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Ukraine-Krieg soll einen dritten Weltkrieg verhindern

Solche scheinbar paradoxe, aber gleichzeitig beruhigende Schlussfolgerung liefert uns Carl Schmitts Theorie der Kriminalisierung des Krieges, die er in seinem Traktat „Der Nomos der Erde“ (1950) als die größte Gefahr für den Weltfrieden darstellt.

Die Kriminalisierung des Krieges begann nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und nahm ihre ersten Formen in der Zwischenkriegszeit 1919-1939 über, müsste aber nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und dann in der bipolaren Welt des Kalten Krieges eine Pause einlegen, bis 1989/90, wenn nach dem Zerfall der Sowjetunion der Weg für die Fortsetzung der Kriminalisierung des Krieges wieder frei geworden war. Unter der kriminalisierten Kriegsführung sind dabei nicht mehr die Regeln und Methoden des Krieges als solche gemeint, sondern das Recht der Siegermächte, zu entscheiden, welcher Krieg gerecht oder ungerecht ist, wer ein Aggressor bzw. ein Kriegsverbrecher ist. Der Gegner auf der anderen Seite wird diskriminiert, zu einem Kriminellen, der nicht mehr den geltenden Regeln unterliegt. Gegen ihn wird kein Krieg mehr geführt, sondern eine Aktion wie eine Polizeimaßnahme gegen einen Schädling oder Störer.

Artikel-Themen: Carl Schmitt und seine Überlegungen zum Krieg und Frieden / Die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges / Die Erfolge des europäischen Völkerrechts vom 16. bis zum 20. Jahrhundert / Sinnwandel des Krieges / Die moderne Lehre des gerechten Krieges / Vernichtungskrieg als Endstation der Kriminalisierung des Krieges / Das europäische Gleichgewichts-System und Amerikas hegemoniales Gleichgewicht / Akt der Aggression ist noch nicht ein Angriffskrieg / Zwei Logiken der Weltentwicklung / Logik der multipolaren Welt gegen Logik der einzigen Supermacht Amerikas / Russlands Logik der Defensive / Kriminalisierung des Krieges nach Zerfall der Sowjetunion / Zeichen der Kriminalisierung des Krieges / Eine Sackgasse der Eskalation / Zwickmühle-Spiel statt des geopolitischen Schachspiels / Eine Wende in der Kriegsführung seit 24. Februar 2022 / Logik des Stellvertreterkrieges / Die Suche nach dem Neuen Nomos der Erde / Jus Publicum Europaeum als Muster der multipolaren Weltordnung / Kalter Krieg 2: Eine Übergangsphase

Carl Schmitt und seine Überlegungen zum Krieg, Frieden und Völkerrecht

Leider wird die Theorie der Kriminalisierung des Krieges heute hartnäckig totgeschwiegen. Vergeblich, denn deutscher Staatsrechtler und politischer Philosoph Carl Schmitt (1888-1985) gilt in vielen und insbesondere in den Fragen des Krieges, Friedens und Völkerrechtes als unbestrittene, obwohl in Deutschland „ungeliebte“ Autorität. Seine klare und lesbare Texte zu den großen Fragen der Gegenwart, etwa über die Weltentwicklung und die Weltordnung im Werk „Land und Meer“ (1942) oder über den Wert-Systemen im „Die Tyrannei der Werte“ (1967) sind ein guter Wegweiser für diejenigen, die nach der Ursache der heutigen globalen Krise nachdenkt. Sogar sein fundamentales Werk „Der Nomos der Erde“ (1950), das mehr juristische als aufklärerische Bedeutung hat, ist für alle Interessierten genug verständlich. Es ist eine Sisyphusarbeit, in den Werken Schmitts, die ihn weltweit berühmt gemacht haben, ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus zu finden, womit jede Kritik an dem deutschen Gelehrten eigentlich in Deutschland beginnt und endet.

In diesem Sinne kann die Bedeutung des Schmitts Gedankengutes nicht unterschätzt werden. Als Jurist, der sich in seinen Werken auf eine gründliche Untersuchung der Geschichte der Weltordnung und des Völkerrechts stützt, liefert er eine gute rechtliche Grundlage, um zu klären, wer tatsächlich einen Krieg anzettelt, wer dabei der Aggressor ist, wer tatsächlich für den Frieden und wer für die Konfrontation ist.

Carl Schmitts Formel des Friedens, die er als eine große Warnung an die Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert hat, scheint heute hochaktuell zu werden, insbesondere vor dem Hintergrund der russischen Spezialoperation in der Ukraine. Die größte Gefahr für Weltfrieden, nach Schmitt, liegt nicht im Krieg an sich, sondern in der Kriminalisierung des Krieges, die nach dem Ersten Weltkrieg begann und sich in dem Anspruch der Siegermächte konzentriert, zu entscheiden, wer einen Aggressor im Krieg und Kriegsverbrecher ist, ohne auf die wichtigsten Fragen des Krieges einzugehen, wie etwa die Kriegsschuldfrage oder des Rechts auf Selbstverteidigung. Schmitt analysiert diesen Sinnwandel des Krieges anhand des Beispiels des Völkerbundes, der die Welt vom Beginn des neuen Vernichtungskriegs nicht gerettet hat.

Heute, einhundert Jahre danach, kehrt die Kriminalisierung des Krieges zurück und realisiert sich im Anspruch Amerikas, als Sieger im Kalten Krieg, endlich zur einzigen Supermacht zu werden. Es könnte aber zum neuen Vernichtungskrieg führen, jetzt schon zu einem atomaren Krieg, weil, nach Schmitt, die Kriminalisierung des Krieges in erster Linie eine Diskriminierung des Gegners bedeutet, gegen den dann keinen Krieg geführt wird, sondern eine polizeiliche Vernichtungsmaßnahme. Wie weit die westliche Macht bei der Kriminalisierung des Krieges durch die Diskriminierung Putins Russlands gehen will und kann, sollte genau in der Ukraine geprüft werden.

Nicht die NATO-Operation Allied Force 1999 in der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien, nicht die militärischen Operationen Iraqi Freedom in Irak 2003 und Odyssey Dawn in Libyen 2011, nicht die zehnjährige Operation Enduring Freedom in Afghanistan unter der amerikanischen Führung, die die staatliche Ordnung in diesen Ländern zerstörten und zu den zahlreichen Opfern zwischen Zivilbevölkerung führten, sondern der russische Einmarsch in der Ukraine wird von weiten Teilen der westlichen Gemeinschaft als Verstoß gegen die bestehende Weltordnung wahrgenommen. Dabei zögert der Westen nicht, seine eigene Meinung mit der Meinung der gesamten internationalen Gemeinschaft gleichzusetzen.

Viele juristische Begriffe, etwa Aggressionskrieg, Angreifer oder Kriegsverbrechen, sind in die Alltagssprache eingeflossen. Viele Themen, die vor einigen Jahren noch keine breite Öffentlichkeit berührt hatten, sind plötzlich wichtig geworden, etwa Kriegsrecht, Völkerrecht, Sicherheit, Genozid, Weltordnung usw. Es wurde plötzlich klar geworden, dass die Welt und die Weltordnung nicht mehr so bleiben kann, wie es lange Zeit war: vielleicht seit dem Zweiten Weltkrieg, wenn zwei unversöhnliche Gegner, der liberale Westen und der kommunistische Osten, zusammenschlossen, um gemeinsamen Feind, den Faschismus, zu bekämpfen.

Die Welt ist wieder gespaltet. Ein bestimmter Teil der Weltgemeinschaft, der sich als westliche Demokratien bezeichnet, verurteilt auf schärfste Weise Putins Russland und gibt Russland allein die Schuld im Ukraine-Konflikt. Der andere Teil der Weltbevölkerung, vorwiegend aus nicht-westlichen Entwicklungsländern, unterstützt dagegen Russland: wenn nicht auf offizielle Ebene, dann doch zumindest im Rahmen des traditionellen Antiamerikanismus. Im neuen totalen Krieg zwischen kollektiven Westen als Ausdruck der westlichen Macht und Russland, der eine moderne Form des globalen Krieges annimmt und als Dritten hybriden Weltkrieg bezeichnet werden könnte, ist die Frage der Kriegsschuld scheinbar verloren gegangen. Was ist die Ursache des plötzlichen Einmarsches Russlands in der Ukraine? Wer ist Angreifer und wer ist Verteidiger? Wo liegt die Ursache des Konfliktes zwischen Westen und Russland? Ist nur die russische Spezialoperation völkerrechtswidrig, oder doch auch die amerikanischen Spezialoperationen in Jugoslawien und Irak, die ohne Resolutionen der UNO begonnen haben, müssen als völkerrechtswidrig anerkannt und weltweit geächtet werden? Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen russischer und zahlreichen amerikanischen Spezialoperationen? Usw.

Leider sind diese und viele andere Fragen in den deutschen Mainstream-Medien keine gewünschten Gäste. Einige Einwände von westlichen Politikern, etwa von Sahra Wagenknecht, die den Mut finden, über die Mitverantwortung und „abweisende“ Politik gegenüber Russland seit 1989/90 zu sagen, ertrinken sich in der politisch-medialen Ächtung der Putins Politik. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung wurde aus dem internationalen Recht gestrichen. Die einseitige Verurteilung Russlands bei zahlreichen Fällen (etwa Giftanschlag auf Skripal, Beschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 oder Giftanschlag auf Alexei Nawalny), ohne ernsthafte Beweise vorzulegen oder mindestens die Ergebnisse der Untersuchung abzuwarten, haben die Tür für alle Arten von Provokationen und Falschmeldungen geöffnet. Dieser Prozess führt dazu, dass die Menschen zunehmend ein verzerrtes Bild von der Realität und den militärischen Ereignissen in der Ukraine bekommen, was ihre Vernunft lähmt und ihre Ängste schürt.

In einer solchen Situation wäre es wichtig, das maßgebliche Wort der Juristen zu hören, die eigentlich dazu berufen sind, die rechtlichen Aspekte des Krieges zu erläutern und gefährliche, von Emotionen getriebene Fehlentscheidungen zu verhindern. Aber in der Atmosphäre der totalen Politisierung und Moralisierung der internationalen Beziehungen hat der Standpunkt unabhängiger Anwälte jedoch kaum eine Chance, von der breiten westlichen Öffentlichkeit gehört zu werden.

An dieser Stelle könnte Carl Schmitts Theorie der Kriminalisierung des Krieges hilfreich sein. Diese Theorie offenbart den inneren Kern des Konflikts zwischen dem Westen und Russland bei der Suche nach einem neuen Nomos der Erde, oder mit anderen Worten, der Suche nach einer neuen Weltordnung, die heute die Form einer Konfrontation zwischen zwei Zukunftskonzepten annimmt – einer unipolaren und einer multipolaren Welt.

Die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges

Im Grunde der Kriminalisierung des Krieges liegt die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges, die Schmitt ausführlich untersuchte und zeigte, wie diese Lehre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs modernisiert wurde und mit der Entdeckung von moderner Vernichtungswaffe zur gefährlichsten Hürde auf der Weg zum Weltfrieden geworden ist.

Bei der Erklärung, welcher Krieg gerecht oder ungerecht ist, spielen, nach Schmitt, zwei juristische Begriffe, justus hostis und justa causa, eine fundamentale Bedeutung. Beim justus hostis geht es um einen rechtlich anerkannten, vom Verbrecher und vom Unmenschen unterschiedenen Feind. Die Fähigkeit, einen justus hostis anzuerkennen, ist für Schmitt der Anfang allen Völkerrechts. Die Frage ist, wer eigentlich ein gerechter oder ungerechter Feind in einem Krieg ist, während die Kriege selbst sehr unterschiedlich sind: von Bürger- und Religionskrieg bis Welt- und Stellvertreterkrieg. Gerechte oder ungerechte Feinde können Kombattanten, Räubern, Partisanen, Separatisten oder Aufständischen sein, aber auch die ganzen Staaten oder barbarische, unzivilisierte Völker im Allgemeinen, je nach Zeitpunkt, Art des Krieges oder geltenden Rechtslagen. (1)

Bei justa causa geht es um die Frage der Kriegsursache, die eine Erklärung von vielen anderen, bei jedem Krieg entstehenden Fragen verlangt, etwa: Was ist der Tatbestand des Verbrechens? Wer ist Aggressor und wer ist Verteidiger? Wer ist Ankläger und wer ist Angeklagter? Usw. Besonders die Kriegsschuldfrage war in allen Zeiten ein schwer gelostes Problem, bei dem große Skepsis herrscht, ob es überhaupt möglich ist, den Aggressor vom Verteidiger zu unterscheiden, ganz zu schweigen von der heutigen Zeit, in der jede Provokation ein Grund für eine Kriegserklärung sein kann, wie der deutsche Angriff auf Polen im September 1939. Zumindest das Recht auf Selbstverteidigung ist immer gegeben, sogar mit einem bekannten Satz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist.

Die Lehre des gerechten Krieges ist im Reich des christlich-europäischen Mittelalters, in der Republica Christiana, entstanden und sollte spanische und portugiesische Conquista nicht-christlichen Völkern rechtfertigen. Sofort nach der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus wurde vom Papst die Verteilungslinien in der Mitte des Atlantischen Ozeans zwischen Spanier und Portugiesen verlagert, um den christlichen Fürsten und Völker das Recht zu geben, aufgrund seines Missionsauftrags, nicht-christliche Gebiete missionieren und im weiteren Verlauf der Mission okkupieren. Entsprechend der mittelalterlichen Lehre des gerechten Krieges waren alle christlichen Fürsten rechtlich anerkannte justus hostis, also gerechte Krieger, die sich von den Gedanken über die Schuldfrage abstrahieren könnten, weil alle formale Fragen der justa causa auf sich die Autorität der Kirche übernahm. Auch die von der Kirche autorisierten Kreuzzüge waren die gerechten und sogar heiligten Kriege. Schon damals galt das Prinzip: Was im Krieg gegen nichtchristliche Fürsten und Völker erlaubt ist, ist im Krieg zwischen Christen verboten. (2)

Nach Schmitt war die Republica Christiana ein vor-globales Reich, d.h. ein Reich ohne Anspruch auf Weltherrschaft. Aber sie hat den einzigen Rechtstitel für den Übergang zu einer ersten globalen Ordnung des Völkerrechts geliefert, nämlich für das zwischenstaatliche europäische Völkerrecht der Zeit vom 16. zum 20. Jahrhundert, genannt als Jus Publicum Europaeum. Das Jus Publicum Europaeum hat seinerseits alle mittelalterlichen Rechtstitel des Papstes und des Kaisers abgeschafft und löste die Fragen des justus hostis und der justa causa auf ganz andere Weise: durch die Gleichberechtigung von souveränen europäischen Staaten. (3)

Nach dem Ersten Weltkrieg geriet das Jus Publicum Europaeum in Konflikt mit den rechtlichen Machtansprüchen der neuen Weltherrscher, vor allem der Vereinigten Staaten von Amerika, und wurde selbst aufgelöst. Gleichzeitig wurde die mittelalterliche Lehre vom gerechten Krieg wiederbelebt, nun aber in einer modernen und, wie Schmitt zeigte, völlig veränderten Form, deren Besonderheit darin besteht, dass sie zur Kriminalisierung des Krieges führt.

Heute, hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, ist die Rolle der Lehre des gerechten Krieges wieder von größter Bedeutung und hat einen entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Entwicklung des Weltfriedens. Die wichtigsten Fragen des Krieges, justus hostis und justa causa, die in dieser Lehre enthalten sind, rücken wieder in den Mittelpunkt: Was ist der Tatbestand der Konfrontation zwischen Westen und Russland? Wer ist Aggressor und wer ist Verteidiger? Wer ist Ankläger und wer ist Angeklagter? Wer ist Richter und das Gericht, und in wessen Namen ergeht das Urteil? Usw.

Man kann sich leicht vorstellen, dass die moderne Lehre des gerechten Krieges eher der Idee einer unipolaren Welt entspricht, die nach dem Ersten Weltkrieg verwirklicht wurde, während das europäische Völkerrecht mit seinem Grundsatz des Gleichgewichts souveräner Staaten ein hervorragendes Beispiel für den Aufbau einer multipolaren Welt darstellt. Kurzum, es geht um zwei Konzepte der Zukunft, die den Nerv der heutigen internationalen Beziehungen treffen. Ihr Schicksal hängt weitgehend davon ab, wie sie mit den großen Fragen des Krieges umgehen, d.h. justus hostis und justa causa. In dieser Hinsicht kann Schmitts grundlegende Analyse beider Lehren des gerechten Krieges – des mittelalterlichen und des modernen – nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Die Erfolge des europäischen Völkerrechts vom 16. bis zum 20. Jahrhundert

Für Schmitt war das Jus Publicum Europaeum ein einzigartiges Beispiel des Völkerrechtes, dem gelungen hatte, die vernichtenden Religions- und Bürgerkriege des Mittelalters zu beenden und die effektiven rechtlichen Instrumente für die Hegung der Kriege in Europa zu schaffen. Seine tragende Größe war ein souveräner Staat. Die Kriegsgegner, also die souveränen Staaten, wurden von der europäischen Gemeinschaft als justus hostis anerkannt und vom Rebellen, Verbrecher und Piraten unterschieden. Der Krieg verwandelte sich in eine Beziehung zwischen beiderseitig gleichberechtigten souveränen Staaten: Die Gegner, auf beiden Seiten in gleicher Weise als justus hostis anerkannt, standen einander auf gleicher Ebene gegenüber.

Die Gerechtigkeit des Krieges bestimmt nicht mehr die völkerrechtliche Autorität der Kirche, sondern die gleichberechtigte Souveränität der Staaten. Die Ordnung des europäischen Völkerrechtes geht, statt von der justa causa, vom justus hostis aus und bezeichnet jeden zwischenstaatlichen Krieg zwischen gleichberechtigten Souveränen als rechtmäßigen Krieg. Dieser Krieg war kein Verbrechen im kriminellen Sinne des Wortes und das Wort „Kriegsverbrechen“ hatte nicht den Sinn, den Krieg selbst als Verbrechen zu kennzeichnen. Unter Kriegsverbrechen wurden nur bestimmte, während des Krieges begangene Handlungen gemeint, etwa Verstöße gegen das sogenannte Recht im Kriege. Auf dieser Weise verlor der Krieg den Strafcharakter und eine Tendenz zur Diskriminierung des Gegners. Der Feind hört auf, etwas zu sein, das vernichtet werden muss. Dadurch wird die Beseitigung oder Vermeidung des Vernichtungskrieges möglich. So ist, nach Schmitt, dem europäischen Völkerrecht die Hegung des Krieges mit Hilfe des Staatsbegriffes gelungen. (4)

Die Hegung des Krieges, nach Schmitt, war das Wesen des europäischen öffentlichen Völkerrechts. Die Kriege waren nicht illegal und so lange gerecht, bis sie die gesamte Ordnung und das Gleichgewicht in Europa nicht störten, wie es zum Beispiel bei Napoleon-Kriegen war. Schmitt spricht von einem Gleichgewichts-System, das im Grunde der eurozentristischen Raumordnung und der Hegung des Krieges lag. Das Gleichgewicht der rechtlich anerkannten und wirklich souveränen Staaten war also tragende Säule des europäischen Friedens. Dabei handelte es sich nicht um eine politisch-propagandistische Gleichgewichtspolitik, sondern um große praktische Überlegenheit der Gleichgewichts-Vorstellung, in derer die Fähigkeit lag, eine Hegung des Krieges zu bewirken. Solches als gemeinsam empfundenes Gleichgewichts-System war für Schmitt sogar wichtiger als die Souveränität und Nicht-Intervention. Die europäischen Großmächte spielten dabei die führende Rolle, weil sie sich in erster Linie über Bewahrung und Pflegen des Gleichgewichts interessierten, um die Zerstörung der bestehenden Weltordnung zu vermeiden. (5)

In Epoche des Jus Publicum Europaeum entstand auch ein planetarisches Gleichgewicht, das von britischem Empire bewacht und bewahrt wurde. Nach Schmitt, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wird der Gegensatz von Land und Meer die weltumfassende Grundlage eines globalen Völkerrechts. England wurde dadurch zum Träger der universalen, maritimen Bereichs einer europazentrischen, globalen Ordnung, zum Hüter jener andern Seite des Jus Publicum Europaeum, zum Herrn des Gleichgewichts von Land und Meer. Dieses Gleichgewicht sicherte die Stabilität und die Hegung des Krieges in Europa, also ist zur tragenden Säule des Weltfriedens geworden. (6)

Sinnwandel des Krieges

Zum Ende des Ersten Weltkrieges löst sich das Jus Publicum Europaeum und mit ihm auch das Gleichgewicht-System. Der Erste Weltkrieg hat als ein europäischer „Staatenkrieg alten Stils“ begonnen, beendete sich aber als ein geopolitischer Streit zwischen Seemacht England und Landmacht Deutschland. Die britische Blockade Deutschlands beendete die europäischen zwischenstaatlichen Kriege und zog nicht nur die Armeen, sondern auch alle – ohne Ausnahme – Untertanen des Feindes in den Krieg hinein. Allerdings ist den Briten – mit allen ihren Bemühungen – nicht gelungen, das europäische und insbesondere planetarische Gleichgewichts-System zu bewahren. Von Westen und Osten kamen andere Großmächte, in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika, die das bestehende Gleichgewichts-System unter der britischen Führung in Frage stellten. (7)

Die Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 bezeichnet Schmitt als Epoche der Unordnung und konzentriert sich auf die Untersuchung des Überganges des nicht-diskriminierten zwischen-staatlichen Krieges des Jus Publicum Europaeum in einem neuen – diskriminierten – Typus des Krieges, der die wichtigsten Grundsätze des europäischen Friedens zerstört, aber zum neuen Weltfrieden nicht geführt hatte. Schmitt beschreibt diesen Prozess als Sinnwandel des Krieges, welche Ansätze er schon im Versailler Friedensvertrag 1919 findet.

Durch den Versailler Friedensvertrag versuchten die Siegermächte Frankreich und England, den besiegten Deutschen Reich allein für Krieg schuldig zu machen. Die Kollektivschuld, die im Jus Publicum Europaeum sicherlich alle Kriegsbeteiligten tragen müssten, wurde durch Identifizierung eines bestimmten Kriegsverbrechens ersetzt, unbeachtet von Kriegsschuldfrage, von Protesten Deutschlands und von verbreiteter Meinung, dass die Schuld am Ersten Weltkriege das ganze Europa tragen muss. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. wurde als alleiniger Angeklagter für die Verbrechen des Ersten Weltkriegs benannt, was im Prinzip gegen das europäische öffentliche Recht verstieß. Im Jus Publicum Europaeum waren alle europäischen Staaten gemeinsam für das militärische Handeln auf dem Kontinent verantwortlich; in diesem Sinne war die Sicherheit in Europa unteilbar. (8)

Den größten Beitrag zum Sinnwandel des Krieges, nach Schmitt, haben die Vereinigten Staaten geleistet, mit dem Versuch, den Krieg als solchen abzuschaffen, rein in der amerikanischen Tradition outlawry of war, die alle Kriege als solche ächtet und verurteilt. Es waren gerade amerikanische Delegierte, die in den Beratungen der Pariser Konferenzen eine Bestrafung der Staatshäupter forderten und den Angriffskrieg als Unrecht und als ein moralisches Verbrechen gegen die Menschheit bezeichneten. Die Abschaffung des Krieges, die ursprünglich als Ideal der Freiheit und des Friedens auf dem amerikanischen Kontinent entstanden hat, sollte nun die im Jus Publicum Europaeum gut funktionierte Methode der Kriegsverhütung, also die Hegung des Krieges, ersetzen. (9)

Nicht mehr die Gleichberechtigung der souveränen Staaten als der formale Anhaltspunkt für die Bestimmung des gerechten Krieges, sondern die Autorität der Siegermächte, als Analog zur alten Autorität der Kirche, übernimmt nun das Recht zu entscheiden, was eine Gerechtigkeit im Krieg bedeutet und wer einen Kriegsverbrecher ist. So kehrte die mittelalterliche Lehre vom gerechten Krieg zurück, allerdings in einer neuen, modernen Form.

Die moderne Lehre des gerechten Krieges

Nach Schmitt war der Sinnwandel des Krieges keine einfache Rückkehr der Lehre des gerechten Krieges, sondern ein fundamentaler Wandel der in der mittelalterlichen Lehre vorausgesetzten Begriffe von Feind, von Krieg und von Gerechtigkeit. Die mittelalterliche Lehre erkannte doch in den nicht-christlichen Gegnern den justus hostis und hebe den Krieg als solchen nicht auf. Schmitt schreibt: „Der Umstand, dass die eine der kriegsführenden Parteien einen gerechten, die andere einen ungerechten Krieg führt, hebt für die mittelalterliche Lehre vom gerechten Krieg den Kriegsbegriff selbst nicht auf.“ (10)

Dagegen erstrebte die neue Theorie des gerechten Krieges, den Krieg abzuschaffen und den Gegner, der einen ungerechteren Krieg beginnen sollte, zu diskriminieren. Schmitt schreibt: „Der Krieg selbst wird zum Verbrechen in der kriminellen Bedeutung des Wortes. Der Aggressor wird zum Verbrecher im äußersten kriminellen Sinn des Wortes erklärt; er wird outlaw gestellt wie ein Pirat. Doch soll das Unrecht der Aggression und des Aggressors nicht in einer materiell und sachlich festzustellenden Schuld am Kriege im Sinne der Kriegsursache liegen, sondern in der Aggression als solcher. Wer den ersten Schuss abgibt oder einen der anderen, entsprechenden Tatbestände verwirklicht, ist der Verbrecher dieses neuen Deliktes.“ (11)

Hier wird der Zusammenhang zwischen der Abschaffung des Krieges und seiner Kriminalisierung deutlich. Wie es Schmitt bemerkt, „steckt in der Gerechtigkeit des Krieges, wenn diese auf die justa causa bezogen wird, immer ein latenter Ansatz zur Diskriminierung des ungerechten Gegners und damit zur Beseitigung des Krieges als Rechtsinstitut“. (12) Dies war genau der Fall, wenn die Siegermächte im Ersten Weltkrieg auf sich das Recht übernommen haben, zu entscheiden, wer den ersten Schuss abfeuerte und die Schuld an der Aggression trug, ohne die wichtigsten Fragen des gerechten Krieges, justus hostis und justa causa, klarzustellen. Die Versuchung, den Gegner, also Deutschland, für alle Sünden verantwortlich zu machen, war zu groß, um sie nicht auszunutzen.

Man kann sogar von einer Formel der Abschaffung des Krieges durch Kriminalisierung des Krieges sprechen, die Schmitt wie folgt formuliert: „Bei dem modernen, diskriminierten Kriegsbegriff dient der Unterscheidung von Recht und Unrecht des Krieges gerade dazu, dass der Feind nicht mehr als justus hostis, sondern als kriminelle Verbrecher behandelt wird. Der Krieg hört infolgedessen aus, ein völkerrechtlicher Begriff zu sein, wenn auch die Tötung, Plünderung und Vernichtung keineswegs aufhört, sondern sich durch neue, moderne Vernichtungsmittel sogar noch steigert. Indem der Krieg auf der einen Seite zur Strafaktion im Sinne des modernen Kriminalrechts wird, kann der Gegner auf der anderen Seite kein justus hostis mehr sein. Gegen ihn wird nicht mehr Krieg geführt, wenig wie gegen einen Piraten, der in einem ganz anderen Sinne Feind ist als der Kriegsgegner im Sinne des europäischen Völkerrechts. Er hat ein Verbrechen im kriminellen Sinne begangen, das Verbrechen des Angriffs, „le crime de l`attaque“. Die Aktion gegen ihn ist infolgedessen ebensowenig Krieg wie die Aktion der staatlichen Polizei gegen einen Gangster Krieg ist; sie ist bloße Exekution und schließlich – mit der modernen Verwandlung des Strafrechts in soziale Schädlingsbekämpfung – nur eine Maßnahme gegen einen Schädling oder Störer, gegen einen perturbateuer (von lat. Unruhestifter, Anm. d. Autors), der mit allen Mitteln moderner Technik, z. B. durch ein police bombing, unschädlich gemacht wird. Der Krieg ist abgeschafft, aber nur deshalb, weil die Feinde sich gegenseitig nicht mehr auf der gleichen moralischen und juristischen Ebene anerkennen.“ (13)

Vernichtungskrieg als Endstation der Kriminalisierung des Krieges

Jeder Krieg – gerechter oder ungerechter – ist von Waffen abhängig. Die technische Entwicklung des Vernichtungsmittels ändert den Charakter des Krieges. Schmitt beobachtete das bei der angloamerikanischen Bombardierung der deutschen Städte. Die Luftkriege tragen überhaupt einen Vernichtungscharakter, weil die Bombardierung aus der Luft den Sinn der Vernichtung trägt. Die modernen Kriege sind also von technischer Entwicklung der Fernwaffen stark geprägt und im Prinzip die Vernichtungskriege.

Damit wird, nach Schmitt, die Entwicklung moderner Waffensysteme zum Problem des gerechten Krieges. Beide Seiten der Frage des gerechten Krieges, justus hostis und justa causa, stehen immer in einer spezifischen Verbindung mit der Art der Waffen. Werden die Waffen in einer auffälligen Weise ungleich, so entfällt der auf gleicher Ebene gedachte gegenseitige Kriegsbegriff. Zum Krieg auf beiden Seiten gehört doch eine gewisse Chance, ein Minimum von Möglichkeiten des Sieges. Hört das auf, so ist der Gegner nur noch Objekt einer Zwangsmaßnahme. Dann steigert sich der Gegensatz der kämpfenden Parteien in entsprechendem Grade. Die Überlegene hält seine Waffen-Überlegenheit für einen Beweis seiner justa causa und erklärt den Feind für einen Verbrecher, weil man den Begriff des justus hostis nicht mehr zu realisieren vermag. Die Diskriminierung des Feindes zum Verbrecher und die gleichzeitige Hineinziehung der justa causa laufen parallel mit der Steigerung der Vernichtungsmittel und mit der Entortung des Kriegsschauplatzes. Die Steigerung der technischen Vernichtungsmittel reißt den Abgrund einer ebenso vernichtenden – rechtlichen und moralischen – Diskriminierung auf. (14)

Schon damals, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, kritisierte Schmitt die Wendung zum diskriminierten Kriegsbegriff. Er sah in solchen Versuchen keine Auferstehung christlicher Lehre, sondern ein ideologisches Begleitphänomen der industriell-technischen Entwicklung der modernen Vernichtungsmittel. Der Bomben- oder Tiefflieger, so Schmitt, gebraucht seine Waffe gegen die Bevölkerung des feindlichen Landes vertikal wie der heilige Georg seine Lanze gegen den Drachen gebrauchte. Indem man heute den Krieg in eine Polizeiaktion gegen Störenfriede, Verbrecher und Schädlinge verwandelt, muss man auch die Rechtfertigung der Methoden dieses „police bombing“ steigern. So ist man gezwungen, die Diskriminierung des Gegners ins Abgründe zu treiben. (15)

Genau hier liegt der größten Gefahr der Kriminalisierung des Krieges: Die Überlegene, die seine Waffen-Überlegenheit für einen Beweis seiner justa causa halten und den Begriff des justus hostis nicht mehr zu realisieren vermögen lässt, kann gegen einem diskriminierten und kriminalisierten Feind die Anwendung der allen Vernichtungsmittel rechtfertigen. Seit 1945, nach den US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, ist das die wichtigste Frage des Weltfriedens: Wer eine atomare, aber auch die moderne konventionelle Waffen-Überlegenheit hat, könnte im Anspruch nehmen, selbst, gemäß seinen Status quo und seiner Autorität, zu entscheiden, was im Krieg gerecht oder ungerecht ist, wer als Aggressor und Kriegsverbrecher verurteilt sein sollte. Je weniger Geduld die Siegermächte in diesen Fragen zeigen, desto größer ist die Gefahr eines neuen Vernichtungskrieges.

Das europäische Gleichgewichts-System und Amerikas hegemoniales Gleichgewicht

Nach der Auflösung des Jus Publicum Europaeum bracht auch das europäische und planetarische Gleichgewichts-System zusammen. Die Vereinigten Staaten von Amerika als neue Supermacht versuchten, das zerstörte System durch eine andere Grundlage der Weltordnung zu ersetzen, die den global gewordenen amerikanischen Interessen gerecht werden konnte. Man könnte dabei über ein neues System des hegemonialen Gleichgewichtes sprechen, das die Vereinigten Staaten von Amerika auf dem amerikanischen Kontinent erfolgreich erprobt und sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Genfer Liga herausgebildet hatten. Es waren zuerst die amerikanischen Staaten wie Kuba, Haiti, San Domingo, Panama und Nicaragua, die formal souverän, aber in der Wirklichkeit von Vereinigten Staaten wirtschaftlich und militärisch abhängig waren. Es führte, nach Schmitt, zum modernen Typus der Intervention, wenn das amerikanische Interventionsrecht nicht nur durch Stützpunkte, militärische Besetzungen oder in anderen Formen der Gewalt gesichert wurde, wie es beim britischen Empire war, sondern auch durch Verträge und Vereinbarungen mit den gelenkten Staaten, sodass es möglich war, zu behaupten, dass hier im rein juristischen Sinne überhaupt keine Intervention mehr vorliegt. (16)

Europäisches Gleichgewichts-System und amerikanisches System des hegemonialen Gleichgewichtes sind seitdem zu zwei konkurrierenden Grundlagen für den Aufbau einer Weltordnung geworden. Das europäische Gleichgewichts-System hat sicherlich einen Vorteil: Es hat schon zwei Mal beweist, dass es fähig ist, eine Hegung des Krieges zu bewirken, nämlich in Europa vom 16. bis zum 20. Jahrhundert im Rahmen des Jus Publicum Europaeum und im Rahmen der bipolaren Welt des Kalten Krieges. Das amerikanische hegemoniale Gleichgewicht-System sollte man seine praktische Überlegenheit doch noch beweisen. Nach dem Ersten Weltkrieg, unter der Führung des Völkerbundes, hat es keine Erfolge gezeigt: Ein neuer Vernichtungskrieg von noch schrecklicherem Ausmaß brach in der Welt aus. Aber auch heute bewirkt es sich noch nicht überzeugend, obwohl nach dem Ende des Kalten Krieges die USA eine universelle Chance bekamen, die Welt in allen ihren Formen (von Ökonomik bis Sport und Kultur) und in allen ihren Instituten (von NGO bis UNO) zu lenken.

Akt der Aggression ist noch nicht ein Angriffskrieg

Schmitt zufolge gab es zwischen 1920 und 1924 zahlreiche Versuche und Vorschläge, „um das Kriegsverhütungs-System im Völkerbund zu stärken“. Doch es wurde zu keiner Vereinbarung gekommen, was ein Angriff, Angriffskrieg und insbesondere, was ein mit Strafe bedrohtes internationales Verbrechen sein soll. Das Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 enthält zwar den Satz, „dass der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen ist“, aber laut Schmitt keine Entwürfe des Protokolls waren perfekt. Auch selbst Genfer Protokoll ist nicht in Kraft getreten: Es ist infolge des englischen Wiederstandes gescheitert, aufgrund von Gedanken, dass die formale Definition des Angreifers nicht unterschieden werden kann, ob militärische Aktion einem Verteidigungszweck dienen oder nicht. (17)

Die Amerikaner hatten aber die andere Auffassung: Sie bezeichneten den Angriffskrieg mit großem Nachdruck als Unrecht. Besonders bekannt ist der sogenannte Entwurf Shotwell bei der Vorbereitung des Genfer Protokolls von 1924 – nach dem Namen des Sprechers der amerikanischen Friedensdelegation, James T. Shotwell. Dieser Entwurf trug die Überschrift „Outlawry of Aggressive War“ und erklärte den Angriffskrieg (aggressive war) für ein Verbrechen. (18)

Solcher Konflikt zwischen europäischen und amerikanischen Denkweise beschreibt Schmitt als der Gegensatz zwischen Methoden der kontinental-europäischen Juristen bei der Hegung des Krieges und der Vorstellungsweise der öffentlichen Meinung Amerikas, „sobald es sich um das Problem der Abschaffung des Krieges handelt“. Dieser tiefe Gegensatz, meint Schmitt, „lässt sich nur dadurch lösen, dass die juristische Frage nach dem eigentlichen Tatbestand des neuen internationalen Verbrechens geklärt wird“. Das heißt, dass bei allen Bestrebungen einer outlawry des Krieges geklärt werden sollte, worüber es geht: um ein Verbrechen des Krieges, um Verbrechen des Angriffs, um Verbrechen des Angriffskrieges oder schließlich um Verbrechen des ungerechten Krieges? Das sind, nach Schmitt, doch offensichtlich ganz verschiedene Verbrechen mit ganz verschiedenen Tatbeständen.

Die Unterscheidung des Angriffsaktes von dem Angriffskrieg wäre dabei besonders wichtig. Das ist, nach Schmitt, nur auf den ersten Blick künstlich und formalistisch. Er schreibt: „Jeder Krieg, auch der Angriffskrieg, ist als Krieg normalerweise ein zweitrangiger Vorgang, ein Kampf auf beiden Seiten. Der Angriff dagegen ist ein einseitiger Akt. Die Frage nach dem Recht oder Unrecht des Krieges, auch eines Angriffskriegs, im Ganzen bedeutet etwas völlig anderes als die Frage nach dem Recht oder Unrecht eines bestimmten Angriffsaktes, mag dieser Angriffsakt nun zu einem Kriege führen oder noch rechtzeitig gestoppt werden. Angriff und Verteidigung sind nicht absolute, moralische Begriffe, sondern situationsbestimmte Vorgänge.“ (19)

Das heißt, dass die Erklärung des Angriffskrieges zum Verbrechen ganz anders ist als die Reaktion auf einen Angriffsakt, bei dem zum Beispiel den ersten Schuss abgegeben wurde. Im ersten Fall bleiben die Urheber, Verursacher oder Schuldige des Krieges ungeklärt, während im zweiten Fall bleibt die Hoffnung, den bevorstehenden Aggressionskrieg zu hegen. „Die Beschränkung auf den Angriffsakt, betont Schmitt, ist also zweckmäßig und sogar notwendig, gerade um die schwierige Frage nach der justa causa, d. h. nach dem in der Sache gerechten Krieg und der Schuld am Kriege zu vermeiden. … Das Äußerliche und Formalistische dieser Methode wird im Kauf genommen, um den Angriffsakt und die Gewaltanwendung so schnell wie möglich zu stoppen und den Ausbruch des Krieges selbst zu vermeiden.“ (20)

Die Eskalation des Ukraine-Konfliktes seit 2014 ist ein exemplarisches Beispiel dafür, wie die Welt und insbesondere die USA als Sieger im Kalten Krieg es versäumt haben, die ersten Akten des Angriffes in Donbass zu hegen, um einen groß angelegten Angriffskrieg zu verhindern. Sogar nach dem Beginn der russischen Spezialoperation am 24. Februar 2022 war noch die Möglichkeit (genau gesagt im März 2022 in Istanbul, wo die Angebote für eine Lösung im Ukraine-Krieg auf dem Tisch gelegt wurden und Russland eine Entspannung signalisierte), die weitere Eskalation des Konfliktes zu stoppen. Doch in erster Linie weigerten sich die USA, die enormen Einfluss auf die Regierung in Kiew hatten (wofür es heute zahlreiche Beweise gibt), den Konflikt auf diplomatischem Wege zu lösen.

Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine war nicht nur von amerikanischer Seite gewollt, sondern auch notwendig, um im 21. Jahrhundert eine neue Weltordnung nach der eigenen Vision durchzusetzen.

Zwei Logiken der Weltentwicklung

Nicht alle großen geopolitischen Konzepte der Zukunft, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelt wurden, haben den Test der Zeit überstanden. Ein größter Misserfolg sollte zum Beispiel die Hoffnung auf „Das Ende der Geschichte“ (1989) von US-amerikanischer Politikwissenschaftler Francis Fukuyama erlebt. Nur zwei Konzepte der Zukunft sind bis heute in allem Mund und bestimmen wesentlich den politischen Nerv der Gegenwart. Sie kamen aus Amerika und sind in zwei fundamentalen Traktaten präsentiert, die in den 1990er Jahren veröffentlicht wurden. Zu deutschen Lesern sind sie später gekommen: als Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikanische Strategie der Vorherrschaft“ (2004) von US-amerikanischer Politikwissenschaftler Zbigniew Brzezinski und als Buch „Kampf der Kulturen“ (2002) von ebenfalls US-amerikanischer Politikwissenschaftler Samuel Huntington. Beide Konzepte sind absolut logisch und stellen an sich zwei völlig gegensätzliche Vektoren der zukünftigen Entwicklung der Weltordnung dar: unter einem einzigen Hut Amerikas oder unter den mehreren Hütern, also in der Richtung einer unipolaren oder multipolaren Welt.

Brzezinski beschreibt akribisch die geopolitische Strategie Amerikas gegenüber allen wichtigen Akteuren in der Welt, mit dem Ziel, Wiederaufbau des russischen Imperiums zu verhindern und auf dem eurasischen Kontinent der amerikanischen Herrschaft zu befestigen. Seine Logik bei der Gestaltung der Zukunft stützt sich auf die Behauptung, dass die Vorherrschaft Amerikas im 21. Jahrhundert einzigartig und alternativlos ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, so Brzezinski, wird Amerika zu einzig wirklichen Weltmacht, zur „Hegemonie neuen Typs“, weil, im Gegensatz zu allen früheren Imperien, die Vereinigten Staaten nicht nur sämtliche Ozeane und Meere beherrscht, sondern über die militärischen Mittel verfügt, um die Küsten unter Kontrolle zu halten.

Die wirtschaftliche, militärische und technologische Überlegenheit als auch die amerikanische Kultur, die, trotz einiger Missgriffe, nach wie vor weltweit, vor allem bei der Jugend, unübertroffen Anklang findet, „ist es, was Amerika zu der einzigen globalen Supermacht im umfassenden Sinne macht“. Ihrer Status als führende Weltmacht wird in absehbarer Zeit von keinem Herausforderer angefochten werden. Kein Nationalstaat dürfte sich mit den USA in den Schlüsselbereichen der Macht messen können, die gemeinsam die entscheidende globale politische Schlagkraft ausmachen. Außerdem ist Amerika in absehbarer Zeit die einzig reale Alternative zur weltweiten Anarchie. Dadurch ist ihre Vorherrschaft alternativlos. (21)

Für Brzezinski ist völlig klar, dass Russland kein planetarisches Imperium ist, sondern lediglich eine Regionalmacht, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinen ideologischen Anspruch mehr auf ein globales kommunistisches Imperium hat. In diesem Sinne geht die Russische Föderation den gleichen Weg wie die EU und andere große Wirtschaftsräume: Sie baut eine enge Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn auf, insbesondere mit den ehemaligen Sowjetrepubliken im Rahmen der „Eurasischen Union“. Das ist ganz anders als der imperiale Anspruch Amerikas auf alleinige Weltherrschaft. Dennoch werden im Westen nach wie vor die Angst vor einem „blanken russischen Imperialismus“ geschürt, wobei der grundlegende Unterschied zwischen einem globalen Imperium und regionalen Mächten nicht erkannt oder sogar nicht gewollt wird.

Das macht Sinn, denn ein starkes und unabhängiges Russland ist für die Logik einer einzigen amerikanischen Supermacht sehr gefährlich. Eurasien, so Brzezinski, ist der zentrale Schauplatz für die neue Weltordnung. Eine solche Behauptung basiert er auf den Grundlagen der klassischen amerikanischen Geopolitik, die in der berühmten Aussage von Halford Mackinder zusammengefasst ist: „Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland. Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel. Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“ Die Weltinsel ist Eurasien, während unter dem Herzland ist die eurasische Zentralregion gemeint, also Russland. Der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt also unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv die USA sich in Eurasien behaupten können, besonders in seinem „Schwarzen Loch“ Russland. Dieses riesige eurasische Schachbrett, so Brzezinski, das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt, ist der Schauplatz des global play, der auch auf dem Kampf um globale Vorherrschaft in Zukunft ausgetragen wird. (22)

Eurasien ist also das Schachbrett, auf dem der Kampf um die Weltherrschaft ausgetragen wird. Ausschlaggebend für die Dauer und Stabilität der amerikanischen Weltmachtstellung wird sein, wie die Vereinigten Staaten die wichtigsten geostrategischen Spieler auf dem eurasischen Schachbrett einerseits steuern und ihnen andererseits entgegenkommen. Wie beim Schach müssen Amerikas globale Strategen etliche Züge im Voraus durchdenken und mögliche Züge des Gegners vorwegnehmen. (23)

Die amerikanische Geostrategie gegenüber Russland besteht darin, den Wiederaufbau des russischen Imperiums (gemeint natürlich ein starkes Russland in jeglichen Formen) nicht zuzulassen und das Land in Europa zu assimilieren. Daraus folgt die Geostrategie gegenüber Ukraine: sie als Totengräber der imperialen Ansprüche Russlands zu etablieren. Amerikanische Geostrategie gegenüber Europa besteht darin, sie als demokratischer Brückenkopf Amerikas – durch NATO- und EU-Osterweiterung – zu festigen. Frankreich sollte demokratisches Deutschland auf Dauer fest in Europa einbinden, während für Deutschland ist es vorgesehen, jüngst befreites Mitteleuropa in die EU zu integrieren. Usw. Jede Schachfigur auf dem eurasischen Schachbrett bekommt ihre eigene Rolle, gemäß der allgemeinen amerikanischen Geostrategie in Eurasien.

Man braucht keine Fachkenntnisse, um zu verstehen, dass genau diese Logik heute in der westlichen Politik dominiert und dem amerikanischen hegemonialen Gleichgewicht-System entspricht.

Logik der multipolaren Welt gegen Logik der einzigen Supermacht Amerikas

Der anderen Architekt der Zukunft, Huntington, zeigt dagegen, dass die wichtigsten Akteure bei der Gestaltung der neuen Weltordnung die kulturellen Großräume sind, von denen, und nicht nur von Amerika, die Spielregeln im Kampf um eurasischen Herzland Russland und allgemein um der Weltordnung bestimmt werden. Die Huntingtons Logik der Entwicklung der Zukunft schließt die Brzezinskis Logik der einzigen Supermacht Amerikas aus und umgekehrt. Symptome des Konfliktes zwischen diesen zwei Logiken sind vielfältig, aber die wichtigsten von ihnen sind offensichtlich.

Huntington warnt beispielsweise vor der Intervention in den anderen Kulturen und konstruiert sein Sicherheitssystem auf dem „Prinzip der Enthaltung“, also auf der Basis des Gleichgewichts zwischen mehreren Kulturkreisen. Das ist aber absolut unannehmbar für die Logik der einzigen Supermacht, die dadurch besteht, eine globale Stabilität unter der Regie Amerikas zu schaffen, wo die west-liberale Demokratie als die einzige Regierungsform vorgesehen ist und es keinen eurasischen Herausforderer mehr gibt.

Huntington schlägt vor, die Europäischen Union und die NATO nicht hinaus der westlich-christlichen Staaten Mittel- und Osteuropas zu erweitern, um die kulturelle Zerrissenheit und wirtschaftliche Destabilisierung in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu vermeiden. Doch der Westen hält die Position fest, die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken zu fördern und einige von ihnen, die für Amerikas Strategie besonders wichtig sind (zum Beispiel die Ukraine und Georgien), in der EU und in der NATO aufzunehmen. Dabei bleibt die Frage offen, um welcher Unabhängigkeit es geht: um eine echte Souveränität der ehemaligen Sowjetrepubliken oder doch nur um die gesteuerte Unabhängigkeit von Russland zu Gunsten des Westens?

Huntington macht die großen Kulturkreise zu den zukünftigen großen Mächten, also zu den Weltmächten. Brzezinski lehnt die Entstehung von neuen Weltmächten kategorisch ab. Huntington sah in Russland eine Regionalmacht mit legitimen Sicherheitsinteressen an seinen südlichen Grenzen, um u. a. ein zusätzliches Gleichgewicht gegen die konfuzianisch-islamische Schiene zu schaffen. In der Brzezinskis Logik ist das aber unzulässig, weil eine starke souveräne Russische Föderation zum Wiederaufbau des eurasischen Imperiums bzw. zum Begraben der amerikanischen Vorherrschaft führen kann. Huntington zulässt also eine einheitliche starke Russische Föderation, während Brzezinski träumt um ein dezentralisiertes schwaches Russland. Usw. Außerdem schließt die Brzezinskis Logik der einzigen Supermacht Amerikas die Anerkennung Russlands als justus hostis prinzipiell aus.

Eine gewisse Versöhnung zwischen den beiden Logiken bietet Carl Schmitt an, wenn er sich mit der Frage beschäftigt, ob wir uns auf eine politische Vereinheitlichung der Welt zubewegen und ob eine solche Vereinheitlichung überhaupt möglich ist? Die Hauptfrage ist also, ob der Planet für das globale Monopol einer einzigen Macht reif ist oder doch ein Pluralismus in sich geordneter, koexistierender Großräume und Kulturkreise das neue Völkerrecht der Erde bestimmt? Diese Frage steht eigentlich im Zentrum der Schmitts Suche nach neuem Nomos der Erde und gibt dem Konflikt zwischen zwei Varianten der Weltentwicklung – nach geopolitischen Logiken von Brzezinskis oder Huntingtons – einen dialektischen, historischen Sinn. (24)

Russlands Logik der Defensive

Diese zwei Logiken – Brzezinskis und Huntingtons – bezeichnen heute zwei mögliche Entwicklungen der Weltordnung im 21. Jahrhundert: unipolare oder multipolare Welt. Beide Logiken mobilisieren ihre Anhänger um sich herum: nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen politischen Kräften innerhalb der Staaten. Auf der Seite der Brzezinskis Logik stehen die USA und ihre Verbündete, der Klub der „Mächtigsten“ G7, westliche Mainstream-Medien, NATO, die westliche Öffentlichkeit und im Allgemeinen alle, die glauben, dass nur Westen in der Lage ist, die Welt zu regieren. Auf Seite der Huntingtons Logik stehen Russland, China, BRCS, viele andere Entwicklungsländer und im Allgemeinen alle, die überzeugt sind, dass sich die Ära der amerikanischen Vorherrschaft zum Ende neigt und die Zeit für eine globale Veränderung der Machtverhältnisse gekommen ist.

Es bedeutet aber nicht, dass Russland keine eigene geopolitische Logik hat: Sie ergibt sich aus der geografischen und historischen Lage Russlands. Es ist das einzige Land in der Welt, das mit seinen Rohstoffen, Energieträgern, grenzenlosen fruchtbaren Erdboden und nicht zuletzt mit seinem großen wissenschaftlichen, technischen und humanen Potenzial allein und ohne jegliche Hilfe von außen existieren kann. Russland ist also ein idealer „autarken Großraum“, der nach Bedarf alle Isolationen, Blockaden und Sanktionen durchbrechen kann. Dies ist ein großes Problem für den amerikanischen Anspruch auf die einzige planetarische Herrschaft. Deshalb ist Amerika bis heute die einzige, aber nicht die absolute Weltmacht: Ihr fehlt die Kontrolle über das Herz des Eurasiens, also über den riesigen Russland mit den riesigen Bodenschätzen.

Die bloße Existenz so eines unkontrollierbaren Riesen wie Russland brachte den Europäer in der Beunruhigung, in der Angst und in allen Arten von Verdächtigung, die sich in Europa seit Mittelalter verbreiteten und kultivierten. Ivan der Schreckliche sollte noch schrecklicher sein als Karl der Große und Stalin nicht weniger Despot als Hitler. Die Tatsache, dass diese „gefährliche“ Riese zweimal – bei Napoleon und Hitler – den Frieden in Europa mitgebracht hatte, und dass die Russen sich selbst nicht als Aggressor, sondern als Schützer des Weltfriedens definieren, bleibt im Westen am meisten ohne Berücksichtigung. Der größte Wunsch des Westens wäre, diesen unbotmäßigen Nachbarn zu disziplinieren und in seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einflusszone einzugliedern. Dann wäre alles in Ordnung.

Das war das Ziel des „Großen Spiels“ Briten gegen russisches Imperium, dann das Anliegen des Westens im Kampf gegen kommunistische UdSSR und nun, nach dem Zerfall der Sowjetunion, die Aufgabe Amerikas als Sieger im Kalten Krieg beim Aufbau der neuen Weltordnung. Zweimal – nach der Februarrevolution 1917 und in den 1990er Jahren – wurde dieses Ziel fast erreicht. Einmal, mit dem Alleinbesitz der Atomwaffe direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, scheint es fast durchgesetzt zu werden. Doch jedes Mal scheiterten all diese Bemühungen an der Sturheit Russlands: Zuerst Bolschewiki (ab 7. Oktober 1917), dann Stalins Regierung (nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg 1945 und nach dem ersten Test der Atombombe im Jahr 1949) und nun russischen Präsident Wladimir Putin (ab 1. Januar 2000) haben die westlichen Pläne zu Fall gebracht. Russland bleibt ein selbstständiges, unkontrolliertes und ungehorsames Land.

Es ist leicht vorstellbar, dass es für Russland, das sich seit der Zerfall der Sowjetunion von dem Kommunismus befreit und keine Ansprüche auf die Vereinigung von Weltproletariat mehr hat, nur eine einzige Bedingung gibt, um auf seinem riesigen Territorium ein friedliches und wohlhabendes Leben aufzubauen: Weltfrieden. Russland braucht mehr als alle anderen Staaten in der Welt die klaren, weltweit anerkannten und berechenbaren Regelungen und Methoden des Völkerrechtes, also eine Weltordnung, wo die Einmischung in den Angelegenheiten eines Landes ausgeschlossen ist. Man könnte sogar um Russlands geopolitische Mission sprechen, die darin besteht, die Machtbalance in der Welt zu fördern: als Grundprinzip der internationalen Gerechtigkeit und als eine Art der Sicherheitsgarantie für sich selbst.

Die geostrategische Logik Russlands trägt also in sich einen defensiven Charakter. Diese Logik ist der Ausdruck seiner territorialen Größe, wo die soliden Bodenschätze und das riesige Territorium schon allein die große Rolle in der Weltpolitik spielen. Heute, wenn die Rohstoffkrise noch schärfer geworden ist, ist dies besonders auffällig. Es wäre leichtsinnig, diesen geopolitischen Status quo Russlands zu ignorieren.

Kriminalisierung des Krieges nach Zerfall der Sowjetunion

Der Sinnwandel des Krieges nahm seine erste Form in der Zwischenkriegszeit 1919-1939, müsste aber in der bipolaren Welt des Kalten Krieges eine Pause einlegen, bis 1989/90, wenn der Weg für die Fortsetzung der Kriminalisierung des Krieges wieder frei geworden war. Die Geschichte wiederholt sich. Heute, wie es auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war, lassen sich die Siegermächte im Kalten Krieg allein entscheiden, welche Kriege gerecht oder ungerecht sind, wer einen Aggressor bzw. einen Kriegsverbrecher ist, ohne die wichtigste Kriegsfrage, etwa justus hostis und justa causa, im Betracht zu nehmen. Die seit 1945 nach Jalta-Konferenz geschaffene Weltordnung droht nun zu zerfallen, so wie das europäische öffentliche Völkerrecht im Laufe des Ersten Weltkriegs aufgelöst wurde. Die Reformierung der UNO mit Abschaffung des Vetorechts wäre dann den letzten Strich dafür.

Die Objekte der Diskriminierung sind heute vielfältig. In erster Linie handelt es sich um autoritäre und antidemokratische Regime, die vom Westen als „Achse des Bösen“ eingestuft werden. Im Kampf gegen solche Feinde sind viele Dinge erlaubt, die im Verhältnis zu westlichen Demokratien unmöglich wären: flächendeckende Bombardierung, Verwendung von Drohnen und Raketen gegenüber Zivilisten, Verfolgung und Tötung von besonders gefährlichen Gegnern mit intelligenten Waffen usw. Jugoslawien 1998, Irak 2003, Libyen 2011, langjähriger Drohnenkrieg in Pakistan, Afghanistan 2001-2021…

Nach Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 steht Russland an der Spitze der Liste der „Bösewichte“. Die Etappen der Diskriminierung des Putins Russlands sind hinlänglich bekannt: Georgienkrieg 2008, Ostukraine-Konflikt 2014, Eskalation des Konfliktes Februar-März 2021, russischer Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022. Die Dämonisierung Putins Russlands hat seit 24. Februar 2022 einen nie dagewesenen Charakter angenommen. Eine bekannte Prognose von Architekten der amerikanischen Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, George Kennan, der im Jahr 1998 warnte, dass die NATO-Erweiterung zum Beginn des neuen Kalten Krieges führen könnte, scheint sich zu erfüllen. Als die erste Welle der NATO-Osterweiterung durch den US-Senat ratifiziert worden war, sagte er: „Ich denke, das ist ein tragischer Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund dafür. Niemand bedrohte irgendjemanden. … Natürlich wird es darauf zukünftig eine böse Reaktion durch Russland geben, und dann werden sagen: So sind die Russen, wir haben es euch immer gesagt – aber das ist komplett falsch.“ (25)

Ein Übergang vom gerechten zum totalen Krieg wird hier sichtbar. Da Russland weiterhin verachtet und diskriminiert wird, wächst die Gefahr, dass die Welt in einen neuen, nun nuklearen Weltkrieg hineingezogen wird. Es ist nicht zufällig, dass Schmitt sein Werk Der Nomos der Erde gerade mit der Warnung von der Kriminalisierung des Krieges beendet. Sie ist heute die bedrohlichste Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden.

Zeichen der Kriminalisierung des Krieges

Eine Diskriminierung des Feindes ist nicht das einzige Zeichen des Sinnwandels des Krieges. Seine gefährlichste Wirkung zeigt sich vor allem in der Abschaffung des Krieges als Modell für ein neues Völkerrecht. In diesem Zusammenhang werden die wichtigsten Probleme des Krieges von der Justiz in den Bereich der Politik und der Moral verlagert. Früher, so betonte Schmitt, war es für jeden europäischen Staatsmann und jeden europäischen Staatsbürger noch selbstverständlich, dass die Frage der Abschaffung des Krieges in der Sache eine Frage der Abrüstung und Sicherheit ist. Das sind jedoch mehr politische und moralische als juristische Fragen. Das bedeutet, dass die großen Probleme des Krieges nicht nur von Juristen, sondern auch von der breiten Öffentlichkeit und großen Menschenmassen behandelt werden, die aber die juristische Abstrahierung von der justa causa und überhaupt die juristischen Kriegsbegriffe, etwa justus hostis oder bellum justum, „als einen künstlichen Formalismus oder sogar als eine sophistische Ablenkung von der eigentlichen großen Aufgaben“ empfinden. Dadurch bleibt das sachliche Recht oder Unrecht und die Schuld am Kriege außer Betracht. (26)

Die Abschaffung des Krieges als neue Konstruktion der Weltordnung und die Kriminalisierung des Krieges sind nun zu zwei Seiten derselben Medaille geworden: Das eine setzte das andere voraus. Beide – Abschaffung und Kriminalisierung des Krieges – stellen die Politik und Moral höher als die Justiz und verhindern, sogar absichtlich, in der öffentlichen Meinung die großen Kriegsfragen klarzustellen. Die intensive Russophobie zeigt deutlich, dass dieses Bündel reibungslos funktioniert. Ob die Menschen sich davon sicherer füllen können, ist die andere Frage. Einmal, vor dem Zweiten Weltkrieg, haben die Menschen in Europa schon erlebt, dass das Verbot des Krieges als solches und die Erklärung des Krieges zum Verbrechen noch nicht die Beseitigung der Kriegsgefahr bedeuteten. Um der Abschaffung des Krieges als das Kriegsverhütungs-System ein endgültiges Urteil zu machen, weist Schmitt auf zwei Wahrheiten hin: „Erste, das Völkerrecht die Aufgabe hat, den Vernichtungskrieg zu verhindern, also den Krieg, soweit er unvermeidlich ist, zu umgehen, und zweitens, dass eine Abschaffung des Krieges ohne echte Hegung nur neue, wahrscheinlich schlimmere Arten des Krieges, Rückfälle in den Bürgerkrieg und andere Arten des Vernichtungskrieges zur Folge hat“. (27)

Was eine Verbindung von Politik, Moral und öffentlicher Meinung bedeuten könnte, zeigt Schmitt auf dem Beispiel des deutschen Kaisers Wilhelm II., dem im Jahr 1920, nach der Umfrage einer amerikanischen Wochenschrift, die meisten Amerikaner die Todesstrafe oder Verbannung gewünscht hatten. Die emotionale Empfindung des Kriegsgeschehens ist stärker als die Vorstellungen über Gerechtigkeit des Krieges und allen anderen juristischen Formalismen. Die Übertragung der großen Kriegsfragen im Bereich der Politik und Moral bedeutet also die wachsende Rolle der öffentlichen Meinung, die sich seinerseits stark von den Massenmedien abhängig ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind bekanntlich zur solchen Einsicht nach dem Vietnam-Krieg gekommen, wenn die schrecklichen Bilder des Krieges in der Presse zu den Massenprotesten und letztendlich zum Ende der amerikanischen Beteiligung im Krieg geführt hatten. Seitdem ist die strenge Kontrolle über die Medienberichte aus den Kriegsgebieten in Amerika zur direkten Frage der Sicherheit bzw. Sicherheitsbehörden geworden. Der Aufbau des virtuellen Ersatzes des Krieges in den Medien bekommt damit den höchsten Sinn der Kriminalisierung des Krieges, mit dem Ziel, den Gegner in der Öffentlichkeit als ein krimineller Verbrecher vorzustellen.

Nach dem Ukraine-Konflikt ist solcher Antrieb in den deutschen Mainstream-Medien besonders auffällig, bis die Ausschaltung aus der Öffentlichkeit allen möglichen medialen Alternativen, geschweige denn die russischen Medien, die selbstverständlich nur als Putins Propaganda repräsentiert sind.

Zum Opfer der modernen Kriminalisierung des Krieges sind auch viele Methoden und Regeln des Völkerrechtes gefallen, die lange Zeit im Dienste des Friedens standen. Es handelt sich zum Beispiel um Neutralität als ein Rechtsinstitut, die in Europas eine wichtige Rolle bei der Hegung des Krieges gespielt hatte, oder die Haltung des Wortes von großen Politikern, wie es noch nach dem Zweiten Weltkrieg möglich war, wenn die Staatschefs Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (Vereinigtes Königreich) und Josef Stalin (UdSSR) an Konferenz in Jalta 1945 die Regeln der neuen Weltordnung bestimmten. Heute ist das gegebene Wort der westlichen Politiker wenig wert. Die Aufhebung der schwedischen und finnischen Neutralität sowie das gebrochene Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, sind nur zwei eklatante Beispiele dafür.

Eine Sackgasse der Eskalation

Mit der Diskreditierung Putins Russlands, die lange vor der Ukraine-Krise begonnen hatte, lässt keinen Zweifel daran, dass die Kriminalisierung des Krieges heute in vollem Gange ist. Das heißt, dass sie, wegen seiner inneren Logik, zum Vernichtungskrieg führen kann, wenn Siegermächte im Kalten Krieg auf Grund ihrer Autorität und militärischen Überlegenheit zum Schluss kommen, den Feind, der nicht ein justus hostis, sondern ungerechten Kriminelle ist, nicht mehr zu dulden, also gegen ihm mit allen zur Verfügung stehenden Kriegsmitteln zu treten, unter anderem mit Atomwaffen.

Es war möglich in den 1990er Jahren, wenn die russische Rüstungsindustrie fast zerstört wurde, nicht aber heute. Der Russischen Föderation ist in den letzten Jahren gelungen, ihr militärisches und vor allem atomares Potenzial zu verstärken und die sogenannte Zweitschlagfähigkeit zurückzugewinnen, die darin besteht, auf dem atomaren Erstschlag doch in der Lage zu bleiben, zurückzuschlagen. Gegen den amerikanischen Abwehrschirm kann Russland die modernsten Hyperschallwaffen einsetzen, die alle Abwehrsysteme unbrauchbar machen. Man könnte auch um Wiederherstellung des atomaren Gleichgewichtes mit den USA sprechen.

Um das Risiko eines neuen Vernichtungskrieges zu vermeiden, braucht man mehr Verständnis, Vernunft und Kompromissbereitschaft von beiden Seiten, wie es zum Beispiel bei der Karibik-Krise demonstriert wurde. Doch heute ist es für Washington sehr schwierig, mit Moskau einen Kompromiss zu schließen, denn was für einen Kompromiss mit einem Gegner geben könnte, der bis hin zum Kriminellen diskreditiert ist? Mit Banditen, sozusagen, kann es keine Absprachen geben! Der Westen drängt sich also selbst in die Ecke der weiteren Eskalation. Dies war im November-Dezember 2021 und Januar-Februar 2022 der Fall, wenn alle Bemühungen Russlands, mit eigenen Besorgnissen und Sicherheitsinteressen im Westen das Gehör zu finden, scheiterten, bis ein Versuch, einen schon international anerkannten Prinzip der unteilbaren Sicherheit zu reanimieren.

Es handelte sich nicht um Detail der Vereinbarungen, die immer diskutiert und kompromissfähig gemacht werden könnten, sondern um prinzipielle Ablehnung von russischen Besorgnissen als unakzeptable Forderung. Ein auffälligstes Beispiel dafür war das Abkommen auf einer Friedenskonferenz am 29. März 2022 in Istanbul, wenn es den ukrainischen und russischen Verhandlungsteams gelang, einen 15-Punkte-Entwurf für ein mögliches Friedensabkommen vorzulegen. Es konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. Angesichts der Möglichkeit einer neutralen Ukraine berief die NATO für den 23. März einen Sondergipfel in Brüssel ein, an dem auch Präsident Biden teilnahm. Wie es ein ehemaliger deutscher Diplomat der OSZE und der UN, Michael von der Schulenburg darstellt, der einzige Zweck dieses Treffens bestand darin, die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden. Anstelle eines Kompromisses zwischen ukrainischer Neutralität und ukrainischer territorialer Integrität forderte die NATO nun den bedingungslosen Rückzug der russischen Streitkräfte aus den ukrainischen Gebieten, bevor es zu Friedensgesprächen kommen konnte. Die NATO verlangte also nichts Geringeres, als dass Russland seine Niederlage akzeptiert, was in krassem Gegensatz zu einer Kompromisslösung steht, auf die sich die ukrainischen und russischen Unterhändler geeinigt hatten. Damit war der ukrainisch-russische Friedensprozess gestorben und der Krieg dauert seither an. (28)

Kurz gesagt, Russland musste neue Regeln auf dem eurasischen Schachbrett annehmen, die die Aufnahme der Ukraine in die NATO, ihre weitere Militarisierung und vieles mehr im Rahmen der Realisierung des Brzezinskis Projektes der antirussischen Ukraine voraussieht, ungeachtet dessen, was dies für Russland bedeuten könnte. Die Russen müssen einfach darauf vertrauen, dass alles, was der Westen für die Russische Föderation tut, gut für das russische Volk ist. Dabei hütet sich der Westen davor, die Russen an die Kosten zu erinnern, die ihnen in den 1990er Jahren durch die Versprechungen westlicher Politiker und deren Zusicherungen, sie wünschten Russland alles Gute, entstanden sind.

Zwickmühle-Spiel statt des geopolitischen Schachspiels

Die Durchsetzung des Konzepts der einzigen Weltmacht Amerikas ist in den letzten Jahren nicht so reibungslos verlaufen wie geplant: Schachmatt dem „Schwarzen Loch“ Russlands kommt sehr schwer zustande. Im geopolitischen Schachspiel zwischen Amerika und Russland waren Kaukasus-Krieg 2008, militärische Aktion in Syrien 2015 und insbesondere die Wiedervereinigung von Russischen Föderation und Halbinsel Krim (unabhängig von den völkerrechtlichen Interpretationen des Geschehens) die bedeutende Schachzüge, zugunsten Russlands.

Den Amerikanern ist also nicht gelungen, in der kurzen Zeit (Brzezinski sprach über eine Generation) erfolgreich seine geopolitische Strategie durchzusetzen. Es gibt nicht einmal einen öffentlichen Konsens in Amerika, der durch die politischen Grabenkämpfe zwischen Trumps und Bidens Anhängern noch verschärft wird. Wie Brzezinski bemerkt hat, es fehlt Amerikanern eine wirklich massive und unmittelbare Bedrohung von außen, um ihre Mission als einzige Weltmacht durchzusetzen. Beim Zweiten Weltkrieg symbolisierte diese Bedrohung faschistisches Deutschland und Angriff auf Pearl Harbor; beim Kalten Krieg sind zu diesen Symbolen die Sowjetunion und Karibische Krise geworden. Der 11. September 2001 hat Amerika zu seiner Mission zurückgebracht, aber es war nur eine kurze Zeit der realen Bedrohung. Für eine amerikanische Mission braucht man also die neuen, noch größeren Symbole der Gefahr, die vom Ausmaß her mit Pearl Harbor oder Karibikkrise verglichen werden könnten. Putins Russland passte diesem Zweck am bestens.

Doch alle Versuche, Putins Russland als eine planetarische Bedrohung vorzustellen, wie es die Sowjetunion in den Augen des Westens war, zuerst scheiterten. Im geopolitischen Schachspiel machte Putin keinen Fehler, sogar in Ostukraine: Er habe nicht die Absicht, eine militärische Invasion in der Ukraine anzuordnen, um die russischsprachige Bevölkerung dort zu schützen. Je länger sich die Kiews Realisierung verzögerte, den Grundlagen des Minsker Maßnahmenpakets zu erfüllen (als legitime Möglichkeit, Konflikt politisch und friedlich zu lösen), desto mehr die Befürchtungen wachsen, dass die Menschen in Donbass, völlig legitim, ihre Wahl für Russland machen: durch die Erwerbung von russischen Pässen. Dieser Prozess hat sich nach Eskalation des Konfliktes im März-April 2021 nur beschleunigt. Die Erklärung der EU, dass die Russische Föderation de facto die Eingliederung des Donbass vorbereite, klingt am ehesten als Selbstbeschuldigung: Wäre das Minsker Maßnahmenpaket realisiert, bekomme die russische Staatsbürgerschaft in Donbass kein solcher Ansturm für Erwerbung der russischen Bürgerschaft.

Die USA und ihre Verbündeten müssten also im geopolitischen Schachspiel um Ukraine und um Eurasien die schweren Verluste hinnehmen. Die Situation war alarmiert. Man sollte die Taktik geändert werden, um die weiteren Verluste im Spiel mit klug gewordenen geostrategischen Schachspieler Putin zu vermeiden. Die Regel des Zwickmühle-Spieles kam zur Beachtung. Der Zweck des neuen Spieles bestand darin, „Geduld“ den Russen zu brechen und Moskau für militärische Aktionen in Donbass zu motivieren. Dann wird Russland zum Aggressor diskreditiert und zum größeren Symbol der planetarischen Bedrohung gemacht werden.

Die innere Logik des Zwickmühle-Spiels zeigt Gabriele Krone-Schmalz in ihrem Buch „Eiszeit“ am Beispiel des Georgienkrieges 2008. In der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 begann die georgische Großoffensive gegen Südossetien, mit Panzern, Kampfjets und Raketenwerfern, mit der Bombardierung von schlafenden Zivilisten und russischen Friedenstruppen. Unter anderem wurden Streubomben eingesetzt. Dutzenden Zivilisten kamen ums Leben, das Ausmaß der Zerstörung gerade ziviler Objekte war enorm. Auch 14 Angehörige der russischen Friedenstruppen kamen ums Leben, da ihr Hauptquartier gezielt von georgischer Artillerie angegriffen wurde. Schon am selben Tag verkündete Georgien, weite Teile Südossetiens erfolgreich besetzt zu haben. (29)

Es wäre aber für Saakaschwili eine „militärische Dummheit“, gegen Russland einen Krieg zu verkünden, stützte er nicht auf die Unterstützung von Amerika. Es handelte sich nicht nur um „mehr als hundert US-Militärberater“, die damals in den georgischen Streitkräften tätig gewesen seien, und nicht um „eine noch größere Zahl von US-Spezialisten und Beratern in den georgischen Machtstrukturen und der Verwaltung“. Tatsächlich, so Krone-Schmalz, ist nach wie vor unklar, welche Rolle sie zu Beginn und während des Georgienkrieges gespielt hatten. Noch wichtiger war die andere Unterstützung. Krone-Schmalz zitiert der „taz“-Artikel vom 13. August 2008, wo berichtet ist, wie NATO-Diplomaten hinter verschlossenen Türen inzwischen einräumten, dass die auf dem Bukarester Gipfel beschlossene Beitrittsperspektive für Georgien beim Kriegsausbruch insofern eine Rolle spielte, als sie Saakaschwili dazu ermutigt habe zu versuchen, Südossetien mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen. Für dieses Vorgehen habe er in den Monaten vor Konfliktbeginn „zahlreiche Signale der Unterstützung aus Washington erhalten“. (30)

Es schien so, dass Russland als fleißiger Lehrling im geopolitischen Schach alles richtig gemacht hat, genau nach den neuen geopolitischen Regeln. Es hat die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens nur dann anerkannt, wenn Ähnliches die USA und andere Staaten gegenüber Kosovo gemacht hatten. Wichtig ist, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag in seinem Urteil vom 15. Oktober 2008 die von Georgien beantragte Verurteilung Russlands als „Aggressor“ zurückgewiesen hat. Doch die Reaktion der westlichen Medien war anders: Die Position Tiflis, dass Moskau in Georgien eingefallen sei, traf hier auf großes Verständnis. Innerhalb kürzester Zeit, so Krone-Schmalz, wurde in der westlichen Wahrnehmung aus dem reagierenden Russland der militärische Aggressor, wohingegen Georgien die Opferrolle zugeschrieben wurde. (31)

Es begann die neue Etappe des geopolitischen Schachspiels, wo die strategische Rolle des Georgiens im Krieg 2008 besser erkennbar ist. Die USA drängten Georgien zum Angriff auf Südossetien, um Russland entweder als schwach (falls es nicht reagierte) oder als aggressiv (falls es doch reagierte) hinzustellen. Falls Russland nicht auf die georgische Großoffensive reagiert, zeigt es seine Schwäche, aber das ist unwahrscheinlich, denn dann würde Russland die Tür zu einem blutigen Bürgerkrieg im Kaukasus öffnen. Falls Russland doch reagiert, was eigentlich unvermeidlich war, dann wird Russland zum grausamen Aggressor verdammt, der nicht nur Georgien, sondern die ganze Welt bedroht. Dafür sollten die westlichen Medien sorgen. Einseitiger Vorwurf Russlands in der Aggression, unabhängig davon, ob es um eine militärische Aktion aus welchen Gründen oder sogar um notwendige Verteidigung geht, wird nun zur neuen geopolitischen Regel.

Der geostrategische Kalkül bei Saakaschwili sollte also darin bestanden, einen perspektivlosen Krieg zu beginnen, um dann sich im Westen als Opfer darstellen zu werden. Man kann sagen, dass Saakaschwili diese Aufgabe ausgezeichnet bewältigt hat, nicht zu fragen, um welchen Preis.

In Jahren 2014 und 2015 folgte diesem Muster ukrainische Präsident Poroschenko – wieder mit Artillerie und Luftangriff auf Donezk. Russland reagierte, ohne jedoch seine Armee direkt in den Konflikt einzubeziehen. Das Minsker Abkommen hätte ihrerseits eine weitere Eskalation des blutigen Bürgerkriegs in Donbass verhindern sollen. Es begann eine 8-jährige Pause, die aber dazu benutzt wurde, um die Ukraine militärisch stärker zu machen. Wie es Merkel Anfang Dezember 2022 gesagt hatte, das Minsker Abkommen von 2014 sei der Versuch gewesen, der Ukraine Zeit zu geben. „Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“ (32)

Die Verweigerung des Westens, im Ukraine-Konflikt einen Kompromiss mit Russland zu finden, gab dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj die Hoffnung, Donbass und Krim mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen. Im Februar 2022 befand sich Donbass erneut am Rande eines groß angelegten Bürgerkriegs, der das Szenario des Angriffs der georgischen Armee auf Südossetien im Jahr 2008 zu wiederholen drohte. Die ukrainische Armee hat an die Grenze zum Donbass eine große Anzahl von Panzern, Haubitzen und anderen Techniken, einschließlich Raketenwerfern und Kampfdrohnen, gebracht. Natürlich könnte diese Technik nicht zur Verteidigung der Landesgrenze gegen einen vermeintlichen Angriff eingesetzt werden. Es gibt auch direkte Beweise dafür, dass Kiew eine Offensive im Donbass vorbereitet, die insbesondere vom russischen Verteidigungsministerium bereits am 9. März 2022 vorgelegt wurden. (33)

Es kam nun die Logik des Zwickmühle-Spieles zum Tragen, wie es schon beim Fall „Saakaschwili“ gewesen war. Selenskyj sollte ermutigt werden, militärische Aktionen in Ost-Ukraine zu beginnen, um Russland direkt in den Konflikt einzubeziehen. Falls Russland nicht reagiert, dann wird es schwach, aber das ist unwahrscheinlich, denn dann öffnet Russland die Tür zu einem groß angelegten und noch blutigeren Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine, ganz zu schweigen von den geopolitischen Verlusten. Falls Russland auf die ukrainische Offensive doch reagiert, was eigentlich unvermeidlich ist, dann wird Russland zum grausamen Aggressor verdammt, der nicht nur Ukraine, sondern die ganze Welt bedroht.

Russland musste also in der Zwickmühle gedreht werden, wenn beide Variante für ihn schlecht sind. Genau darüber sollten sich die westlichen Medien Sorgen machen, denn sie hatten reichlich Zeit, sich auf ihre neue Aufgabe, Russland zu diskreditieren, besser vorzubereiten, als es beim Kaukasus-Krieg 2008 war. Kalkül bei Selenskyj sollte also darin bestanden, einen perspektivlosen Krieg zu beginnen, um sich dann im Westen als Opfer präsentieren zu können. Das Kalkül der westlichen Politik war, Russland als Aggressor darzustellen bzw. es als das absolut Böse zu diskreditieren, gegen den alle Kampfmethoden legitim und gerechtfertigt wäre. Das Endziel wäre, Russland aus dem Weg des Aufbaus einer unipolaren Welt endgültig zu räumen, genau nach der Brzezinskis Logik der einzigen Supermacht Amerikas.

Eine Wende in der Kriegsführung seit 24. Februar 2022

In dieser höchst gefährlichen Situation ist die Eindämmung der weiteren Kriminalisierung des Krieges zu einer wichtigen Frage des Weltfriedens geworden. Alle Kriege beenden sich irgendwann durch einen Friedensvertrag; nach einem atomaren Vernichtungskrieg werden die Friedensbemühungen zu spät. In diesem Sinne bekommt die russische Spezialoperation in der Ukraine eine besondere Rolle: Sie soll die weitere Kriminalisierung des Krieges beenden, um die Bedingungen für einen Friedensvertrag zu schaffen und das weitere Abgleiten in einen Dritten Weltkrieg zu stoppen.

Es war eine militärische Aktion, oder, nach Schmitts Definition, einen Akt der Aggression, um noch mehr Schlimmeres zu verhindern: einen Krieg im großen Stil am Boden, in der Luft und am Schwarzen Meer, mit Bombardierung von Städten und zivilen Zielen, mit zahlreichen zivilen Opfern, wie in Jugoslawien 1999, im Irak 2003, im Kaukasus 2008, in Donbass 2014 und in anderen Kriegen, die von Westen oder mit Unterstützung des Westens geführt wurden. Dann wäre ein Übergang zum totalen Krieg tatsächlich möglich.

Das Wichtigste, womit sich die russische Spezialoperation von den westlichen Spezialoperationen unterscheidet, ist die Art und Weise der Kriegsführung: Russland kämpft nicht gegen ukrainisches Volk, sondern gegen militärische Einheiten und Strukturen, also als Kombattanten gegen Kombattanten. Wir können sogar von der Regel sprechen, dass Russland die Ukraine zwingt, Probleme auf dem Schlachtfeld zu lösen, anstatt zivile Ziele zu bombardieren, wie es im Jahr 2014 der Fall war, als ukrainische Flugzeuge zentrale Stadtteile von Donezk bombardierten: Jeder Verstoß gegen diese Regel, wie zum Beispiel die Unterminierung der Krim-Brücke, führt sofort zu einer härteren Reaktion Russlands, zum Beispiel durch die Zerstörung von Energieanlagen. Am wichtigsten ist, dass Russland eine flächendeckende Bombardierung prinzipiell ausschließt, zum Trotz vieler, die glaubten, dass die russische Armee die ukrainische Hauptstadt Kiew angreift, eine Stadt mit 2,8 Millionen unschuldigen Menschen.

Die ukrainische Seite spricht viel von gezielter Bombardierung von Wohngebieten durch die russische Armee, von Völkermord, aber die russische Spezialoperation als Kriegsverbrechen juristisch zu kategorisieren, gelingt dem Westen offensichtlich nicht. Es wäre sogar sehr gefährlich, in den westlichen Medien über die sogenannten Kollateralschäden zu diskutieren, wenn man auch die Zahl der zivilen Opfer im Irakkrieg genannt würde.

Bei der totalen Politisierung der Kriegsfragen steht der Westen vor einem echten Erklärungsproblem. Besonders deutlich wird dies beim Präzedenzfall „Kosovo“. Nach diesem Fallrecht wäre es unrecht, den Anschluss Krim zur Russischen Föderation als völkerrechtswidrige Annexion zu bezeichnen. Wenn Kosovo doch eine völkerrechtswidrige Ausnahme ist, die nie wiederholen seinen sollte, dann braucht man eine klare Bestätigung dieses Kosovo-Falls als Verbrechen des Völkerrechts, das heißt, eine klare Absage, unter anderem von den USA, Deutschland und anderen Ländern, Kosovo als unabhängiger Staat anzuerkennen.

Das steht aber nicht in den Plänen des Westens. Der Kosovo-Fall sollte eigentlich zum Zweck dienen, ein Referendum oder parlamentarische Entscheidung als demokratisch legitimes Instrument beim Regime Change zu benutzen, also die westliche Demokratieförderung mit Hilfe Regime Change rechtlich zu bekräftigen. Die dadurch anerkannten Regierungen sollten dann in der Einflusszone des Westens geraten, wie es genau mit Kosovo passierte. Eine allgemeine Anwendung dieses Präzedenzfalls war nicht vorgesehen. Dies schafft eine Doppelmoral, wenn das, was für die Einigen erlaubt ist, von den Anderen nicht verwendet sein müsste. Das ist aber schon kein Dilemma des Völkerrechts, sondern ein Versuch, den Krieg zu kriminalisieren. Man kann sagen, dass hier die Idee der Abschaffung des Krieges ihren wirklichen kriminalisierten Sinn bekommt: Ein militärischer Angriff ist nur für die Siegermacht Amerika und ihren Verbündeten erlaubt, er ist gerecht und heißt eine Spezialoperation. Für alle Anderen sind die militärischen Aktionen völkerrechtswidrig und müssen verachten und verboten werden, unabhängig von Kriegsursachen und allen Fragen der justa causa.

Die Verwendung von völkerrechtlichen Präzedenzfällen als legitimes Mittel in der Außenpolitik ist eine sehr lange Tradition des angelsächsischen Common Law, die das Fallrecht zum wichtigen Grundsatz bei der Gestaltung des internationalen Rechts macht. Doch heute bekommt die Verwendung von einigen Präzedenzfällen seitens Russland ganz neue Bedeutung: Sie sollte im Wege der Zerstörung des bestehenden internationalen Rechts stehen. Die Eingliederung der Republik Krim in Russland, die Anerkennung den Republiken Donezk und Lugansk und schließlich die Spezialoperation in der Ukraine nach Vorbild von schon vorhandenen Präzedenzfällen sollten die großen Kriegsprobleme aus dem Bereich Politik und Moral herausnehmen und sie im Kompetenz internationalen Rechts zurücksetzen. Man kann sagen, dass Russland dadurch einen Widerstand gegen die Politisierung der großen Kriegsprobleme bzw. gegen die Auflösung der seit 1945 bestehenden Ordnung zu leisten versucht.

Die atomare Abschreckung im Konflikt in der Ukraine spielt dabei die entscheidende Rolle. Die Wiederherstellung des atomaren Gleichgewichtes mit den USA schließt eine direkte Einmischung von NATO und Amerika im Ukraine-Konflikt aus. Der Ukraine-Konflikt wird zum Stellvertreterkrieg, ähnlich wie es im Kalten Krieg war, wenn die atomaren Großmächte, die USA und die UdSSR, die weltweiten Konflikte auflösten, ohne sich in eine direkte – atomare – Konfrontation zu ziehen.

Logik des Stellvertreterkrieges

Der Stellvertreterkrieg hat seine eigene Logik, die sich in allen derartigen Kriegen während des Kalten Krieges bewährt hat. Im Vietnamkrieg (1955-1975) mussten die USA mit der indirekten Opposition ihrer „ideologischen Gegner“ rechnen, die die nordvietnamesischen Kommunisten militärisch, technisch und logistisch unterstützten – bis hin zur moralischen und wirtschaftlichen Erschöpfung der Amerikaner. Während des Afghanistankrieges (1979–1989) waren die Rollen vertauscht: Die Sowjetunion musste nun damit rechnen, dass die USA die Gegner Russlands mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen würden. Es hat gut funktioniert: Die Sowjetunion war gezwungen, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Ein direkter Zusammenstoß zwischen den beiden Atommächten, im Zangengriff des nuklearen Gleichgewichtes, war dabei ausgeschlossen.

Die Logik des Stellvertreterkriegs besteht also darin, Konflikte zu nutzen, um den Feind zu schwächen und zu zermürben, ohne ihn auf dem Schlachtfeld direkt zu konfrontieren. Der Ukraine-Konflikt verdeutlicht diese Logik: Die USA und ihre Verbündeten vermeiden eine direkte Konfrontation mit Russland, versuchen aber mit allen Mitteln, die Regierung in Kiew zu unterstützen, bis Russland seine politische Niederlage einräumt. Es geht natürlich nicht um eine militärische Niederlage – für eine nukleare Supermacht wäre ein solches Ergebnis im Prinzip unmöglich.

Das Kalkül ist, dass die Ukraine über genügend menschliche Ressourcen verfügt, um wesentlich stärkeren Russland zu bekämpfen. Westliche Politiker sprechen vom Mut des ukrainischen Volkes, der durch die mutige Führung Selenskyjs gestärkt wurde, die für Putin überraschend kam. In Russland hingegen ist die Auffassung weit verbreitet, dass Kiews Regierung unter der amerikanischen Führung einen Krieg gegen Russland bis zum letzten Ukrainer führt – im Rahmen des geostrategischen Projektes „Anti-Russland“. Nach dreißig Jahren der Verfolgung der Russischen Welt in der Ukraine (Verbot der russischen Sprache, Auslöschung der russischen Kultur, insbesondere im Bildungssystem, Verherrlichung der ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera usw.), ist die ukrainische Bevölkerung zu einem nicht geringen Teil wirklich an die Russische Welt verloren gegangen. Dies gilt vor allem für junge Menschen.

Die Überwindung des geschürten Hasses der Ukrainer auf alles, was russisch ist, ist vielleicht die größte Herausforderung, mit der Russland heute bei seiner Spezialoperation beschäftigen muss. Die Deutschen sollten sich dessen sehr wohl bewusst sein: Die Nazi-Regierung brauchte viel weniger Zeit, um die Bevölkerung für ihr Regime zu gewinnen und eine treue Anhängerschaft in Form der Hitlerjugend aufzubauen. Die sogenannte Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine, die als Endziel der Spezialoperation genannt wird, soll also nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern in den Köpfen der Menschen stattfinden. Die Ukrainer sollen selbst über ihre Zukunft entscheiden. Die Menschen in Donbass haben im Jahr 2014 deutlich gezeigt, dass die prowestliche Orientierung der Kiews Regierung nicht mit ihrem Willen identisch ist. Jetzt müssen ihre Wahl die Menschen in Cherson, Saporoschje und anderen ukrainischen Regionen treffen: nicht nur durch Referenden, sondern mehr durch die Etablierung eines normalen friedlichen Lebens.

Es kann in dem Ukraine-Konflikt keine Gewinner geben. Russland, nachdem es durch seine Spezialoperation einen Einmarsch der ukrainischen Armee in Donbass gestoppt hat, muss damit rechnen, dass es nicht verhindern konnte, dass sich der Bürgerkrieg in der Ukraine weiter verschärft – genau das, was es am meisten vermeiden wollte. Aber auch der Westen als Schirmherr des Kiewer Regimes kann diesen Konflikt niemals siegreich beenden. Eines Tages wird die Eskalation an die letzte rote Linie stoßen, jenseits derer der nukleare Winter droht. Der Hauptverlierer wird dann das ukrainische Volk sein, das das Ausmaß der durch das antirussische Projekt verursachten Tragödie erst noch erkennen muss. Der Hauptverlierer wird das ukrainische Volk sein: Es muss erst noch das Ausmaß der Tragödie erkennen, die der Bürgerkrieg und das vom Westen unterstützte antirussische Projekt über sein Land gebracht haben.

Es handelt sich also um eine Strategie der Eskalationssteigerung, die nur zwei Auswege kennt: eine atomare Apokalypse oder ein Friedensvertrag unter dem neuen Status quo der beiden Rivalen, Amerika und Russland. In der Situation, wenn Russland seine atomare Zweitschlagkapazität gegenüber den USA wiederhergestellt hat, ist alles Gerede über einen möglichen Atomkrieg reine Fantasie. Die Karibik-Krise 1962 war eine so gute Lektion, dass man sie heute wiederholen möchte. Die Tatsache, dass der kollektive Westen, angeführt von Amerika, immer mehr in einen Stellvertreterkrieg gezwungen wird, ist ein Beweis dafür, dass Russland für den Westen immer mehr zu einem anerkannten Feind wird, der nicht mehr durch polizeiliche Maßnahmen im Kampf gegen die Kriminalität besiegt werden kann.

Mit anderen Worten, die Kriminalisierung des Krieges bekommt immer weniger Chancen, die Welt in eine nukleare Apokalypse zu stürzen.

Bei der Suche nach dem Neuen Nomos der Erde

Das Problem des Neuen Nomos der Erde stellt Schmitt als Konflikt zwischen zwei möglichen Entwicklungen der westlichen Hemisphäre, also der amerikanischen Außenpolitik dar: als Realisierung eines globalen Weltanspruches Amerikas, die aber zu einem Weltbürgerkrieg führt, oder doch die Anerkennung, neben sich, den anderen Großräumen. Es handelt sich eigentlich um zwei Logiken der Entwicklung der modernen Weltordnung: um eine unipolare oder multipolare Welt, um ein hegemoniales Gleichgewicht unter der Herrschaft der einzigen Supermacht Amerikas oder um ein Gleichgewicht von mehreren Großräumen. Die Schmitts skeptische Frage, ob der Planet reif ist für das globale Monopol einer einzigen Macht, bleibt dabei die wichtigste.

Die jüngsten Ereignisse und insbesondere der Ukraine-Konflikt zeigen deutlich, dass die Frage des Neuen Nomos der Erde noch nicht geklärt ist. Sie nimmt sogar eine neue Dimension: in der noch mehr steigenden Dialektik zwischen Monismus und Pluralismus, zwischen Monopol und Polypol, zwischen einer in immer neuen Ansätzen sich bildenden Pluralität von Großräumen und einem globalen Weltanspruch.

Die Fortschritte auf dem Weg zu einer multipolaren Welt werden immer deutlicher. Das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges, das sich auf dem hegemonialen Gleichgewicht beruht, ist offensichtlich gescheitert. Der Kriegsbegriff erhält seine ursprüngliche, nicht kriminelle Bedeutung zurück. Russische Spezialoperationen in der Ukraine geben Russland seinen verlorenen Status als justus hostis, d.h. als gerechten Feind, zurück. Justa causa, die mit der Kriegsschuldfrage beschäftigt, zwingt Amerika als Sieger des Kalten Krieges, sich mehr und mehr auf die Interessen anderer Staaten einzulassen.

Der Krieg als solcher ist nicht mehr ungerecht, sondern muss durch die Regeln und Methoden der Kriegsführung auf der Grundlage der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Kriegsparteien eingehegt werden. Der Westen verliert damit seinen Universalismus in den Fragen der Sicherheits- und Weltpolitik: Nicht nur Amerika, sondern alle anderen Weltmächte sind als Garanten des Weltfriedens tätig. Die Neutralität als wichtiger Bestandteil der internationalen Beziehungen fordert ihre Rechte zurück, die in letzter Zeit vom Westen stark untergraben wurden. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Weigerung vieler Länder, die westlichen Sanktionen gegen Russland zu unterstützen. Die Haltung des Wortes seitens großer Politiker bekommt wieder die große Bedeutung, mindestens dann, wenn es um die Beziehungen zwischen Staatshäuptern Chinas, Russlands, Indiens und der Türkei geht.

Es entsteht also eine neue Weltordnung, wo die schon erprobte und gut funktionierten Prinzipien des Völkerrechtes, des Jus Publicum Europaeum, etwa das europäische Gleichgewichtssystem, die Hegung des Krieges, Haltung des Wortes seitens der großen Politiker und Neutralität als wichtige Bestandteile des Friedens wieder gefragt sind. Der Prozess der Rückkehr zu den Grundsätzen des europäischen Völkerrechts hat bereits begonnen, da China, Indien, Russland und andere Länder heute auf der internationalen Bühne an Bedeutung gewinnen und sich zunehmend um die Lösung langjähriger Konflikte bemühen: in Syrien und Bergkarabach, auf der Grenze zwischen Kirgistan und Usbekistan, zwischen Afghanistan und Tadschikistan, zwischen China und Indien, letztendlich zwischen Russland und Ukraine.

In diesem Sinne könnte man 24. Februar 2022 als einen Wendepunkt des Überganges zur neuen Weltordnung bezeichnet werden: von einer unipolaren zur multipolaren Welt.

Jus Publicum Europaeum als Muster der multipolaren Weltordnung

Eine Weltordnung des 21. Jahrhunderts, die sich auf den alten Prinzipien des Jus Publicum Europaeum beruht, ist möglich, wenn man anstelle der souveränen Staaten des alten Europa, die das Fundament des europäischen Friedens bildeten, die Schmitts Großräume gelegt werden müssen. Zwischen den kulturellen Großräumen liegen die Konflikte der Zukunft, wie es Politikwissenschaftler Samuel Huntington treffend feststellte. Solche Kriege und Konflikte in der neu aufgebauten Weltordnung sind in der überschaubaren Zukunft möglich und sogar unvermeidlich, sie sollen aber nicht durch Autorität der Siegermächte im Kalten Krieg, etwa als eine Spezialoperation, sondern durch die Willen von allen Großmächten, die die kulturellen Großräume vertreten, eingehegt werden. Nicht die Staaten, manche von denen in den verschiedenen Einflusszonen befinden und keine echte Unabhängigkeit verfügen, sondern die Großmächte sind heute die wahre Souveräne. China, Indien, Russland … Auch für Europa schloss Huntington eine wirkliche Souveränität nicht aus.

In dieser neuen Welt sind die Großmächte gleichberechtigte Akteure und anerkannte justus hostis, also sie übernehmen die Rolle von wirklich souveränen Staaten des Jus Publicum Europaeum. Nicht die Abschaffung, sondern die Hegung des Krieges wird wieder zum Wesen des neuen Völkerrechts. Der Krieg selbst wird nicht mehr illegal, sollte aber durch die Regeln und Methoden auf der Basis der Gleichberechtigung von allen Beteiligten eingehegt werden. Die Weltmächte müssen dafür sorgen, dass die Akte der Aggression nicht zu großen Angriffskriegen eskalieren. Usw. In dieser Weltordnung ist das amerikanische hegemoniale Gleichgewichts-System obsolet, unabhängig von allen Bemühungen des Westens zu beweisen, dass nur in einer einheitlichen liberal-demokratischen Welt einen echten Weltfrieden ohne Chaos und Anarchie geschafft werden könnte.

Dieser Prozess hat bereits begonnen und nahm in Rede vom russischen Präsident Wladimir Putin auf der Tagung des Valdai-Diskussionsklubs am 27. Oktober 2022 ganz konkrete Formen an. Die Grundthesen der Putins Rede sind einfach und klar genug. Einige von ihnen, die Putins Vision einer neuen Weltordnung besser erleuchten könnte, sind, dank Online-Plattform Infosperber, unter dem Titel „Wir wollen keine dominierende Macht werden“ ins Deutsche übersetzt. (34)

Kalter Krieg 2: Eine Übergangsphase

Bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat ein echter Kenner der russischen Politik, Peter Scholl-Latour, in seinen Büchern den Siegermächten im Kalten Krieg gewarnt, Russland zu isolieren und seine Interessen in den russischen Grenzgebieten zu ignorieren. Die Muskelspiele des Westens gegenüber Russland beobachtete er mit Skepsis und stellte mit bitterer Erkenntnis fest, dass Westen selbst den Weg in den neuen Kalten Krieg aufbaut. Es handelt sich aber nicht mehr um einer angespannten Verlässlichkeit des bipolaren Antagonismus zwischen Washington und Moskau, sondern um den multipolar geworden Kalten Krieg, wo eine ausschließlich amerikanische Hegemonie und damit verbundene Hoffnung auf eine „Pax Americana“ nur eine kurze Übergangsphase ist. Er schreibt im Prolog zu seinem Buch „Der Weg in den neuen Kalten Krieg“ (2009): „Der Begriff „new cold war“, vor dessen Formulierung die meisten zurückscheuen, bezieht seine Berechtigung nicht allein aus dem Wiederaufleben der gewohnten Gegnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und einem wieder erstehenden russischen Imperien.“ Damit ist nicht nur die neue Weltmacht China gemeint, „die im Begriff steht, den Status quo im ostasiatisch-pazifischen Raum aus den Angeln zu heben“. Viele andere Staaten sind bereit, sich den hegemonialen Ansprüchen Amerikas zu widersetzen. (35)

Auch die Bedeutung des Prinzips der unteilbaren Sicherheit für Europa, das vom Westen am Vorabend der russischen Spezialoperation in der Ukraine kategorisch abgelehnt wurde, war für Scholl-Latour absolut klar und wichtig. Er schreibt: „Gemessen an den Spannungen, die in unsere gegenwärtige Situation einer enthemmten strategischen Globalisierung kennzeichnen, mag uns der ‚Kalte Krieg von gestern‘ – nachdem einmal der apokalyptische Höhepunkt der Kuba-Krise überwunden war – als eine relativ verlässliche Kohabitation von zwei konträren Machtsystemen erscheinen. Diese lieferten sich zwar in irgendwelchen entlegenen Gegenden Stellvertreterkriege – „war by proxies“ -, aber gleichzeitig bewährte sich eine Übung der gegenseitigen Konsultationen und Mitteilung, die gelegentlich an Komplizenschaft grenzte. Im Schatten des Potenzials atomarer Vernichtung, über das die beiden Supermächte verfügten und das ein strategisches Patt erzwang, genossen die übrigen Staaten niederen Ranges ein beachtliches Maß an Sicherheit und Stabilität. Die Westeuropäer zumal konnten sich in Ruhe der Häufung ihres Wohlstandes widmen und sich auf mehr oder minder schnöde Weise jeder schicksalhaften Verantwortung entziehen.“ (36)

Die Sicherheit des Kalten Krieges war im Prinzip unteilbar: Alle Staaten wurden in der bipolaren Welt integriert und alle Konflikte auf der Erde gingen nicht weiter als bis zum Stellvertreterkrieg zwischen zwei Supermächten. Es scheint so, dass heute die Kuba-Krise des „Kalten Krieges von gestern“ im neuen multipolaren Kalten Krieg durch Ukraine-Krise ersetzt ist: unter den anderen Konstellationen, aber doch mit dem Anspruch, dem Prinzip der unteilbaren Sicherheit seine friedensstiftende Bedeutung zurückzugeben. In diesem Sinne wird Russland zu einem neuen Katechon: Es soll auf der Grundlage seiner territorialen und militärischen Dimensionen die amerikanischen Ansprüche auf eine Weltregierung eindämmen, bis die Welt reif wird für die Errichtung einer de jure und de facto multipolaren Weltordnung. Russland wird also zu einem neuen Katechon, der die amerikanischen Ansprüche auf absolute Weltherrschaft eindämmen soll, bis die Welt reif ist für die Errichtung einer de jure und de facto multipolaren Weltordnung.

Man könnte sogar über das Grundprinzip der russischen Außenpolitik sprechen. Russland ist das einzige Land, das verhindern kann, dass die USA in Versuchung kommen, ihre Atomwaffen erneut einzusetzen, ohne angemessene Antwort zu bekommen. Das nukleare Gleichgewicht gibt gute Möglichkeiten, die internationalen Beziehungen – im Interesse der multipolar gewordenen Welt – zu harmonieren und die regionalen Konflikte zu schlichten. Russland wendet sich an alle, die daran interessiert sind, ohne politischen oder moralischen Hintergrund. Im Nahen Ost baut Russland eine Kooperation mit Syrien, Türkei, Iran, Saudi-Arabien und Israel auf, also mit den Staaten, die sich im Wesentlichen in der scharfen Konfrontation befinden. Im Karabach-Konflikt bildet Russland eine nie gewesene Kooperation mit Armenien, Aserbaidschan, Iran und der Türkei. Usw.

Dabei stellt die Russische Föderation ausdrücklich keine ideologischen Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit. Die kommunistische Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ steht heute in Russland nicht mehr auf der Tagesordnung, aber auch der einzig gebliebene ideologische Anspruch des Westens, eine west-liberale Demokratie aufzubauen, ist für Russland umso mehr fremd. „Realpolitik statt liberaler Imperialismus“, so könnte grob das wichtige Prinzip der russischen Weltpolitik formuliert werden.

Scholl-Latour starb im August 2014, zu Beginn der Krise in der Ost-Ukraine, und ließ die Leser ohne seine sachkompetenten, unabhängigen und gut verständigten Darstellung des Weltgeschehens. Heute wäre seine Meinung besonders wichtig: in der Atmosphäre, wenn die Russlands Politik von politisch-medialem Mainstream nur als aggressiv, völkerrechtswidrig und unberechenbar vorgestellt ist.

1. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Duncker&Humbolt GmbH, Berlin, 5. Auflage 2011, S. 22.

2. Ebenda, S. 59, 62, 98.

3. Ebenda, S. 25.

4. Ebenda, S. 114. 234. 245.

5. Ebenda, S. 161.

6. Ebenda, S. 144-145.

7. Ebenda, S. 232, 210-211.

8. Ebenda, S. 233-235, 242.

9. Ebenda, S. 237-239.

10. Ebenda, S. 93.

11. Ebenda, S. 92-93.

12. Ebenda, 93.

13. Ebenda, S. 94-95.

14. Ebenda, S. 298.

15.Ebenda, S. 299.

16. Ebenda, S. 225.

17. Ebenda, S. 245-246, 254.

18. Ebenda, S. 246.

19. Ebenda, S. 248-249.

20.Ebenda, S. 250-251.

21. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 24-25, 40, 258.

22. Ebenda, S. 46-49, 55-56.

23. Ebenda, S. 16, 237.

24. Benoist, Alain de: Carl Schmitts „Land und Meer“, Verlag Antaios – Schnellroda, 2019, S. 67-68.

25. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist, Verlag C.H. Beck, München 2017, S. 22.

26. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde, S. 244, 253.

27. Ebenda, S. 240.159, 219.

28. https://www.nachdenkseiten.de/?p=89088

29. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 56.

30. Ebenda, S. 61-63.

31. Ebenda, S. 57, 65.

32. https://www.n-tv.de/politik/Merkels-Saetze-und-Putins-Luegen-article23819323.html

33. https://vz.ru/news/2022/3/9/1147625.html

34. https://www.infosperber.ch/politik/welt/wir-wollen-keine-dominierende-macht-werden/

35. Scholl-Latour, Peter: Der Weg in den Kalten Krieg, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008/Propyläen Verlag 2009, S. 12.

36. Ebenda, S. 11-12.