte und Völker in Ringen um die regionale Vorherrschaft und dem Streben nach Weltmacht die Weltgeschichte bestimmt. Nun gibt dort eine nicht eurasische Macht den Ton an – und der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann.“ (2)

Das Einzige, was noch zu tun war, war, den Reichtum, der auf Amerika gefallen war, klug zu verwalten. Brzezinski schreibt: „Es ist an der Zeit, dass Amerika eine einheitliche, umfassende und langfristige Geostrategie für Eurasien als Ganzes formuliert und verfolgt. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus dem Zusammenwirken zweier grundlegender Faktoren: Amerika ist heute die einzige Supermacht auf der Welt, und Eurasien ist der zentrale Schauplatz. Von daher wird die Frage, wie die Macht auf dem eurasischen Kontinent verteilt wird, für die globale Vormachtstellung und das historische Vermächtnis Amerikas von entscheidender Bedeutung sein. … Amerika ist nun der Schiedsrichter Eurasiens, und kein größeres eurasisches Problem lässt sich ohne die Beteiligung der USA oder gegen ihre Interessen lösen.“ (3)

Aber eine Geostrategie für Eurasien, so Brzezinski, muss auf der Einsicht gründen, dass auch der Macht Amerikas als ein außereurasischer Staat Grenzen gesetzt sind und dass mit der Zeit Verschleißerscheinungen unvermeidlich sind. Allein die schiere Größe und Vielfalt Eurasiens wie auch die potenzielle Macht einiger seiner Staaten setzen dem Einfluss Amerikas und dem Ausmaß seiner Kontrolle über den Gang der Ereignisse Grenzen. All dies erfordert einen besonderen Ansatz für die Geopolitik auf dem eurasischen Kontinent. Brzezinski schreibt: „Dieser Umstand erfordert geostrategisches Verständnis und den bewusst selektiven Einsatz amerikanischer Ressourcen auf dem riesigen eurasischen Schachbrett. Und da die beispiellose Macht der USA mit der Zeit notgedrungen abnimmt, muss es in erster Linie darum gehen, mit dem Aufkommen anderer regionaler Mächte so zurechtzukommen, dass Amerikas globale Vormachtstellung nicht bedroht wird. Wie beim Schach müssen Amerikas globale Strategen etliche Züge im Voraus durchdenken und mögliche Züge des Gegners vorwegnehmen.“ (4)

Das mögliche Entstehen von Weltmächten, die Amerika auf dem Kontinent entgegentreten könnten, bereitet Brzezinski am meisten Kopfzerbrechen. Er schreibt: „In der Geopolitik geht es nicht mehr um regionale, sondern um globale Dimensionen, wobei eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist. Die Vereinigten Staaten, also eine außereurasische Macht, genießen nun internationalen Vorrang; ihre Truppen sind an drei Randgebieten des eurasischen Kontinents präsent, von wo aus sie einen massiven Einfluss auf die im eurasischen Hinterland ansässigen Staaten ausüben. Aber das weltweit wichtigste Spielfeld – Eurasien – ist der Ort, auf dem Amerika irgendwann ein potenzieller Nebenbuhler um die Weltmacht erwachsen könnte. Eine amerikanische Geostrategie, die die geopolitischen Interessen der USA in Eurasien langfristig sichern soll, wird sich somit als Erstes auf die Hauptakteure konzentrieren und eine entsprechende Einschätzung des Terrains vornehmen müssen.“ (5)

Brzezinski schlägt vor, dynamische eurasische Staaten zu identifizieren, die in der Lage sind, die Kräfteverteilung in den internationalen Beziehungen zu verändern, die zentralen außenpolitischen Ziele ihrer politischen Eliten zu enträtseln und eine spezifische US-Politik zu formulieren, um die Lage auf dem Kontinent zu kontrollieren und wichtige US-Interessen zu wahren und zu fördern. Am deutlichsten aber formulierte er die Essenz der Geostrategie auf dem eurasischen Kontinent auf der Grundlage historischer Erfahrungen. Er schreibt: „Bedient man sich einer Terminologie, die an das brutale Zeitalter der alten Weltreiche gemacht, so lautet die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen sowie dafür zu sorgen, dass die ‚Barbarenvölker‘ sich nicht zusammenschließen.“ (6)

Der entscheidende Faktor für die amerikanische Weltherrschaft wird somit das Geschick und die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, die wichtigsten geostrategischen Akteure auf diesem Schachbrett zu steuern und ihnen andererseits entgegenzukommen. Wie beim Schachspiel muss Amerika seine globalen Strategien mehrere Züge im Voraus durchdenken und mögliche Züge des Gegners vorwegnehmen. Alle geopolitischen Spieler auf dem eurasischen Schachbrett bekommen die eigenen Geostrategien, abhängig von ihrem geopolitischen Status. Die „geostrategischen Akteure“ sind diejenigen, die „die Kapazität und den nationalen Willen besitzen, über ihre Grenzen hinaus Macht oder Einfluss auszuüben, um den geopolitischen Status quo in einem Amerikas Interessen berührenden Ausmaß zu verändern“. Es gibt auch die „geopolitische Dreh- und Angelpunkte“: Das sind die Staaten, „deren Bedeutung nicht aus ihrer Macht und Motivation resultiert, sondern sich vielmehr aus ihrer prekären geografischen Lage und aus den Folgen ergeben, die ihr Verhalten aufgrund ihrer potenziellen Verwundbarkeit bestimmen.“ (7)

Brzezinski ermittelt auf der neuen politischen Landkarte Eurasiens mindestens fünf geostrategische Hauptakteure und fünf geopolitische Dreh- und Angelpunkte (von denen zwei vielleicht zum Teil auch als Akteure in Frage kommen). Frankreich, Deutschland, Russland, China und Indien sind Hauptakteure, während Großbritannien, Japan, Indonesien, ob zwar zugegebenermaßen ebenfalls sehr wichtige Länder, die Bedingungen dafür nicht erfüllen. Die Ukraine, Aserbaidschan, Südkorea, die Türkei und der Iran stellen geopolitische Dreh- und Angelpunkte von entscheidender Bedeutung dar, wenngleich sowohl die Türkei als auch der Iran in einem gewissen Umfang – innerhalb ihrer begrenzten Möglichkeiten – geostrategisch aktiv sind. (8)

Angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Verwirklichung des eurasischen Projekts verbunden sind, schlägt Brzezinski vor, es in Phasen zu unterteilen. Eine konsequente Geostrategie, so Brzezinski, muss zwischen kurzfristiger Perspektive (grob gesagt, für die nächsten fünf Jahre), einer mittelfristigen (bis zu zwanzig Jahren) und einer langfristigen (über zwanzig Jahre hinaus) Perspektive unterscheiden. Zudem dürfen diese Zeitabschnitte nicht als in sich abgeschlossen betrachtet werden, sondern als Teil eines Kontinuums. Die erste Phase muss allmählich und stetig in die zweite überleiten und die zweite muss entsprechend in die dritte übergehen. (9)

Brzezinski schreibt: „Kurzfristig ist es in Amerikas Interesse, den derzeit herrschenden Pluralismus auf der Landkarte Eurasiens zu festigen und fortzuschreiben. Dies erfordert ein hohes Maß an Taktieren und Manipulieren, damit keine gegnerische Koalition zustande kommt, die schließlich Amerikas Vorrangstellung in Frage stellen könnte. … Mittelfristig sollte die eben beschriebene Situation allmählich einer anderen weichen, in der auf zunehmend wichtigere, aber strategisch kompatible Partner größeres Gewicht gelegt wird, die, veranlasst durch die Führungsrolle Amerikas, am Aufbau eines kooperativeren transeurasischen Sicherheitssystems mitwirken können. Schließlich, noch längerfristiger gedacht, könnte sich aus diesem ein globaler Kern echter gemeinsamer politischer Verantwortung herausbilden.“ (10)

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Kurz zu sagen, es handelt sich um Festigung des Vorrangs der USA in Eurasien, um Aufbau eines sicheren Netzes von eurasischen aktiven Akteuren und letztendlich um Schaffung einer globalen politischen Verantwortung unter der amerikanischen Schirmherrschaft. Aber am Anfang und im Grunde des Erfolges der eurasischen Geostrategie liegt die Fähigkeit Amerikas, die Entstehung eines potenziellen Nebenbuhlers zu verhindern. Zunächst einmal geht es natürlich um Russland und China. Ein postimperiales, postkommunistisches, auf Europa ausgerichtetes Russland ist nicht nur Brzezinskis Traum, sondern auch eine notwendige Bedingung für den Erfolg seines Konzepts.

Brzezinskis Sorge um die Wiederbelebung des russischen Imperiums war so groß, dass sie zur falschen Darstellung des Begriffes des Imperiums im Allgemeinen führte. Wenn zum Beispiel westliche Politiker über den russischen Imperialismus sprechen, der heute direkt mit Putins imperialen Ambitionen verbunden ist, sagen sie nicht, welche Art von Imperialismus sie damit meinen. Keines der großen Reiche der Vergangenheit hatte den Anspruch, Weltmacht zu sein – sie waren Regionalmächte. Die Entstehung und Entwicklung regionaler Mächte, ja sogar regionaler Imperien, ist ein unvermeidlicher Prozess, wie die Geschichte bestätigt. Sie haben einen enormen Beitrag für die Menschheit geleistet und werden es auch weiterhin tun. Aber erst nach der Entdeckung Amerikas entstand das erste planetarische Imperium, das britische Empire. Nach dem Ersten Weltkrieg begannen die Vereinigten Staaten von Amerika, die Rolle eines globalen Imperiums zu beanspruchen. Auch heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, erheben sie den Anspruch, ein globales Imperium zu sein. Alle anderen Staaten können nur den Status von Regionalmächten beanspruchen, auch Russland, das nach seiner Niederlage im ideologischen Kampf mit dem Westen seinen Status als Weltreich verloren hat. Eine regionale Macht ist doch kein globales Imperium. Das westliche Narrativ vom russischen Imperialismus ist also nur ein weiterer westlicher Mythos, der in Wirklichkeit nur dazu dient, die wahren imperialen Ambitionen Amerikas zu verschleiern.

Natürlich baut Brzezinski alle seine Strategien für die Spieler auf dem eurasischen Schachbrett auf der Logik der einzigen Weltmacht Amerikas auf. Das ist sein großes Verdienst für derjenigen, die dieser Logik folgen, aber auch derjenigen, die eine Alternative suchen, um dieser Logik zu widerstehen. Die Logik ist schwer zu täuschen, wenn sie denn wirklich logisch ist. Deshalb hat Brzezinskis Geostrategie bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Sie umreißt klar den Horizont der amerikanischen Politik im Rahmen des Aufbaus einer unipolaren Welt. Ein Schritt nach links oder ein Schritt nach rechts verstößt gegen diese Strategie und entfernt Amerika damit von seinem hochgesteckten Ziel, die einzige Supermacht zu werden. Die gegenwärtige amerikanische Politik bestätigt nur die Macht von Brzezinskis geostrategischem Denken: Besessen von seinem Ziel, ist Amerika einfach gezwungen, seiner Logik zu folgen. Dementsprechend wächst die Opposition derjenigen Staaten, die in dem Konzept einer multipolaren Welt ein gerechteres Modell für den Aufbau einer künftigen Weltordnung sehen. Dies ist in der Tat der Hauptgrund für die Konfrontation zwischen dem Westen und dem Osten.

1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 46-49, 55-56.

2. Ebenda, S. 47

3. Ebenda, S. 237.

4. Ebenda, S. 241.

5. Ebenda, S. 56-57.

6. Ebenda, S. 57-58.

7. Ebenda, S. 58, 237.

8. Ebenda, S. 59.

9. Ebenda, S. 56, 241.

10. Ebenda, S. 241-242.