Geostrategie gegenüber Ukraine

Eine amerikanische Geostrategie gegenüber der Ukraine besteht darin, sie zu einem Totengräber der imperialen Ansprüche Russlands zu machen.

„Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ Dies ist Brzezinskis Grundidee in Bezug auf die Ukraine. Er schreibt: „Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch. Selbst ohne die baltischen Staaten und Polen könnte ein Russland, das die Kontrolle über die Ukraine behielte, noch immer die Führung eines selbstbewussten eurasischen Reiches anstreben, in welchem Moskau die nichtslawischen Völker im Süden und Südosten der ehemaligen Sowjetunion dominieren könnte. Aber ohne die Ukraine mit ihren 52 Millionen slawischen Brüdern und Schwestern droht jeder Versuch Moskaus, das eurasische Reich wiederaufzubauen, Russland in langwierige Konflikte mit den national und religiös motivierten Nichtslawen zu verwickeln, wobei der Krieg mit Tschetschenien vielleicht nur ein Vorgeschmack war.“ (1)

Brzezinski war davon überzeugt, dass allein die Existenz der Ukraine als unabhängiger Staat Russland dazu zwingen könnte, sich zu verändern. Er schreibt: „Das Auftreten eines unabhängigen ukrainischen Staates zwang nicht nur alle Russen, das Wesen ihrer eigenen politischen und ethnischen Identität neu zu überdenken, sondern stellte auch für den russischen Staat ein schwerwiegendes geopolitisches Hindernis dar. Da mehr als 300 Jahre russische Reichsgeschichte plötzlich gegenstandslos wurden, bedeutet das den Verlust einer potenziell reichen industriellen und agrarischen Wirtschaft sowie von 52 Millionen Menschen, die den Russen ethnisch und religiös nahe genug standen, um Russland zu einem wirklich großen und selbstsicheren imperialen Staat zu machen.“ (2)

Doch den größten geopolitischen Verlust erwartete Russland am Schwarzen Meer. Brzezinski schreibt: „Die unabhängige Ukraine beraubte Russland zudem seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war. … Bis 1991 konnte die Sowjetmacht vom Schwarzen Meer aus ihre Kreuzer ins Mittelmeer entsenden. Mitte der neunziger Jahre verfügte Russland nur noch über einen schmalen Küstenstreifen am Schwarzen Meer und war mit der Ukraine in einen ungelösten Streit über die Stützpunkterechte auf der Krim für die Reste der sowjetischen Schwarzmeerflotte verstrickt, während es mit offenkundiger Verärgerung zusah, wie NATO- und ukrainische Streitkräfte gemeinsam See- und Landemanöver durchführten und der türkische Einfluss in der Schwarzmeerregion wuchs. Außerdem verdächtigte Russland die Türkei, den tschetschenischen Widerstand mit Hilfslieferungen unterstützt zu haben.“ (3)

Die Ukraine spielte auch eine Schlüsselrolle bei der Unabhängigkeitsparade aller ehemaligen Sowjetrepubliken. Brzezinski schreibt: „Der Wegfall der Ukraine wirkte auch als geopolitischer Katalysator. Politische Schritte der ukrainischen Führung – die ukrainische Unabhängigkeitserklärung im Dezember 1991, das Insistieren bei den kritischen Verhandlungen in Belavezha, dass die Sowjetunion durch eine losere Gemeinschaft unabhängiger Staaten ersetzt werden sollte, und vor allem die unerwartete, staatsstreichartige Unterstellung der auf ukrainischem Boden stationierten Einheiten der Sowjetarmee unter ukrainisches Kommando – verhinderten, dass sich unter dem neuen Namen GUS die alte UdSSR in etwas föderalem Gewand verbarg. Die politische Selbstbestimmung der Ukraine machte Moskau fassungslos und setzte ein Beispiel, dem die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, wenn auch anfangs eher zögerlich, folgten.“ (4)

Dementsprechend wurden alle russischen Versuche, im postsowjetischen Raum irgendeine Art von Zusammenarbeit – sei es wirtschaftlich oder politisch – aufzubauen, von Kiew von Anfang an zurückgewiesen. Brzezinski schreibt: „Besonders in der Ukraine stießen Moskaus Vorstellungen einer Integration auf massive Opposition. Ihre politische Führung erkannte rasch, dass eine solche Integration angesichts der russischen Vorbehalte gegen die Legitimität der ukrainischen Unabhängigkeit am Ende womöglich zum Verlust nationaler Souveränität führen könnte. Zudem hatte der ungeschickte Umgang Russlands mit dem neuen ukrainischen Staat – seine mangelnde Bereitschaft, dessen Grenzen anzuerkennen, sein Bestreiten des ukrainischen Rechts auf die Krim, sein Beharren auf der ausschließlich exterritorialen Kontrolle über den Hafen von Sewastopol – dem neuerwachten ukrainischen Nationalismus eine unverkennbar antirussische Schärfe verliehen. Während der kritischen Aufbauphase des neuen Staates gewann die Ukraine ihr nationales Selbstverständnis daher nicht wie früher aus ihrer antipolnischen und antirumänischen Orientierung, sondern konzentrierte sich stattdessen auf den Widerstand gegen alle russischen Vorschläge für eine stärker integrierte GUS, eine besondere slawische Gemeinschaft (mit Russland und Weißrussland) oder eine eurasische Union, die allesamt als imperialistische Taktik der Russen gedeutet wurden.“ (5)

Der Wunsch der Ukraine nach Unabhängigkeit von Russland entsprach voll und ganz der amerikanischen Geostrategie auf dem eurasischen Kontinent, und daher war ihre Unterstützung durch den Westen garantiert. Brzezinski schreibt: „Die Entschlossenheit der Ukraine, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren, erhielt Unterstützung von außen. Obwohl der Westen, vor allem die Vereinigten Staaten, die geopolitische Bedeutung eines souveränen ukrainischen Staates erst reichlich spät erkannt hatte, waren um die Mitte der neunziger Jahre sowohl Amerika als auch Deutschland zu eifrigen Förderern einer eigenständigen Identität Kiews geworden. Im Juli 1996 erklärte der amerikanische Verteidigungsminister: Die Bedeutung der unabhängigen Ukraine ist für die Sicherheit und Stabilität von ganz Europa nicht zu überschätzen und im September ging der deutsche Kanzler – ungeachtet seiner starken Unterstützung für Boris Jelzin – sogar noch weiter mit der Versicherung, dass der feste Platz der Ukraine in Europa von niemanden mehr infrage gestellt werden kann … … Irgendwann zwischen 2005 und 2010 sollte die Ukraine für ernsthafte Verhandlungen sowohl mit der EU als auch mit der NATO bereit sein, insbesondere wenn das Land in der Zwischenzeit (bis Schaffung einer neuer transeurasischen Sicherheitsstruktur) bedeutende Fortschritte bei seinen innenpolitischen Reformen vorzuweisen und sich deutlicher als ein mitteleuropäischer Staat ausgewiesen hat. In der Zwischenzeit wird sich wahrscheinlich die deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit, vor allem im Bereich der Verteidigung, beträchtlich vertieft haben. Die Zusammenarbeit könnte der westliche Kern weiterer europäischer Sicherheitsvereinbarungen werden, die schließlich sogar Russland und die Ukraine einbeziehen möchten. Angesichts des besonderen geopolitischen Interesses, das Deutschland und Polen an der Unabhängigkeit der Ukraine haben, ist auch durchaus denkbar, dass die Ukraine allmählich in das Sonderverhältnis zwischen Frankreich, Deutschland und Polen eingebunden wird.“ (6)

Brzezinski war sich sicher, dass Amerika einen Konflikt mit Russland in der Ukraine nicht vermeiden konnte, opferte diesen Konflikt aber bewusst seinem wichtigsten geopolitischen Ziel, nämlich das Entstehen einer neuen Weltmacht auf dem eurasischen Kontinent zu verhindern. Er schreibt: „In der seit spätestens 1994 zunehmenden Tendenz der USA, den amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchste Priorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationale Freiheit bewahren zu helfen, erblickten viele in Moskau –sogar die sogenannten Westler – eine gegen das vitale russische Interesse gerichtete Politik, die Ukraine schließlich wieder in den Schoß der Gemeinschaft zurückzuholen. Dass sich die Ukraine eines Tages irgendwie reintegrieren lasse, gehört nach wie vor zum Credo vieler Mitglieder der russischen Politelite. Der Zusammenprall war unvermeidbar: Der Umstand, dass Russland die Souveränität der Ukraine aus geopolitischen und historischen Gründen in Frage stellte, stand gegen die amerikanische Überzeugung, dass ein imperialistisches Russland kein demokratisches Russland sein könne.“ (7)

* * *

Ohne die geostrategische Logik in Bezug auf die Ukraine zu verstehen, ist es unmöglich, die Ursache des ukrainischen Konflikts zu begreifen (d.h. justa causa, im juristischen Sinne). Mit dem Verlust der Ukraine begraben die USA automatisch ihre Pläne zum Aufbau einer neuen Weltordnung, in der die USA die einzige Weltmacht bleiben sollen. Der Verlust der Ukraine bedeutet für Russland die vollständige Unterwerfung unter die amerikanischen Pläne zur Gestaltung einer neuen Weltordnung, in der es die Rolle einer Zapfsäule einnehmen soll. Auf den ersten Blick ist eine Niederlage im Kampf um die Ukraine für beide Seiten inakzeptabel: für Russland würde sie einen vollständigen Verlust der Souveränität bedeuten, für Amerika einen Verlust an internationaler Autorität und Führungsrolle. Dies erklärt weitgehend das entschiedene „Nein“ der Ukraine zur NATO-Mitgliedschaft und Russlands hartnäckige Verteidigung seiner wirtschaftlichen, politischen, historischen und militärischen Interessen in der einst reichsten Republik der UdSSR. Die aktive finanzielle und militärische Unterstützung der ukrainischen Regierung durch Amerika und seine Satelliten ist ebenfalls ganz offensichtlich. Man kann sagen, dass das russische Projekt „Anti-Westen“ in eine tödliche Schlacht mit dem amerikanisch-ukrainischen Projekt „Anti-Russland“ eingetreten ist.

So wurde das ukrainische Volk in einen Stellvertreterkrieg hineingezogen, dessen Hauptakteure wieder einmal die traditionellen Rivalen des Kalten Krieges, Russland und Amerika, waren. Mit anderen Worten: Die Ukrainer wurden in den Schmelzofen eines globalen Konflikts geworfen, der nach Brzezinskis Logik von Anfang an unvermeidlich war. Zu viel steht geopolitisch auf dem Spiel, sodass der Eindruck entsteht, dass es kein Ende dieses Konflikts gibt, es sei denn, er eskaliert zu einem Dritten, nunmehr nuklearen Weltkrieg.

Doch in der US-Strategie gegenüber Putins Russland, die zweifellos auf Brzezinskis geopolitischer Logik beruht, hat sich ein Fehler eingeschlichen, der Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang des Konflikts in der Ukraine macht. Der Punkt ist, dass Brzezinski davon ausging, dass Russland zu schwach ist, um den Ausgang historischer Ereignisse zu beeinflussen, was bedeutet, dass es nicht mehr als gleichberechtigter Gegner (im juristischen Sinne als justus hostis) behandelt werden sollte. Dies ist ein großer Unterschied zwischen dem Konflikt in der Ukraine und jenen Konflikten, in denen sich die UdSSR und die USA während des Kalten Krieges gegenüberstanden.

Doch seitdem hat sich viel geändert: Russland hat seine Autarkie unter Beweis gestellt, auch in Bezug auf die technische Aufrüstung seiner Armee, und den harten Sanktionsdruck des Westens souverän überwunden. Russland ist spürbar stärker geworden, und an den Fronten des ukrainischen Stellvertreterkriegs gibt es für den Westen keinen leichten Sieg. Wir können sagen, dass Russland in diesem Krieg allmählich aber sicher den Status eines würdigen Feindes (juristisch gesehen – gerechter Feind) zurückgewinnt. Erfolge auf dem Schlachtfeld bringen diesen Moment wie immer näher. Das bedeutet, dass Amerika und Russland eines Tages zu einer Verhandlung kommen müssen, wie sie es in der Vergangenheit schon oft getan haben, wenn sie nicht zu Selbstmördern oder gar zu Mördern des Planeten werden wollen. Je früher ernsthafte Schritte in diese Richtung unternommen werden, desto besser für das ukrainische Volk und alle Völker Europas. Dies ist die Chance auf Hoffnung, die uns der große Geostratege Zbigniew Brzezinski hinterlassen hat.

1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 65, 119.

2. Ebenda, S. 118.

3. Ebenda, S. 118-120.

4. Ebenda, S. 119.

5. Ebenda, S. 142-143.

6. Ebenda, S. 143, 109.

7. Ebenda, S. 132.