Immer wieder ist von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine die Rede, ohne sich die Mühe zu machen, wenigstens diese beiden völlig unterschiedlichen Begriffe des Völkerrechts – Aggression und Krieg – in irgendeiner Weise zu erklären. Inzwischen ist ein Akt der Aggression noch nicht ein Krieg, der bis zu einem totalen Vernichtungskrieg explodieren kann. Damit wird die Rolle des Völkerrechts herabgesetzt, dessen oberstes Ziel es ist, einen Angriff frühzeitig zu beenden, um eine weitere Eskalation des Krieges zu vermeiden.
„Eine Einhegung, nicht die Abschaffung des Krieges war bisher der eigentliche Erfolg des Rechtes, war bisher die einzige Leistung des Völkerrechtes“, schrieb der berühmte deutsche Rechtsphilosoph Carl Schmitt in seinem bahnbrechenden Werk „Der Nomos der Erde“ (1950), in dem er die Entwicklung des Völkerrechts seit der Antike untersucht. Es war einer höchsten Kunst des Europäischen öffentlichen Völkerrechts, des Jus Publiсum Europaeum, dem gelingt, in der Zeit von 17. Jahrhundert bis 20. Jahrhundert die vernichtende Religions- und Bürgerkriege des Mittelalters zu beenden und die effektiven rechtlichen Instrumente für die Hegung den Kriegen in Europa zu schaffen. Nach dem Ersten Weltkrieg löste sich das Jus Publicum Europaeum und mit ihm auch die Kunst, die Kriege einzuhegen. Die Folge war der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der UN-Sicherheitsrat mit seinem Vetorecht die Funktion der Einhegung des Krieges übernommen. Das militärische Gleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR schloss ein direktes militärisches Aufeinandertreffen der beiden nuklearen Supermächte aus und bewahrte die Welt vor dem Ausbruch eines neuen Weltkriegs.
Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übernahmen die Vereinigten Staaten, wie schon vor einem Jahrhundert, wieder die Rolle des Richters bei der Lösung aller globalen Konflikte und Kriege. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene bipolare Weltordnung wurde in Frage gestellt, und an ihrer Stelle versuchte der Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten, eine neue, auf Regeln basierende Weltordnung zu schaffen, die mit seinem neuen Status quo als Sieger des Kalten Krieges vereinbar sein sollte. Die Kernfrage ist aber, ob diese Ordnung in der Lage ist, Kriege einzudämmen, um die Welt vor einem neuen Vernichtungskrieg zu schützen.
Artikel-Themen: Wenn die Politik vom Krieg spricht, schweigen die Juristen /Ein verlorener Diskurs / Sinnwandel des Krieges / Das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges / Kriminalisierung des Krieges / Angriffsakt und Angriffskrieg / Schmitts Hauptbotschaft an die gesamte Menschheit / Verpasste Chancen für den Frieden / Regelbasierter Ordnung oder unteilbare Sicherheit? / UN-Sicherheitsrat und Vetorecht / Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie
Wenn die Politik vom Krieg spricht, schweigen die Juristen
Nicht Staats- oder Völkerrechtler, sondern Politiker bestimmen heute, wer Angreifer und Kriegsverbrecher ist, wer die Schuld am Ukraine-Konflikt trägt usw. Mit der totalen Politisierung des Ukraine-Konflikts gehen alle Versuche, die rechtlichen Konzepte des Krieges zu verstehen, in der allgemeinen Ächtung Russlands als Aggressor unter.
Ein Beispiel ist ein Artikel des Professors für Strafrecht und Rechtsphilosophie Reinhard Merkel in der FAZ „Die kühle Ironie der Geschichte“, der am 08. April 2014, also unmittelbar nach der Abspaltung der Krim von der Ukraine, erschien. Merkel schreibt: „Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische Verfassung bindet Russland nicht. War dessen Handeln also völkerrechtsgemäß? Nein; jedenfalls seine militärische Präsenz auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig. Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als eine maskierte Annexion? Nein.“(1)
So einfach und leicht verständlich aus rechtlicher Sicht. Doch die offizielle Bekundungen westlicher Regierungen, betont Merkel, lauten anders. Er schreibt: „Glaubt man ihnen, dann hat Russland auf der Krim völkerrechtlich das Gleiche getan wie Saddam Hussein 1991 in Kuwait: fremdes Staatsgebiet militärisch konfisziert und dem eigenen zugeschlagen. Die Annexion damals, man erinnert sich, hat ihrem Urheber einen massiven Militärschlag zugezogen. Wäre ein solcher Schlag, von seiner politischen Unmöglichkeit abgesehen, heute auch gegen Russland gerechtfertigt? Gewiss nicht.“ Im Weiterem erklärt Merkel ausführlich, warum Sezession, also die Abspaltung der Krim von der Ukraine, das dortige Referendum und der Anschluss der Halbinsel Krim an Russland keine Annexion darstellen, und wirft dem deutschen Politiker vor, grundlegende Begriffe des Völkerrechts zu verwirren.
Dennoch wurde Merkels Versuch, den von Politikern so gern verwendeten Begriffen eine echte rechtliche Bedeutung zu geben, in Deutschland nicht beachtet. Bis heute spricht jeder von der Angliederung der Halbinsel Krim an Russland nicht anders als von der Annexion, und die Diskussion über den Krim-Fall kommt über politisches Moralisieren nicht hinaus, wie zum Beispiel der Gastbeitrag des politischen Philosophen Darrel Möllendorf „Das Opfer hat keine Mitschuld an Kriegsverbrechen“ in der FAZ zeigt. Er hält Merkels Beurteilung der Lage der Ukraine falsch und stellt die Frage: „Wann entsteht eine moralische Pflicht zum Kriegsaustritt?“, und wenn der Krieg beendet werden muss, „wie sollte dies, in moralischer Hinsicht, geschehen?“ (2)
Dass Politik und Moral keine guten Ratgeber in den großen Fragen des Völkerrechts und des Krieges sind, ist seit langem bekannt. Der Ukraine-Konflikt ist ein typisches Beispiel dafür.
Ein verlorener Diskurs
Was ist eigentlich ein Angriffskrieg? Wer ist Angreifer und wer ist Verteidiger? Wo liegt die Kriegsursache? Was unterscheidet die russische Spezialoperation in der Ukraine von den amerikanischen Spezialoperationen in Jugoslawien, Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan? Wer verfügt über die Interpretationsherrschaft hierüber? Usw. Es gibt viele Fragen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt, bei denen die Rolle der Rechtswissenschaftler besonders wichtig ist: Ihre Aufgabe ist es, rechtliche Fragen zu erläutern, um gefährliche Entscheidungen zu verhindern, die nur von Emotionen diktiert werden. Die endlosen Reden über die „Annexion“ der Krim und Russlands Angriffskrieg beweisen aber das Gegenteil.
Und es hat seine eigene Logik. Eine öffentliche, breit angelegte und von der offiziellen Politik getragene Diskussion in Deutschland kann nicht ohne Carl Schmitt stattfinden. Seine Argumentation zu den Fragen des Krieges und insbesondere zur Frage des gerechten Krieges ist jedoch ein Gift für die international dominierten und von Amerika stark geprägten Vorstellung über Krieg, Frieden und Weltordnung. Dies gilt insbesondere für Wissenschaft, wo Carl Schmitt als Gegner, wenn nicht gar als Feind der westlichen Demokratie bezeichnet wird. Daher ist er weiterhin ein unbequemer Gegner für die offizielle Politik. Beispielweise listet ihn die Webseite „Gegneranalyse“ als einen der gefährlichsten politischen Wortführer antiliberalen Denkens auf. Das Projekt wird vom Zentrum Liberale Moderne (LibMod) durchgeführt, vom BMFSFJ gefördert und von der bpb und dem Bundesprogramm „Demokratie leben“ unterstützt. (3)
Es überrascht nicht, dass Schmitts intellektuelles Erbe in Deutschland außerordentlich negativ bewertet wird. Auf Anfrage „Carl Schmitt heute“ beeilt sich Googel zu antworten: „Schmitt wird heute, wegen seines staatsrechtlichen Einsatzes für den Nationalsozialismus, als Gegner der parlamentarischen Demokratie und des Liberalismus sowie als „Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers, der jeder Regierung dient, wenn es der eigenen Karriere nutzt“, weithin abgelehnt.“ Und das zu einer Zeit, in der das Interesse an Schmitts Lehre in der ganzen Welt buchstäblich explodiert. Dies wäre nicht möglich gewesen, wenn seine Argumente zu Krieg und Frieden, zu Demokratie und Weltentwicklung, zu Staats- und Völkerrecht nicht den Test der Relevanz bestanden hätten.
Angesichts der großen Verwirrung über die Grundbegriffe des Völkerrechts ist es sinnvoll, die Argumente Schmitts zu Krieg und Frieden (mehr hier), die er in seinem Werk „Der Nomos der Erde“ dargelegt hat, noch einmal aufzugreifen.
Sinnwandel des Krieges
Von großer Bedeutung ist heute Schmitts gründliche Untersuchung des Sinnwandels des Krieges während des Ersten Weltkrieges. Den ersten Ansatz dieses Wandels des Krieges findet er schon im Versailler Friedensvertrag 1919, wo Deutscher Kaiser Wilhelm II. als einzige Angeklagte des Kriegsverbrechens genannt wurde. Die Siegermächte Frankreich und Großbritannien versuchten, dem besiegten Deutschen Reich die alleinige Schuld am Krieg zuzuschreiben. Die Kollektivschuld, die im Jus Publicum Europaeum sicherlich alle Kriegsbeteiligten tragen müssten, wurde durch Identifizierung eines bestimmten Kriegsverbrechens ersetzt, unbeachtet von Kriegsschuldfrage, von Protesten Deutschlands und von verbreiteter Meinung, unter anderem von amerikanischer Präsident W. Wilson, dass die Schuld am Ersten Weltkriege das ganze Europa tragen muss.
Nicht mehr die Gleichberechtigung der souveränen Staaten als der formale Anhaltspunkt für die Bestimmung des gerechten Krieges, sondern die Autorität der Siegermächte übernimmt nun das Recht zu entscheiden, was eine Gerechtigkeit im Krieg bedeutet und wer ein Kriegsverbrecher ist.
Das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges
Nach Schmitt haben die Vereinigten Staaten den größten Beitrag zum Sinnwandel des Krieges geleistet, mit dem Versuch, den Krieg als solchen abzuschaffen, rein in der amerikanischen Tradition outlawry of war, die alle Kriege als solche ächtet und verurteilt. Es waren gerade amerikanische Delegierte, die in den Beratungen der Pariser Konferenzen eine Bestrafung der Staatshäupter forderten und den Angriffskrieg als Unrecht und als ein moralisches Verbrechen gegen die Menschheit bezeichneten. Die Abschaffung des Krieges, die ursprünglich als Ideal der Freiheit und des Friedens auf dem amerikanischen Kontinent entstanden hat, sollte nun die im Jus Publicum Europaeum gut funktionierte Methode der Kriegsverhütung, also die Hegung des Krieges, ersetzen. Mit dem Briand-Kellogg-Pakt 1928 wurde outlawry of war zum Mittel der nationalen Politik Amerikas gemacht und auf den ganzen Planeten ausgedehnt. Nicht die Hegung, sondern die Abschaffung des Krieges als Rechtsinstitut sollte nun zur neuen völkerrechtlichen Konstruktion des Weltfriedens geworden werden, die nach dem Ersten Weltkrieg von amerikanischen Delegationen in der Genfer Liga aktiv gefördert wurde. (4)
Doch dem Völkerbund ist nicht gelungen, das eigene Kriegsverhütungs-System aufzubauen und den Zweiten vernichtenden Weltkrieg zu stoppen. Schmitt weist auch auf das innere Problem der Abschaffung des Krieges als Modell des Völkerrechts hin. Es handelt sich um die Übertragung der großen Kriegsprobleme aus der Kompetenz der Justiz im Bereich der Politik und Moral. Es war damals, so Schmitt, für jeden europäischen Staatsmann und jeden europäischen Staatsbürger selbstverständlich, dass die Frage der Abschaffung des Krieges in der Sache eine Frage der Abrüstung und Sicherheit ist. Das sind aber mehr politische und moralische als juristische Fragen. Das bedeutet, dass das große Problem des Krieges nicht nur Juristen, „sondern auch die öffentliche Meinung breiter Kreise und großer Massen“ beschäftigt, die aber die juristischen Kriegsbegriffe „als einen künstlichen Formalismus oder sogar als eine sophistische Ablenkung von der eigentlichen großen Aufgaben“ empfinden. Dadurch bleibt sachliches Recht oder Unrecht und die Schuld am Kriege außer Betracht. (5)
Die emotionale Empfindung des Kriegsgeschehens ist bekanntlich stärker als die Vorstellungen über Gerechtigkeit des Krieges und allen anderen juristischen Formalismen. Die Übertragung der großen Kriegsfragen im Bereich der Politik und Moral bedeutet also eine zunehmende Rolle für die öffentliche Meinung, die ihrerseits stark von den Medien beeinflusst wird. Das ist eigentlich die Binsenwahrheit: Seit der Erfindung des Buchdrucks sind die Medien ein fester Bestandteil aller Kriege, Revolutionen und Konflikte. Heute, bei der totalen Politisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens – von Sport, Medizin und Kultur bis Wirtschaft, Bildung und Forschung, – klingt das wie noch ein Schmitts Wartungssignal: Wenn die Rechtswissenschaft der Politik Platz macht, wird es Krieg geben.
Kriminalisierung des Krieges
Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges taucht die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges auf, insbesondere die Vorlesungen des Theologen Francisco de Vitoria, die aus der Zeit der ersten Conquista stammten und wegen ihrer außergewöhnlichen Unparteilichkeit, Objektivität und Neutralität großen Ruhm erlangten. Eine besondere Rolle bei der Popularisierung von Vitorias spielten amerikanische Juristen und Politiker. In einer Erklärung hat die amerikanische Regierung sogar eine Rückkehr zu älterer und gesünderer Auffassung des Krieges proklamiert. Doch für Schmitt war die moderne Interpretation der Lehre des gerechten Krieges eine große Verfälschung der Vitorias Argumentation. Die mittelalterliche Lehre erkannte in den nicht-christlichen Gegnern den gerechten Feind und hebe den Kriegsbegriff als solchen nicht auf. „Dagegen, betont Schmitt, erstrebt die heutige Theorie des gerechten Krieges gerade die Diskriminierung des Gegners, der den ungerechten Krieg führt. Der Krieg selbst wird zum Verbrechen in der kriminellen Bedeutung des Wortes. Der Aggressor wird zum Verbrecher im äußersten kriminellen Sinn des Wortes erklärt; er wird outlaw gestellt wie ein Pirat.“ (6)
Hier wirkt die Logik des amerikanischen Ideals der Abschaffung des Krieges. Indem der Krieg auf der einen Seite zur Strafaktion im Sinne des modernen Kriminalrechts wird, kann auf anderen Seite keinen anerkannten Gegner mehr sein. Schmitt schreibt: „Gegen ihn wird nicht mehr Krieg geführt, wenig wie gegen einen Piraten, der in einem ganz anderen Sinne Feind ist als der Kriegsgegner im Sinne des europäischen Völkerrechts. Er hat ein Verbrechen im kriminellen Sinne begangen, das Verbrechen des Angriffs. Die Aktion gegen ihn ist infolgedessen ebenso wenig Krieg wie die Aktion der staatlichen Polizei gegen einen Gangster Krieg ist; sie ist bloße Exekution und schließlich – mit der modernen Verwandlung des Strafrechts in soziale Schädlingsbekämpfung – nur eine Maßnahme gegen einen Schädling oder Störer, der mit allen Mitteln moderner Technik unschädlich gemacht wird. Der Krieg ist abgeschafft, aber nur deshalb, weil die Feinde sich gegenseitig nicht mehr auf der gleichen moralischen und juristischen Ebene anerkennen.“ (7)
Die Abschaffung des Krieges und die Kriminalisierung des Krieges sind zu zwei Seiten derselben Medaille geworden: Das eine setzte das andere voraus. Beide – Abschaffung und Kriminalisierung des Krieges – stellen die Politik und Moral höher als das Völkerrecht und verhindern, sogar absichtlich, in der öffentlichen Meinung die großen Kriegsfragen klarzustellen. Schmitt weist auf zwei Wahrheiten hin: „Erste, das Völkerrecht die Aufgabe hat, den Vernichtungskrieg zu verhindern, also den Krieg, soweit er unvermeidlich ist, zu umgehen, und zweitens, dass eine Abschaffung des Krieges ohne echte Hegung nur neue, wahrscheinlich schlimmere Arten des Krieges, Rückfälle in den Bürgerkrieg und andere Arten des Vernichtungskrieges zur Folge hat“. Er stellt fest: „Eine Einhegung, nicht die Abschaffung des Krieges war bisher der eigentliche Erfolg des Rechtes, war bisher die einzige Leistung des Völkerrechtes.“ (8)
Angriffsakt und Angriffskrieg
Schmitt zufolge gab es zwischen 1920 und 1924 zahlreiche Versuche und Vorschläge, „um das Kriegsverhütungs-System im Völkerbund zu stärken“. Doch es wurde zu keiner Vereinbarung gekommen, was ein Angriff, Angriffskrieg und insbesondere was ein mit Strafe bedrohtes internationales Verbrechen sein soll. Das Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 enthält zwar den Satz, „dass der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen ist“, aber keine Entwürfe des Protokolls waren perfekt. Auch selbst Genfer Protokoll ist nicht in Kraft getreten: Es ist infolge des englischen Wiederstandes gescheitert, aufgrund von Gedanken, dass formale Definitionen des Angreifers nicht unterschieden werden können, ob militärische Aktion einem Verteidigungszweck dienen oder nicht. (9)
Die Unterscheidung des Angriffsaktes von dem Angriffskrieg ist dabei besonders wichtig. Das ist, nach Schmitt, nur auf den ersten Blick künstlich und formalistisch. Er schreibt: „Jeder Krieg, auch der Angriffskrieg, ist als Krieg normalerweise ein zweitrangiger Vorgang, ein Kampf auf beiden Seiten. Der Angriff dagegen ist ein einseitiger Akt. Die Frage nach dem Recht oder Unrecht des Krieges, auch eines Angriffskriegs, im Ganzen bedeutet etwas völlig anderes als die Frage nach dem Recht oder Unrecht eines bestimmten Angriffsaktes, mag dieser Angriffsakt nun zu einem Kriege führen oder noch rechtzeitig gestoppt werden. Angriff und Verteidigung sind nicht absolute, moralische Begriffe, sondern situationsbestimmte Vorgänge.“ (10)
Das heißt, dass die Erklärung des Angriffskrieges zum Verbrechen ganz anders ist als die Reaktion auf einen Angriffsakt, bei dem, zum Beispiel, den ersten Schuss abgegeben wurde. Im ersten Fall bleiben die Urheber, Verursacher oder Schuldige des Krieges ungeklärt, während im zweiten Fall bleibt die Hoffnung, den bevorstehenden Aggressionskrieg zu hegen. „Die Beschränkung auf den Angriffsakt, betont Schmitt, ist also zweckmäßig und sogar notwendig, gerade um die schwierige Frage nach der justa causa, d. h. nach dem in der Sache gerechten Krieg und der Schuld am Kriege zu vermeiden. … Das Äußerliche und Formalistische dieser Methode wird im Kauf genommen, um den Angriffsakt und die Gewaltanwendung so schnell wie möglich zu stoppen, und den Ausbruch des Krieges selbst zu vermeiden.“ (11)
Schmitts Hauptbotschaft an die gesamte Menschheit
Schmitt sah in der Kriminalisierung des Krieges eine große Gefahr für den Weltfrieden. Jeder Krieg – gerechter oder ungerechter – ist von Waffen abhängig. Die technische Entwicklung des Vernichtungsmittels ändert den Charakter des Krieges. Schmitt beobachtete das bei der angloamerikanischen Bombardierung der deutschen Städte. Die Luftkriege tragen überhaupt einen Vernichtungscharakter, weil die Bombardierung aus der Luft nur den Sinn und Zweck einer Vernichtung hat.
Seit 1945, nach den US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, ist das die wichtigste Frage des Weltfriedens: Wer über nukleare und heute auch über moderne konventionelle Waffen verfügt, kann für sich in Anspruch nehmen, nach seinem Status quo und seiner Autorität entscheiden zu können, was gerecht und was ungerecht ist, wer ein Kriegsverbrecher ist usw., ganz im Sinne der modernen Theorie des gerechten Krieges.
Ab 1989/90 wurde dieser Anspruch von den USA übernommen. Amerika hat begonnen, seinen Gegnern nicht als gerechten Feinden, sondern als kriminellen Verbrechern zu behandeln, gegen denen keinen Krieg geführt wird, sondern eine Strafaktion, benannt als Spezialoperationen mit den schillernden Namen: Allied Force in Jugoslawien 1999, Iraqi Freedom in Irak 2003 und Odyssey Dawn in Libyen 2011.
Mit der Diskriminierung Putins Russlands, die lange vor der Ukraine-Krise begonnen hatte, lässt keinen Zweifel daran, dass die Kriminalisierung des Krieges heute in vollem Gange ist. Der Russischen Föderation wurde abgesagt, ein gerechter Gegner zu werden. Nicht die früheren gleichberechtigten Rivalen in der Frage der Weltsicherheit, sondern allein die USA und ihre Verbündeten sollen nun entscheiden, was für Weltfrieden gut oder schlecht ist. Die Unterscheidung zwischen Aggression und Verteidigung wird in den Ofen des „gerechten Krieges“ geworfen, den die westliche Zivilisation gegen die unzivilisierte Welt führt, um eine auf Regeln basierende Ordnung zu schaffen. Debatten darüber, wer wirklich für das Anheizen des Konflikts in der Ukraine verantwortlich gemacht werden sollte, werden an der Wurzel unterdrückt, ganz zu schweigen von Versuchen, den Konflikt friedlich zu lösen.
Genau von solcher Entwicklung hat Schmitt in seinem Werk „Der Nomos der Erde“ gewarnt. Im Kampf gegen einen Gegner, der als Krimineller diskriminiert wird, ist der gerechten Seite jedes Mittel recht. Dies ist die Logik der Kriminalisierung des Krieges, die die Risiken eines möglichen Übergangs von einem sogenannten „gerechten“ zu einem total vernichtenden Krieg gewaltig erhöht. Heute bedeutet das ein atomarer Vernichtungskrieg.
Verpasste Chancen für den Frieden
Es gibt eine Fülle von Untersuchungen und konkreten Beweisen dafür, dass sich die westliche Politik, allen voran die USA als Sieger im Kalten Krieg, konsequent verweigert hat, die Eskalation des Ukraine-Konfliktes zu verhindern. Ein Beispiel dafür ist der Artikel „Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden“ in Berliner Zeitung vom 09. September 2023, der von Professor Dr. Peter Brandt, Professor Dr. Hajo Funke, General a.D. Harald Kujat und Professor Dr. h.c. Horst Teltschik erfasst ist. Sie überzeugen, dass Frieden möglich ist und zeigen in drei Schritten den Weg aus der Gefahr. (12)
Es geht aber nicht nur um geopolitische Interessen Amerikas beim Aufbau einer unipolaren Welt. Die Herausforderung, vor der die Vereinigten Staaten stehen, ist viel ernster als die Gefahr eines starken russischen Gegners in Eurasien. Das Ideal der Abschaffung des Krieges zwingt die USA dazu, alle potenziellen Gegner zu diskriminieren und sie in die Kategorie der Kriminellen einzuordnen, mit denen man nicht mehr verhandeln kann. Russland war das erste Opfer einer solchen Politik, und zwar fast unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Nach dieser Logik sollten auf Russland erst China und dann die anderen potenziellen Gegner der amerikanischen Hegemonialansprüche folgen. Die Liste der Gegner, die diskriminiert werden sollten, könnte endlos sein. Dabei geht es nicht nur um einen bestimmten Staat – der Begriff des Gegners ist viel weiter gefasst. Damit treibt der Westen sich selbst in eine Sackgasse der historischen Entwicklung, wo es vielleicht wieder sinnvoll ist, an Carl Schmitt zu erinnern. Es ist bekannt zum Beispiel sein Dilemma in Bezug auf die künftige Entwicklung der Weltordnung: „Die planetarische Entwicklung hatte schon längst zu einem klaren Dilemma zwischen Universalismus und Pluralismus, zwischen Monopol und Polypol geführt, nämlich zu der Frage, ob der Planet reif ist für das globale Monopol einer einzigen Macht, oder ob ein Pluralismus in sich geordneter, koexistierender Großräume, Interventionssphären und Kulturkreise das neue Völkerrecht der Erde bestimmt.“ (13)
Es handelt sich eigentlich um zwei Logiken der Entwicklung der modernen Weltordnung: um eine unipolare oder multipolare Welt. Carl Schmitt war skeptisch, was den Übergang zur planetarischen Einheit betrifft. Im Jahr 1952 schreibt Schmitt: „Wenn es für uns heute kein anderes Geschichtsbild gäbe als das philosophische Programm der letzten zwei Jahrhunderte, so wäre die Frage nach der Einheit der Welt in der Tat längst entschieden. Dann könnte auch die Zweiheit der heutigen Weltlage nichts anderes sein als der Übergang zur planetarischen Einheit der reinen Technizität. … Ich glaube es nicht. … Aber wie die Erde größer bleibt als das Dilemma der dualistischen Fragestellung, ebenso bleibt die Geschichte stärker als jede Geschichtsphilosophie, und deshalb hatte ich die heutige Zweiheit der Welt nicht für eine Vorstufe ihrer Einheit, sondern für einen Durchgang zu einer neuen Vielheit.“ (14)
Regelbasierte Ordnung oder unteilbare Sicherheit?
Die Hartnäckigkeit, mit der sich die westlichen Regierungen weigern, ernsthaft mit Russland über Sicherheitsfragen zu verhandeln, lässt keinen Zweifel daran, dass der Ausbruch des Krieges in der Ukraine nicht nur von amerikanischer Seite gewollt, sondern auch notwendig war, um im 21. Jahrhundert eine neue Weltordnung nach der eigenen Vision durchzusetzen. Es handelt sich nicht um Detail der Vereinbarungen, die immer diskutiert und kompromissfähig gemacht werden könnten, sondern um prinzipielle Ablehnung von russischen Besorgnissen als unakzeptable Forderung.
Ebenso wichtig sind die Versuche Russlands, das Bewusstsein für eine kollektive Schuld und eine gemeinsame politische Verantwortung wiederzubeleben. Dieses Bewusstsein war während des Kalten Krieges noch vorhanden und hatte zur Unterschreibung von wichtigen Friedensverträgen geführt, von denen jedoch nicht alle das Ende des Kalten Krieges überdauerten.
Russland verteidigt also den Grundsatz der unteilbaren Sicherheit als Gegensatz zu einer auf Regeln basierenden Ordnung. Die Idee, die hinter diesem Grundsatz steht, ist einfach und wünschenswert: Die Sicherheit einiger Staaten sollte nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen Staaten basieren. Im Grunde ist das die alte Frage der Gerechtigkeit des Krieges, wenn die Aggression und die Verteidigung auf einer Waage wiegen und die Verantwortung für Krieg alle Kriegsteilnehmer tragen sollten. Dieses Prinzip kann auch die Anerkennung des Gegners als gleichberechtigten Gegner stärken, da es die gleichberechtigte Beteiligung aller Staaten an der Gestaltung der Sicherheitsordnung vorsieht. Anders zu sagen: Alle Staaten, wenn es um unteilbare Sicherheit geht, gleichberechtigt seien sollten, ohne Teilung auf „gerechte“ oder „ungerechte“ Feinde.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die europäische Sicherheit a priori unteilbar. Doch in der Zwischenkriegszeit (1918-1939) bemühten sich die Weltmächte, einschließlich der Genfer Liga, durch Verträge und Konferenzen um Frieden, ohne jedoch den Grundsatz der unteilbaren Sicherheit zu beachten. Die europäischen Staaten versuchten, ihre Sicherheit allein zu suchen. Deutschland und Polen unterschrieben den Nichtangriffspakt 1934, der auch als Piłsudski-Hitler-Pakt bekannt ist. Im Jahr 1938 unterzeichneten Deutschland, England, Frankreich und Italien das Münchener Abkommen, das zur Zerschlagung der Tschechoslowakei führte und der eigene Name als Höhepunkt der britisch-französischen Appeasement-Politik bekam. Im Jahr 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet, bekannt als Molotow-Ribbentrop-Pakt. Usw. Der alte Grundsatz der ungeteilten Sicherheit des Jus Publicum Europaeum verliert also seine friedensstiftende Kraft.
Nur nach dem Zweiten Weltkrieg ist es gelungen, die Frage der gemeinsamen und unteilbaren Sicherheit neu zu stellen. Die Epoche des Kalten Krieges war von verschiedenen Konflikten und regionalen Kriegen überflutet, aber sie alle mündeten sich in der globalen Konfrontation zwischen Amerika und Sowjetunion, wo die Aggression von einer Seite die Verteidigung von der anderen Seite voraussah und umgekehrt. Es wurde also die unteilbare Sicherheit durch atomar-militärischen Gleichgewicht zwischen die USA und Sowjetunion reguliert: Jede Supermacht hatte ihre eigene Einflusssphäre, die nicht immer fest begrenzt wurde wie in Europa, aber doch immer die USA und UdSSR gezwungen hatte, bei den Konflikten aufeinander Rücksicht zu nehmen. Die Ignorierung des Grundsatzes der unteilbaren Sicherheit unter der Bedienung des atomaren Gleichgewichtes ist eigentlich einen direkten Weg zum schrecklichsten Vernichtungskrieg, was während der Karibikkrise beinahe passiert wäre.
Der Grundsatz der unteilbaren Sicherheit ist also zur Grundlage des Systems der bipolaren Welt geworden: Niemand wollte die Aussicht auf eine unkontrollierte Eskalation riskieren. Das atomare Gleichgewicht der bipolaren Welt machte die Weltsicherheit automatisch unteilbar. Doch nach 1989/90 verliert wieder dieses Prinzip sein Fundament, und zwar sein planetarisches Gleichgewicht zwischen zwei Supermächten. Die NATO nahm im Anspruch, europäische und weltweite Sicherheit allein zu bestimmen. Dies entsprach der Logik der amerikanischen Alleinherrschaft, die zur Aufhebung der während des Kalten Krieges unterzeichneten Friedensverträge führte.
Selbstverständlich sieht Russland seine Ausschaltung aus dem System der Sicherheit und insbesondere die NATO-Erweiterung nach Ost als direkte Bedrohung des eigenen nationalen Interesses. Der Eintritt Ukraine und Georgien in die NATO hat Russland schon lange als Rote Linie deklariert. In dieser Situation wäre die Anerkennung des Grundsatzes der unteilbaren Sicherheit ein Schritt zur mehr Gerechtigkeit in der Frage der gemeinsamen, planetarischen Sicherheit. Es könnte eine effektive Formel für die Hegung des Krieges sein, hätte ein „kollektiver“ Westen keinen Absichten, unbedingt eine einheitliche unipolare Welt aufzubauen. Es ist deshalb nicht wunderlich, dass alle russische Initiative, dieses Prinzip fortzuführen, sich auf der Mauer der Stille stoßt, obwohl selbst die Europäische Sicherheitscharta 1999 beabsichtigte, „weitere Anstrengungen zu unternehmen, um miteinander gemeinsame Sicherheitsanliegen der Teilnehmerstaaten zu behandeln und das OSZE-Konzept der umfassenden und unteilbaren Sicherheit, soweit es die politisch-militärische Dimension betrifft, weiter voranzubringen.“ (15)
UN-Sicherheitsrat und Vetorecht
Man kann mit Sicherheit sagen, dass die UNO auf der Seite von Schmitts Formel für die Hegung des Krieges als Grundlage des Weltfriedens steht. Dies ist bereits in den ersten Sätzen der UN-Charta festgehalten: „Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: 1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen …“ Dabei ist das Vetorecht im Sicherheitsrat zum wichtigsten Instrument der Hegung des Krieges geworden. Dies ist in Artikel 51 der Charta festgelegt: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ (16)
Das Schlüsselwort ist hier „Sicherheitsrat“. Man kann sagen, dass das Vetorecht im Kalten Krieg zum wichtigsten Instrument nicht der Abschaffung, sondern der Hegung des Krieges geworden war. Um sich davon zu überzeugen, reich es einen Blick auf die Veto-Liste von 1946 bis 2017 zu werfen. Ab 1946 bis 1969 hat am meisten die UdSSR das Vetorecht benutzt, aber von 1970 bis 1991, wenn die Sowjetunion in UNO die mehrheitliche Unterstützung bekam, verwendeten das Vetorecht vorwiegend die USA, Frankreich und Großbritannien. Als Garant der Hegung des Krieges trat das militärischen und insbesondere atomaren Gleichgewicht zwischen zwei Supermächten. (17)
Es ist logisch, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion das Vetorecht vorwiegend von Russland und China benutzt wird. Seit 1989/90, wenn der Westen als Sieger im Kalten Krieg nach neuer Formel des Weltfriedens zu suchen begann (ähnlich wie es nach dem Ersten Weltkrieg war), sind für ihn die schon bestehende Methode der Kriegsverhütung und insbesondere das Vetorecht zum Problem geworden. Die militärischen Interventionen der NATO ohne UN-Mandat, Drohnenkriege und flächendeckenden Bombardierungen sind ein direkter Beweis dafür. Es ist auch nicht zufällig, dass von den westlichen Staaten die Forderung, das Vetorecht abzuschaffen und den UN-Sicherheitsrat zu reformieren, lauter geworden ist – mit aktivem Widerstand aus Russland und China.
Eines sollte jedoch nicht vergessen werden: Die UNO als Nachfolgerin der Genfer Liga entging dem Schicksal ihrer Vorgängerin nur dadurch, dass sie zusätzlich zum Mehrheitsprinzip bei der Beschlussfassung auch das Vetorecht einführte.
Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie
Die Unterdrückung des freien wissenschaftlichen Denkens ist nie ohne Folgen. Im Fall des Ukraine-Krieges lässt sich dies so charakterisieren: „Kein deutscher Wissenschaftler weiß, was im Kreml vor sich geht“. Das war der Titel eines Cicero-Interviews mit der Historikerin Sandra Kostner, die zusammen mit Migrationsforscher Stefan Luft den Sammelband „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ veröffentlichte. „Eine neue Entspannungspolitik ist die zentrale Voraussetzung für einen Frieden in Europa und ein Ende des Konflikts in der Ukraine“, so ist die Hauptthese des Buchs. (18)
Die Ampel-Regierung baut jedoch die deutsche Sicherheitsstrategie auf einer ganz anderen Grundlage auf. Es scheint so, dass die erste Nationale Sicherheitsstrategie unter dem Titel „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland“ (Juni 2023) im Namen des Friedens geschrieben ist. Deutschland will „eine freie internationale Ordnung mitgestalten“, „für ein nachhaltiges Leben in Sicherheit und Freiheit“, auf der Grundlage des Auftrags aus dem Grundgesetz, der heißt: „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. (19) Der Begriff „Frieden“ in seinen verschiedenen Varianten wird im Dokument 44 Mal erwähnt – mehr als selbst das Wort „Völkerrecht“ und die anderen üblichen Grundbegriffe des Völkerrechts wie Krieg, Angriff oder Verteidigung.
Es ist aber schwer, nach der Logik des Friedens dort zu suchen, wo es keine gibt. Die innere Logik der neuen Sicherheitsstrategie beruht auf Grundgedanken, die mit der Rolle Deutschlands als Friedensstifter wenig zu tun haben.
Das Konzept der neuen Sicherheitspolitik geht davon aus, dass die Welt multipolar geworden ist: „Wir leben in einem Zeitalter wachsender Multipolarität“. Das ist eine neue Herausforderung, an die die deutsche Politik der integrierten Sicherheit angepasst werden muss. Die Multipolarität bedeutet, dass die „neue Machtzentren entstehen“, die versuchen, „die bestehende internationale Ordnung entsprechend ihrer Auffassung von systemischer Rivalität umzugestalten“. Einige Staaten, „geprägt von ihrer Auffassung von systemischer Rivalität“, streben an, die „Ordnung zu untergraben und so ihre revisionistischen Vorstellungen von Einflusssphären durchzusetzen“. (20)
Die größte Bedrohung für die bestehende Ordnung sind daher nicht der Westen oder die Vereinigten Staaten als Sieger des Kalten Krieges, sondern die neuen Machtzentren: „Sie verstehen Menschen- und Freiheitsrechte und demokratische Teilhabe als Bedrohung ihrer Macht. Gegenüber anderen Staaten setzen sie im Rahmen hybrider Strategien zunehmend auch gezielte Angriffe auf deren Freiheit ein und versuchen, illegitimen Einfluss auf politische Prozesse, den öffentlichen Diskurs und Wahlen auszuüben.“ (21)
Von gegenseitiger Verantwortung, Kollektivschuld oder unteilbarer Sicherheit ist hier nicht die Rede. Heutiges Russland ist „auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum“, denn seinen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine „die europäische Sicherheitsordnung fundamental in Frage“ gestellt hat. Auf Russland folgt China, das einerseits ein wichtiger Handelspartner bleibt, andererseits aber ein „systemischer Rivale“ ist: „China versucht auf verschiedenen Wegen, die bestehende regelbasierte internationale Ordnung umzugestalten, beansprucht immer offensiver eine regionale Vormachtstellung und handelt dabei immer wieder im Widerspruch zu unseren Interessen und Werten.“ (22)
Genau auf Bedrohung von außen „richtet sich primär“ die erste Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands. Mit dem Anspruch, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, will Deutschland „eine freie internationale Ordnung mitgestalten, die dem Völkerrecht, der Charta der Vereinten Nationen, der souveränen Gleichheit der Staaten, der Gewaltfreiheit, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und den universellen Menschenrechten verpflichtet ist“. Klingt gut, aber es gibt eine kleine Nuance. Das Dokument ruft zu einer „freien internationalen Ordnung“ auf, spricht aber von einer auf Regeln basierenden Ordnung. (23)
Hier liegt eine Begriffsverwirrung vor: Die sogenannte „regelbasierte Ordnung“ stellt genau die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Weltordnung in Frage. Der Kosovo-Fall hat eine Büchse der Pandora geöffnet, aus der ständig der Rauch einer neuen regelbasierten Ordnung aufsteigt. Wie „frei“ dieser Ordnung ist, ist eine andere Frage, aber eine Verwirrung von völkerrechtlichen Begriffen, im Zusammenhang mit Charta der Vereinten Nationen, souveräner Gleichheit der Staaten oder universellen Menschenrechten, ist hier offensichtlich. Noch mehr Fragen wirft der folgende Satz auf: „Wir engagieren uns für den Multilateralismus und für die Stärkung der Vereinten Nationen.“ (24) Dass der Multilateralismus im Form von Militärbündnissen wie die NATO und die AUKUS die Vereinten Nationen tatsächlich stärken kann, ist höchst zweifelhaft.
Ampel-Regierung reagiert sich sehr empfindlich auf die Bedrohung von allen Seiten und rutscht sich in die Position der Resilienz. Das ist eine neue Erfindung der Sicherheitspolitik, die zeigt, wie schwierig die internationale Position Deutschlands ist. Dabei appelliert das Dokument zu den „inneren Stärken“, um die „unsere Werte“, „unsere Lebensgrundlage“ und „Frieden in Freiheit“ zu sichern. Aber zunächst handelt es sich um die militärischen Stärken. Nationale Sicherheitsstrategie nimmt zum Anlass, die „Bundeswehr endlich angemessen auszurüsten“, damit „sie ihren Kernauftrag auch in Zukunft erfüllen kann: die Verteidigung unseres Landes und unserer Bündnispartner gegen jeden nur denkbaren Angriff.“ Durch das neu geschaffene Sondervermögen der Bundeswehr wird Deutschland im mehrjährigen Durchschnitt seinen „2%-BIP-Beitrag zu den NATO-Fähigkeitszielen erbringen“. (25)
Das Wort Resilienz ist im Dokument 26 Mal, das Wort Bundeswehr 31 Mal und das Wort NATO 33 Mal erwähnt. Das Bestreben, die „Stärken“ zu zeigen, wird sogar 154 Mal erwähnt. Frieden durch Stärkung, insbesondere durch militärische Überlegenheit: so könnte grob die Position der Ampel-Regierung genannt werden. Nichts Neues, wenn es um die europäische Geschichte geht, aber ganz Neues für die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Während des Kalten Krieges gab es in Europa noch eine Doppelstrategie, die nach dem damaligen belgischen Außenminister Pierre Harmel „Harmel-Doktrin“ genannt wurde. Im Jahr 1967 veröffentlichte er seinen Bericht zur Lage der NATO, der die Politik der europäischen Staaten gegenüber der UdSSR weitgehend beeinflusste. Nach dieser Doktrin sollte die NATO als ein Faktor des dauerhaften Friedens gestärkt werden: „Einerseits durch ausreichende militärische Stärke abschreckend wirken, um die militärische Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten eindeutig und zweifelsfrei zu gewährleisten. Andererseits sollten unter dem Vorzeichen gesicherten militärischen Gleichgewichts dauerhafte Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Pakts hergestellt werden, um grundlegende politische Fragen lösen zu können.“ (26)
Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung wurden also als gegenseitige Ergänzung verstanden – als Summe von Verteidigung und Entspannung. In der aktuellen deutschen Sicherheitsstrategie wird dagegen die Entspannungspolitik mit keinem Wort erwähnt: Die militärische Stärke sollte nur zur glaubwürdigen Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit im transatlantischen Bündnis eingesetzt werden. Das Wort „Abschreckung“ wird in dem Dokument 10 Mal erwähnt. Deutschland muss sich also von einem Friedensstifter im Dienste des Weltfriedens, wie es sein Grundgesetz vorsieht, zu einem kämpferischen Verteidiger der westlichen Werte und der Interessen des transatlantischen Bündnisses wandeln – als Vorreiter einer neuen europäischen Sicherheitsstrategie.
Nach der Carl Schmitts Lehre handelt es sich um eine weitere Kriminalisierung des Krieges durch die Diskriminierung Russlands, Chinas und allen anderen potenziellen Feinden. Die sogenannte „regelbasierte“ Ordnung, die sich auf Moral und Politik stützt, verwirrt die Grundbegriffe des Völkerrechts und widerspricht dem grundlegenden Zweck des Völkerrechts, der darin besteht, einen Konflikt frühzeitig zu beenden, um einen drohenden Vernichtungskrieg zu verhindern.
Es ist unwahrscheinlich, dass Schmitt erwartet hat, dass seine Warnung vor den Gefahren einer solchen Entwicklung in seinem eigenen Land ignoriert werden würde.
1. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-krim-und-das-voelkerrecht-kuehle-ironie-der-geschichte-12884464.html?printPagedArticle=true#void
2. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ukraine-krieg-das-opfer-hat-keine-mitschuld-an-kriegsverbrechen-18605974.html
3. https://gegneranalyse.de/archiv/
4. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Duncker&Humbolt GmbH, Berlin, 5. Auflage 2011, S. 237, 255,
5. Ebenda, 244-245
6. Ebenda, S. 92-93.
7. Ebenda, S. 94-95.
8. Ebenda, S. 159, 219.
9. Ebenda, S. 201.
10. Ebenda, S. 92-93.
11. Ebenda, S. 244.
13. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 216-217.
14. Alain de Benoist, Carl Schmitts „Land und Meer“, Verlag Antaios – Schnellroda, 2019, S. 67-68.
15. https://www.osce.org/files/f/documents/b/f/125809.pdf; https://www.osce.org/files/f/documents/b/f/125809.pdf
16. https://unric.org/de/charta/
17. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:UNSC_veto.svg
18. https://www.cicero.de/kultur/wissenschaft-im-ukrainekrieg-sandra-kostner-sanktionen
19. https://dserver.bundestag.de/btd/20/072/2007220.pdf, S. 11.
20. Ebenda, S. 12, 23.
21. Ebenda, S. 5, 23.
22. Ebenda, S. 23, 54.
23. Ebenda, S. 11, 48.
24. Ebenda, S. 15.
25. Ebenda, S. 5, 33.