Es ist erstaunlich, wie leicht viele westliche Politiker das Wort „Demokratie“ aussprechen und wie überzeugend die deutsche Presse über die hohen Stellenwerte der demokratischen Grundlagen berichtet. Es scheint so, dass man die Demokratie keine besondere Erklärung mehr braucht: Sie ist eine selbstverständliche, natürliche, alternativlose, lebenswichtige Sache. Dabei wird in der Regel die west-liberale Demokratie als die beste und alternativlose Regierungsform gemeint.
Doch Demokratie ist mehr als eine Regierungsform. Bolschewiki haben ihre Revolution auch im Namen der Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit ausgeführt. Wilhelm Liebknecht (1826-1900), einer der Gründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, erklärte, Demokratie und Sozialismus sind zwei Seiten derselben Medaille und insofern untrennbar miteinander verbunden sind.
In Deutschland gibt es keinen einheitlichen Bezug auf Demokratie. Mehrjährige Untersuchung zeigt, dass Ostdeutsche, im Unterschied zu den Westdeutschen, weniger einer liberalen Demokratie, sondern eher einer sozialistischen Demokratie vertrauen. Dabei handelt es sich nicht um das System der früheren DDR, sondern tatsächlich um eine Demokratie, die im Unterschied zur liberalen Demokratie eine stärkere Priorität auf die Gerechtigkeit gegenüber der Freiheit legt und dem Staat eine wesentlich stärkere Rolle bei der Gestaltung relativ gleicher Lebensbedingungen einräumt. Im Ostdeutschland ist groß die Zustimmung, dass Sozialismus im Grunde eine gute Idee ist, die nur schlecht ausgeführt wurde. „Insofern kann man von einer gespaltenen politischen Gesellschaft der Deutschen sprechen“, ist die Schlussfolgerung der Untersuchung. (1)
Sogar beim einfachen Versuch, den Begriff „Demokratie“ zu erklären, könnte man an vielen Fragen stoßen. Ein bekannter Demokratie-Experte, Paul Nolte, behauptet, dass die Vorstellung vor der Demokratie als irgendwann fertigem Gebäude oder als einem Kochrezept mit bestimmten Zutaten nur in die Irre führt. Demokratie braucht institutionelle Fixpunkte, die über sehr lange Zeit stabil bleiben. Aber sie ist zugleich in steter Veränderung begriffen und ständig auf der Suche nach sich selbst. „Einen ‚Urmeter‘ der Demokratie gibt es nicht.“ (2) Helmut Schmidt schreibt in seinem Buch „Außer Dienst“: „Demokratie ist weniger ein Zustand als vielmehr ein Prozess“. (3)
Unbestritten ist vielleicht nur das Grundprinzip der Demokratie, das am meisten als das Selbstbestimmungsrecht des Volkes definiert ist.
In seinem Werk „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (1923) baut Carl Schmitt eine Konstruktion der homogenen, nationalstaatlichen, zur Reihe von Identitäten angestrebten Demokratie auf, gestützt auf das homogene Grundprinzip der Demokratie in der Rousseaus Staatskonstruktion des Contrat social (1762). Nach Schmitt, alle demokratischen Argumente beruhen auf einer Reihe von Identitäten: Identität von Regierenden und Regierten, Herrscher und Beherrschten, Identität von Subjekt und Objekt staatlicher Autorität, Identität des Volkes mit seiner Repräsentation im Parlament, Identität von Staat und jeweilig abstimmenden Volk, Identität von Staat und Gesetz, letztlich Identität des Quantitativen (ziffernmäßige Mehrheit oder Einstimmigkeit) mit dem Qualitativen (Richtigkeit des Gesetzes). In der Demokratie als Organisationsform trennt Schmitt der Wille des Volkes, der „einen eigenen Wert und ein eigenes Prinzip“ hat, von den politischen Richtungen (Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus und noch welche), die, sobald sie zur Macht gelingen, den politischen Vektor der Demokratie bestimmen. (4)
Carl Schmitts Konstruktion einer homogenen, identitätssuchenden Demokratie widerspricht nicht dem Verständnis, dass Demokratie weniger eine Regierungsform als vielmehr ein Prozess ist. Damit wird die Demokratie auf eine völlig andere, höhere Ebene gehoben, auf der die zahlreichen Regierungsformen, die auf dem Prinzip der Demokratie (Selbstbestimmungsrecht der Völker) beruhen, bei weitem nicht die größte Rolle spielen. Unabhängig von allen politischen Richtungen streben die Menschen immer nach einem besseren und glücklicheren Leben, dessen höchster Ausdruck der Gesellschaftsvertrag ist, d.h. die Einheit der gemeinsamen Interessen und Bestrebungen der Menschen, oder mit anderen Worten, zur Reihe von Identitäten angestrebte Gemeinschaft. Wenn in dieser Gemeinschaft Widersprüche entstehen, die ihre Einheit zerstören, schaltet die Demokratie auf ihr eigenes Krisenmanagement um, das die Unzufriedenheit in Protesten aufstaut und in Treibstoff für die weitere Entwicklung der Demokratie verwandelt. Der Wille des Volkes wird mit neuen Inhalten gefüllt und stellt „beschädigte“ Identitäten wieder her. Dieser Prozess funktioniert wie ein Perpetuum Mobile, was bedeutet, dass die Demokratie keine Endstation hat.
Eine solche Vorstellung der Demokratie untergräbt das Fundament des westlichen Universalismus, nämlich die west-liberale Demokratie als Grundlage der zukünftigen Weltordnung, und öffnet damit den Weg für alle Staaten und Völker, ihren eigenen Weg der Demokratie zu suchen. Der Westen wird des Rechts beraubt, den Rest der Welt über Demokratie zu belehren, womit er nur seine eigene, historisch gewachsene Demokratie meint.
1. Politische Kultur in Deutschland, by WOCHENSCHAU Verlag Schwalbach/Ts., 2. Aufl.2004, S. 31-35.
2. Nolte, Paul: Was ist Demokratie?, Verlag C.H.Beck oHG, München 2012, S. 83.
3. Schmitt, Helmut: Außer Dienst, Pantheon Verlag, März 2010, S. 81.
4. Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Duncker & Humblot, 2010, S. 8-10, 12-14.