Die Frage „Was passiert?“ ist viel einfacher zu beantworten (eine Aufgabe, die viele Menschen leicht bewältigen können) als die Frage „Warum passiert das?“ Heute ist es leicht, in die Reihen der Andersdenkenden, Verschwörungstheoretiker, Populisten, Rechtsextremisten, Gegner des Liberalismus, konservativen Revolutionäre oder, schlimmer noch, Putin-Versteher zu geraten. Aber ohne die Frage „Warum?“ wird jeder Diskurs zu einem leeren Gespräch ohne Argumente, oder besser gesagt, das Hauptargument wird die Notwendigkeit, die Demokratie zu verteidigen, die von all jenen bedroht wird, die versuchen, eine Antwort auf die Frage „Warum?“ zu finden. Das ist es, was der Mainstream der Medien heute demonstriert.
Dirk Oschmann lässt sich davon nicht einschüchtern: Die Frage nach dem „Warum?“ ist für ihn viel wichtiger als die Frage nach dem „Was?“. Er geht seine Arbeit mit der Gründlichkeit eines Wissenschaftlers an, was ihn von vielen Historikern und Schriftstellern unterscheidet, die sich mit den komplexen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschland beschäftigen. Es gibt viele Fragen, aber die wichtigste ist vielleicht die Frage, warum Deutschland immer noch nicht geeint ist? Im Gegenteil: Die Trennlinie zwischen Ost- und Westdeutschland schrumpft nicht, sondern vertieft sich sogar. Dabei geht es weniger um die wirtschaftliche, sondern vielmehr um die politische und ideologische Spaltung Deutschlands in Ost und West, was insbesondere auf die wachsende Popularität der Partei Alternative für Deutschland in den östlichen Bundesländern verweist. Auf der Suche nach Antworten auf die vielen „Warum“-Fragen geht Oschmann von einer These aus, die seiner Meinung nach die Gründe für den Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland weitgehend erklärt: Es hat nie eine wirkliche Vereinigung gegeben. Die BRD hat die DDR einfach kolonisiert und ihre Verfassung, ihre Hymne, ihre Flagge, ihr Demokratieverständnis, das die Westdeutschen von den Amerikanern geerbt haben, beibehalten.
„Aufbau Ost“ im Zeichen des Nationalsozialismus
Der Geist der Kolonisierung steckte bereits im Namen des Plans zum Wiederaufbau Ostdeutschlands. Er trug den Namen „Aufbau Ost“, ein Begriff, der aus dem Dritten Reich stammt. Oschmann schreibt: „Das Planungsamt des Reichskommissariats erstellte den Plan für die Kolonisierung und Germanisierung von Teilen Osteropas. Der zuständige Wirtschaftsstab Ost nannte das Programm seinerzeit zynischer Weise Aufbau Ost.“ Wieso? Oschmann weist darauf hin, dass es in der neu gegründeten Bundesrepublik nach 1945 nie zu einem Wechsel der Eliten kam, deren Rückgrat Funktionäre des NS-Regimes bildeten. Wie er dazu schreibt: „Ganz im Gegenteil, die Eliten von Militär und Geheimdienst, der Beamten, des politischen Personals, der inneren und auswärtigen Dienste, der Wissenschaftler, der Ärzte, der Universitäten und Schulen, alle wurden übernommen.“ (1)
Aber viel wichtiger ist ein anderes. Oschmann schreibt: „‚Buschzulage‘ (Entschädigung für westdeutschen Beamte beim Dienst im Ostdeutschland, Anm. d. Autors) und ‚Aufbau Ost‘ – ein rassistischer Begriff aus der Zeit des deutschen Kolonialismus einerseits und eine menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis anderseits: Darin verdichten sich die zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten und seiner maximalen terminologischen Deklassierung.“ So verbirgt sich in der kolonialen Symbolpolitik das arrogante Verhalten der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen, was Oschmann allerdings nicht überrascht. Er schreibt: „Wer das Geld hat und die Macht und obendrein noch den Diskurs bestimmt, der hat gut reden, der kann den anderen erzählen, was sie warum wie falsch machen. Und das Beste ist, dass sich diese Art von Herrschaft noch als moralisch überlegen präsentiert, als moral grandstandig par excelence, weil man, womöglich im Gefolge protestantischer Ethik, meint, der Umfang des Vermögens stünde in direkten Korrelation zur überlegenen Wertigkeit der eigenen Moral.“ (2)
Über die Vorstellung von der moralischen Überlegenheit des Westens, insbesondere der Protestanten mit ihrer besonderen Ethik, ist viel geschrieben worden. Oschmann verwendet als anschauliches Beispiel Roman „Soll und Haben“ (1885) von Gustav Freytag. Er schreibt: „Dieses wirkmächtige Buch, in dem sich realistisches und nationalistisches Paradigma verbinden, wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in großen Auflagen gedruckt und verzeichnet die höchsten Verkaufszahlen signifikanterweise von 1918 bis 1930 sowie noch einmal von 1945 bis 1960, also jeweils direkt nach dem beiden Weltkriegen. Allein in der Phase 1945 bis 1990, der Zeit des Wirtschaftswunders, lag die Zahl der verkauften Exemplare in der BRD bei einer halben Million!“ (3)
Im Roman wurden den „deutschen Werten“ (Arbeit, Sauberkeit, Fleiß, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit) zwei Kultur- und Lebensformen diametral entgegengesetzt: zum einen das jüdische Leben, zum anderen das Leben der Polen oder allgemein der Slawen. Polen und Slawen wurden in einem äußerst negativen Licht dargestellt: als faul, dumm, „liederlich“, unehrenhaft und prinzipiell als keiner wirklichen Kultur fähig zu sein. Mit anderen Worten: „Die Slawen im Osten werden bei Freytag als die eigentlichen Barbaren gezeichnet, die erst kolonisiert, zivilisiert und kultiviert werden müssen.“ Die Nationalsozialisten bedienten sich in ihrer Propaganda gerne solcher Stereotypen, aber die Vorstellung vom „Osten“ als einer minderwertigen, unzivilisierten und unkultivierten Region war, so Oschmann, „tief ins deutsche Bewusstsein eingegraben“. Und dieser Blick auf den Osten hält bis heute an. Oschmann schreibt: „Augenscheinlich ist ‚Osten‘ keine Himmelsrichtung mehr, sondern bezeichnet das prinzipiell Rückständige, Unkultivierte, Barbarische. Die negativen Zuschreibungen und Assoziationen setzen sich nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen fort, in den Bezeichnungen ‚Ostzone‘, ‚Ostblock‘ und ‚Osteuropa‘ ebenso wie in Adenauers abfälligen Bemerkungen, hinter Kassel beginne die ‚Walachei‘ und bei Magdeburg ‚Asien‘“. (4)
Nach der Wiedervereinigung (juristisch wäre es richtiger zu sagen: nach dem Beitritt der DDR zur BRD) kam Ostdeutschland dazu. Oschmann schreibt: „Die dominante, ausschließlich westdeutsch perspektivierte lautet, dass Deutschland im Gefolge des Zweiten Weltkrieges in BRD und DDR geteilt wurde, wobei die BRD ‚Deutschland‘ blieb, während die DDR als ‚Ostzone‘ oder einfach nur als ‚Zone‘ erschien. Nach dem Fall der Mauer 1989 ist die DDR dann der BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes „beigetragen“ und firmiert seitdem in öffentlichem Raum in erster Linie als ‚Osten“, der „aufholen und sich normalisieren muss“. So präsentiert sich die öffentliche Version.“ (5)
Dementsprechend wurden die Ostdeutschen in der besten Tradition des Gegensatzes zwischen Ost und West dargestellt, fast wie Gustav Freytag. Oschmann schreibt: „Im seit 1989 beherrschenden Diskurs heißt ‚Osten‘ vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt also Scheitern auf ganzer Linie (…) ‚Westen‘ dagegen heißt (alte) Bundesrepublik, heißt Deutschland im eigentlichen Sinne, heißt Schönheit, Klugheit, Fleiß, heißt Weltoffenheit, Liberalität, Demokratie und Reichtum, heißt also Erfolg auf ganzer Linie … Im antiken Griechenland nannte man solche Leute (die aus dem Osten, Anm. d. Autors) schlicht Barbaren. Eine wiederkehrende Forderung an den Osten lautet deshalb, er solle sich ‚normalisieren‘ – was immer das heißen mag -, und gleichzeitig wird er ökonomisch, machtpolitisch und diskursiv gezielt daran gehindert, es zu tun.“ (6)
„Normalisierung“ durch Diskreditierung
Aber was bedeutet die Forderung nach „Normalisierung“, wenn wir nicht auf die Frage eingehen, warum der Westen den Osten daran hindert, genau das zu tun? Auf den ersten Blick scheint es um westliche Werte zu gehen, die im Osten vermutlich fehlen. Aber was hat das mit den Ostdeutschen zu tun? War das Gebiet Ostdeutschlands nicht das Zentrum Preußens mit seinen herausragenden Leistungen bei der Herausbildung der deutschen Kultur und Staatlichkeit? Wurde der große Reformator Martin Luther nicht in Sachsen geboren? Hat er nicht seine berühmten Thesen an das Tor der württembergischen Kirche (Sachsen-Anhalt) gehängt? War es nicht Weimar (Thüringen), das zum größten Zentrum der deutschen Aufklärung wurde und später den Namen der ersten demokratischen Republik in Deutschland trug? Diese Liste des wirklich Deutsches in den Ostdeutschen ließe sich endlos fortsetzen. In der kurzen Zeit des Bestehens der DDR war es einfach unmöglich, die Ostdeutschen von ihrem alten Deutschland und insbesondere von ihrer tiefen Verbundenheit mit dem Protestantismus loszureißen. Dieser Zusammenhang wurde von Oschmann selbst deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wenn ich schon in den Westen fahre, dann richtig, nach England oder gleich in die USA. Denn unter den Puritanern fühle ich mich als Atheist und zugleich Erzprotestant natürlich besonders wohl; ich bin ja nicht nur in der DDR aufgewachsen, sondern genauer noch in Thüringen, demnach in den mentalitätsgeschichtlichen Tiefenschichten eines protestantischen Kernlandes.“ (7)
Dennoch sind die Ostdeutschen in mehr als dreißig Jahren nie zu den normalen Deutschen geworden, die der Westen aus ihnen machen wollte, sondern zu einer echten Bedrohung der deutschen Einheit. Warum eigentlich? Die Antwort auf diese Frage sucht Oschmann vor allem in dem kolonialen Eifer, mit dem die BRD begann, die DDR zu annektieren.
Als Erstes weist Oschmann auf den radikalen Elitenwechsel hin: Unmittelbar nach der Wiedervereinigung wurden hochrangige Positionen in der ehemaligen DDR aktiv mit Vertretern der BRD besetzt. Dabei bekamen sie die sogenannte „Buschzulage“ – ein weiteres Symbol der Kolonialpolitik. Auch die intellektuelle Elite der ehemaligen DDR wurde ersetzt. Oschmann schreibt: „An der Universität Jena sind bis Mitte der Neunzigerjahre fast alle Professoren mit Wissenschaftlern aus dem Westen neu besetzt worden. Dieser Elitenwechsel war aufgrund vielfältiger ideologischer und politischer Verwirklichung der bis dahin lehrenden Professoren- und Mitarbeitsschaft oftmals notwendig gewesen, insbesondere in Fällen, bei denen sich eine andere Personen schädigende Tätigkeit für die Staatssicherheit der DDR nachweisen ließ. (…) Die Tore, die sich 1989 politisch geöffnet haben, sind in den Neunzigerjahren institutionell geschlossen worden: durch neue Strukturen einerseits, konkret handelnde Akteure andererseits. Dieser radikale Elitenwechsel über die Generationen hinweg, der mit leichter Phasenverschiebung auch in den anderen Universitäten Ostdeutschlands vollzogen wurde, sorgt bis heute dafür, dass Professoren kaum mit Wissenschaftlern ostdeutscher Herkunft besetzt werden (können), weil nur wenige überhaupt die Chance bekommen, sich für solche Positionen auszubilden. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall hat sich an dieser Situation nichts geändert, denn bekanntlich rekrutierten Eliten in Form eines strukturellen Nepotismus ihren Nachwuchs aus den eigenen Netzwerken.“ (8)
Auch die ostdeutschen Medien waren einer totalen Kolonialisierung unterworfen. Oschmann schreibt: „Zwei Jahre nach 1990 bestand im Ostdeutschland keine TV-Station, keine Rundfunkanstalt und kaum eine Zeitung mit gewachsener Leser-Blatt-Bildung mehr, die nicht von einer westdeutschen Chef-Redaktion geleitet werden worden. (…) Das ist seitdem der gleichbleibende Stand der Dinge. Auch das Chefpersonal sämtlicher größerer Regionalzeitungen im Osten wird weiterhin von Westdeutschen besetzt, mit deren Perspektiven, deren Überzeugungen, deren Agenda.“ (9)
Ein eigenes Kapitel des Buches widmet Oschmann der Verdrängung der ostdeutschen Kunst aus dem öffentlichen Raum und der Löschung des Text- und Bildgedächtnisses der DDR. „Es gab und gibt die verschiedensten Versuche, die ostdeutschen Schriftsteller abzuschaffen, schreibt er und fügt hinzu: „Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr.“ Autoren und Autorinnen aus dem Osten wurden „ihre Gesinnung“ zugeschrieben, sie wurden „auf ihre Demokratiekonformität“ geprüft. „Und wieder geht es darum, Künstler zu diskreditieren, zu beschädigen und auszubooten“, schreibt Oschmann und mach die Schlussfolgerung: „Es handelt sich bei der Auseinandersetzung also nicht einfach einen innerästhetischen Dialog zwischen Kritiker und Künstler, einen Streit im Kunstbetrieb, wie er alle Tage vorkommt, sondern um eine scharfe politische Denunziation.“ (10)
Es begann die Überschreibung von DDR-Geschichten, freilich aus den politischen und ideologischen Gründen. Der öffentliche Diskurs um den Abriss des Palastes der Republik, der noch heute viele Menschen bewegt, zeigt, wie schmerzhaft dieser Prozess in Ostdeutschland durchläuft. Oschmann übergeht diesen Diskurs nicht, sondern verknüpft ihn mit der kolonialen Symbolpolitik. Die Wiedererrichtung des Berliner Schlosses als „Humboldt-Forum“ an der Stelle des abgerissenen Palastes der Republik ist für ihn „ein ebenso anschauliches wie perfides Beispiel für die radikale Umschreibung und Überschreibung von Geschichte“. Er schreibt: „Denn was wurde hier getan: Ein wahrlich hässliches, politisch, ideologisch und symbolisch hochgradig besetztes Gebäude der DDR, der ‚Palast der Republik‘, wurde ersetzt durch architektonischen Eklektizismus, mit dem man nicht nur gezielt die im Stadtbild einst sichtbare, Stein gewordene Geschichte der DDR überschreibt und auslöscht, als hätte es diese historische Phase nie gegeben, sondern mit dem man sich in monumentaler Geste auch direkt ans Kaiserreich anschließt.“ (11)
Oschmann weist darauf hin, dass über Jahre hinweg im „Humboldt-Forum“ afrikanische Kunstschätze ausgestellt wurden, also koloniale Raubkunst. „Das zeugt von Gedankenlosigkeit und einem Mangel an historischer Sensibilität“, bemerkt er und fragt: „Dieses Kaiserreich soll die bessere Vergangenheit sein, an die es anzuschließen gilt und die man mit so viel pompousness glaubt würdigen zu müssen?“ Im Mittelpunkt des Themas steht natürlich die Geschichte der Kolonialkriege des Deutschen Reiches und des Völkermords an den Herero und Nama in Afrika. Oschmanns Fazit zu diesem geschichtspolitischen Versagen der Bundesrepublik ist durchaus logisch: „Mit schöner Regelmäßigkeit empört sich der Westen, wenn er als Kolonisator bezeichnet wird, doch führt er selbst permanent die Sprache der Kolonisatoren im Munde und lässt entsprechende Taten folgen.“ (12)
Natürlich kann man den Eifer Westdeutschlands verstehen, Ostdeutschland zu „kolonisieren“: Ein neuer Besen kehrt immer auf eine neue Art und Weise. Aber warum war es notwendig, alles auszumerzen, was mit der DDR zu tun hatte, einschließlich der Kader? Es ist ja bekannt, dass das Ignorieren lokaler Erfahrungen und Kenntnisse alles nur noch schlimmer macht. Polen kann als Beispiel dienen. Oschmann zitiert Justyna Schulz, Direktorin des polnischen Instituts Zachodni, die zu den Entwicklungen in Polen seit 1989 schreibt: „In dem neoliberalen Entwicklungsmodell wurden angenommen, dass die oft als alternativlos dargestellten westlichen Ideen und Lösungsansätze importiert werden müssen. Lokales Wissen und Erfahrungen wurden hingegen marginalisiert. Die Abwertung der einheimischen Führungsschicht zugunsten internationaler technokratischen Eliten führte zwangsläufig zu hierarchischen und paternalistischen Schüler-Lehrer-Beziehungen, was das Ungleichgewicht eher verstärkte als abschwächte.“ (13)
Doch anders als in Polen greifen in die Personalpolitik gegenüber den Ostdeutschen auch ideologische Kämpfe ein: Der liberale Westen muss seinen Endsieg über den kommunistischen Osten erringen. Deshalb sollten nach der Wiedervereinigung alle prosowjetischen Kader der DDR durch prowestliche Kader ersetzt, prosowjetische Kunst begraben und die Geschichte umgeschrieben werden. Zumindest hätten die regierungsfähigen Kader aus den östlichen Bundesländern öffentlich dem Westen die Treue schwören müssen, wie es z.B. die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck getan haben. Oschmann schreibt: „Joachim Gauck hat den einfachsten Weg der maximalen Distanzierung gewählt, indem er den Osten insgesamt als ‚Dunkeldeutschland‘ bezeichnet und ihm damit einen Bärendienst erwiesen hat. (…) Angela Merkel dagegen ist anders verfahren, indem sie ihre ostdeutsche Herkunft weithin geschwiegen hat. Es genügte ihr offenbar völlig, in CSU-Kreisen abfällig als ‚Zonenwachtel‘ diffamiert zu werden.“ (14)
Die Wurzeln des kolonialen Eifers der Westdeutschen sind also nicht nur in der Konfrontation zwischen dem „zivilisierten“ Westen und dem „barbarischen“ Osten zu suchen, sondern auch in der ideologischen Konfrontation zwischen Liberalismus und Kommunismus, was einmal mehr bestätigt, dass diese Konfrontation noch lange nicht beendet ist. Doch damit nicht genug: Den kolonialen Eifer der Westdeutschen kann man am besten verstehen, wenn es um die Demokratie geht. Den Ostdeutschen wird schlichtweg abgesprochen, richtige Demokraten zu sein, da sie sich vor der Demokratie versündigt haben: wegen ihrer Neigung zum Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, wegen ihrer Faszination für Verschwörungstheorien und ihres offenen Misstrauens gegenüber der offiziellen Presse, wegen ihrer aktiven Teilnahme an verschiedenen Protestbewegungen, einschließlich der Pegida-Bewegung, und weil sie die AfD oder sogar die Nazis wählen.
Keine Vertretung – keine Demokratie
Oschmann fragt nicht, warum die Art von Demokratie, von der der Westen spricht und die die Westdeutschen von den Amerikanern in Form des Programms re-education geschenkt bekommen haben, als alternativlos gelten soll? Er fragt nicht, warum ein demokratischer Prozess, der seine Wurzeln im antiken Griechenland hat, 1989 – zusammen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion – enden sollte? Und ganz allgemein: Warum sollte die westlich-liberale Demokratie für alle Fälle geeignet sein? Schließlich bezweifelt selbst der Autor von „Das Ende der Geschichte“, Francis Fukuyama, dies heute.
Dennoch scheint Oschmann die westliche liberale Demokratie so zu akzeptieren, wie sie ist, und beklagt nur, dass sie zu spät zu den Ostdeutschen kam. Er schreibt: „Von 1933 bis 1945 haben die Deutschen gemeinsam mit dem Österreicher Adolf Hitler das sogenannte Dritte Reich verantwortet, den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und dabei alle denkbaren und undenkbaren Verbrechen begangen. Deshalb wurde das Land von den Siegermächten geteilt, und das heißt konkret, dass mit der Konferenz von Jalta auch das Schicksal des Ostens besiegelt wurde, und zwar, wie ich meine, auf weit über 100 Jahre hinaus; 77 davon sind ja bereits vergangen. Während der Westen nach dem Krieg den Marshallplan für die Wirtschaft und political re-education zu Orientierung in der Demokratie bekommen hat und sich weiter nach Westen integrieren durfte, musste der Osten riesige Reparaturen an die Sowjetunion bezahlen und 40 Jahre unter realer Gewalt hinter dem Eisernen Vorhang zubringen. In den Worten Heinrich August Winklers: „Die Ostdeutschen waren von vornherein die eigentlichen Kriegsverlierer gewesen“. (15)
Es ist kein Zufall, dass Oschmann den Historiker August Winkler erwähnt. Sein Buch „Der lange Weg nach Westen“ (2000), in dem er den Weg der Deutschen zu Nationalstaat und Demokratie schildert, ist für viele westliche Politiker zu einer Art Katechismus geworden. Man kann mit Sicherheit sagen, dass Westdeutschland sich von diesem Katechismus leiten ließ und begann, Ostdeutschland zu demokratisieren, d.h. versuchte, das amerikanische Programm re-education auf die östlichen Länder auszuweiten. Doch etwas ist schiefgelaufen: Das Programm ist bei den ehemaligen DDR-Bürgern nicht so gut angekommen wie einst bei den BRD-Bürgern. Warum eigentlich? Es gibt viele Gründe, und einer davon liegt im Streit um den deutschen Sonderweg, den zum Beispiel die Historiker August Winkler und Dietrich Borchmeyer provisorisch untereinander führen. Für den einen ist die Suche nach der deutschen Demokratie beendet, für den anderen fängt sie gerade erst an – nach der deutschen Wiedervereinigung.
Dennoch ist für Oschmann die Krise der deutschen Demokratie offensichtlich. Die Ursache der Krise sieht er vor allem in der gravierenden Mangel an Repräsentanz der Ostdeutschen in der Mehrzahl der gesellschaftlichen Teilbereiche, wie insbesondere soziologische Studien zeigen. Dies betrifft vor allem repräsentative Ostdeutsche in den höchsten Machtpositionen – als Folge der Eliminierung der ostdeutschen Elite durch den Westen. Seiner Meinung nach ist dies das Hauptproblem in den Ost-West-Beziehungen, „welches in den letzten Jahren wenigstens vereinzelt öffentlich thematisiert wurde“. Er schreibt: „Sieht man von gänzlich irreparablen ökonomischen Ungleichgewicht ab, ist es die gravierende Unterrepräsentanz Ostdeutscher in gesellschaftlichen Spitzenpositionen. In der zynischen strukturellen, institutionellen und vor allem personellen Benachteiligung des Ostens liegt eines der größten Konfliktfelder der latenten und manifesten Ost-West-Spaltung. Der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien und Wirtschaft beläuft sich derzeit auf durchschnittlich 1,7 Prozent.“ (16)
Dabei beantwortet Oschmann die Frage, warum der Westen zwar eine Normalisierung der Ostdeutschen anstrebt, aber gleichzeitig alles tut, um diese zu verhindern: Er agiert als regelrechter Kolonisator und verhindert, dass Menschen aus den besetzten Ländern die Macht übernehmen. Damit wird den Ostdeutschen praktisch die Möglichkeit verwehrt, sich an der Gestaltung eben jener Demokratie zu beteiligen, die ihnen die Westdeutschen angeboten haben. Der Osten erlebt diese bittere Erfahrung seit Wiedervereinigung, „weil es zwar formale, reell aber nur wenige Chancen auf Teilhabe, Repräsentativität, Einstieg oder gar Aufstieg in gesellschaftlich relevante Teilsysteme gibt, von Macht, Geld und Einfluss ganz zu schweigen“. Der Versuch, die Ostdeutschen dafür selbst zu beschuldigen, ist für Oschmann ungeheuerlich. Er schreibt: „Dem Osten unter diesen Prämissen ‚Demokratiefeindlichkeit‘ vorzuwerfen, ist nicht nur zynisch, sondern folgt obendrein einem seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster, mit dem der westliche Kolonialismus verschiedener Couler seine Hegemonie zu begründen sucht.“ (17)
Mit anderen Worten wird die deutsche Demokratie in ihrem Kern besiegt: dem Recht, sich eine repräsentative Demokratie zu nennen. Er schreibt: „Eine repräsentative Demokratie, in der man sich nicht adäquat repräsentiert findet, hat mehr als nur ein Problem, ja im Grunde ist sie überhaupt keine repräsentative Demokratie oder nur Demokratie von einigen für einige.“ Dabei findet Oschmann überzeugende Argumente dafür, warum Ostdeutsche weniger Vertrauen in die aktuelle Demokratie haben als Westdeutsche. Und es ist nicht einmal so, dass sie eine eigene, durch Lebenserfahrung entwickelte Vorstellung von Demokratie haben oder gar eine besondere Einstellung zu den Institutionen der Macht, die auf der Erfahrung des Lebens in der DDR beruht.
Oschmann sieht in der Art und Weise, wie sich moderne Politiker verhalten, reichlich Anlass zu „legitimer Skepsis“. Er schreibt: „Und welchen Eindruck bekommen man darüber hinaus von dieser Demokratie angesichts etlicher Spitzenpolitiker, die oft ein überaus positives Selbstbild pflegen, aber in manchen Hinsichten ein klar negatives Handeln an den Tag legen, das sich damit gar nicht vermitteln lässt?“ Die Liste der von Oschmann aufgeführten negativen Handlungen ist lang, ebenso wie die Liste der daran beteiligten Politiker: von Christian Wulff bis Annalena Baerbock und Ursula von der Leyen. (18)
Unter dem Banner der antikolonialen Bewegung
Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Der koloniale Eifer der Westdeutschen ist der Hauptgrund dafür, dass Deutschland immer noch nicht als geeint bezeichnet werden kann. Doch die Geschichte zeigt: Jeder Kolonialismus führt unweigerlich zu einer antikolonialen Bewegung. Dies ist eigentlich ein Kampf um die politische, soziale, mediale und kulturelle Unabhängigkeit Ostdeutschlands. Und der Ort, an dem er beginnt, so Oschmann, ist die Öffentlichkeit. Er schreibt: „Der Osten, der keine Öffentlichkeit hatte und hat, muss sich endlich Öffentlichkeit erzwingen. Die Wege dazu können verschieden sein, beispielsweise auf der Straße, weil sich keine anderen öffentlichen Formen der Kommunikation bieten oder nicht zielführend waren. Und Öffentlichkeit heißt natürlich gesamtdeutsche Öffentlichkeit.“ (19)
Kurzum, der Osten muss das Monopol Westdeutschlands auf den öffentlichen Raum überwinden. Er schreibt: „Deshalb muss der Osten endlich Wege finden, einen gemeinsamen Raum öffentlichen Sprechens und Verhandelns zu konstruieren, in dem sich Westen und Osten auf Augenhöhe begegnen können. Unabhängig davon wäre es außerdem höchste Zeit, dass der Osten auch mal mit sich selbst redet, schon um zu verhindern, dass der Westen ihm sagt, wer er sei, nämlich nicht weiter als „Osten“, und ihm obendrein noch seine Geschichte erzählen.“ Für Oschmann ist dies von grundlegender Bedeutung, denn es geht um den krisenhaften Zustand der Demokratie selbst, ja um ihre Überlebenschancen in Deutschland. Er schreibt: „Wenn in Deutschland über ‚Westen‘ und ‚Osten‘ nicht grundlegend anders geredet wird, vor allem aber wenn die seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens nicht aufhören, hat dieses Land keine Aussicht auf langfristige gesellschaftliche Stabilität.“ (20)
Damit stellt Oschmann Ostdeutschland an die Spitze des Kampfes um die Rettung der deutschen Demokratie, um die Stabilität der Gesellschaft und ihre Einheit, ja sogar an die Spitze des Kampfes gegen den westdeutschen Kolonialismus. Der Bezugspunkt für diesen Kampf ist die soziale Gerechtigkeit. Oschmann schreibt: „Das Versprechen der gleichen Lebensverhältnissen muss man als das begreifen, was es ist: eine schöne Illusion. Aber man könnte, den politischen Willen vorausgesetzt, damit anfangen, halbwegs gleiche Lebenschancen und Chancenteilhabechancen für alle herzustellen, in Ost und West, für Ost und West. Dazu gehören insbesondere gleiche Löhne für gleiche Arbeit und nicht zuletzt gleiche Renten, von adäquaten Erbschafts- und Vermögenssteuern ganz zu schweigen. Das ist schlicht eine Frage sozialer Gerechtigkeit in einer demokratischen Ordnung.“ (21)
Der antikoloniale Kampf ist bereits in vollem Gange. Die Pegida-Bewegung und die zahlreichen Straßenproteste sind nur die äußeren Zeichen des antikolonialen Widerstands. Der wirkliche Kampf beginnt dort, wo die Ostdeutschen mitreden können, wo es unmöglich ist, ihre Vertretung in einer repräsentativen Demokratie einzuschränken. Es geht um Wahlen, vor allem um Kommunalwahlen. Es ist nicht zufällig, dass die absolut stärkste Gruppe bei den kommunalen Mandatsträgern im Osten die lokalen Wählervereinigungen sind. Der Möglichkeit beraubt, sich in den höheren Etagen der Macht adäquat zu vertreten, nehmen die Ostdeutschen die Macht vor Ort zunehmend selbst in die Hand. Der nächste Schritt könnte eine adäquate Vertretung im Landtag sein, und zwar unabhängig von Zugehörigkeit zur jeweiligen Partei. Das können die AfD oder Bündnis Sahra Wagenknecht sein, aber auch die Freien Wähler, die wie in Bayern versuchen, ihre Bewegung zu einer echten politischen Kraft zu entwickeln.
Die Beliebtheit der AfD in den neuen Bundesländern ist verständlich. Und es ist nicht einmal so, dass in vielen Fragen, vor allem in der Frage des Verhältnisses zu Russland und des Konflikts in der Ukraine, die Position der deutlichen Mehrheit der Ostdeutschen mit den programmatischen Leitlinien der Partei übereinstimmt. Und nicht einmal so, dass beide in die dunkle Ecke des Rechtsextremismus und der Fremdenfeindlichkeit getrieben worden sind: Dadurch werden sie bereits auf der Ebene der Identität miteinander verbunden. Viel wichtiger ist vielleicht, dass die AfD anstelle der obligatorischen Wahlversprechen eine echte Alternative für Deutschland anbietet, d.h. echte Veränderungen, die den Vektor der politischen Entwicklung Deutschlands grundlegend verändern können. Natürlich sehen die Ostdeutschen darin auch eine Chance für sich: das Recht auf demokratische Mitbestimmung zu erlangen. Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Mai 2024 sollte der nächste Schritt in diesem Kampf die Parlamentswahlen im September in den drei ostdeutschen Bundesländern sein, gefolgt von den Bundestagswahlen im nächsten Jahr.
All dies kann als eine Revolution von unten bezeichnet werden. Die Reaktion der herrschenden Eliten darauf ist durchaus verständlich. Oschmann beschreibt sie am Beispiel der vergangenen Wahlen: „Wenn der Osten dann einmal alle vier oder fünf Jahre bei den Wahlen die wirkliche Chance auf demokratische Mitbestimmung erhält, dann ist das Geschrei in den Medien und den gesellschaftlichen Eliten groß. Sonst interessiert sie der Osten so sehr wie die Rückseite des Mondes, bei Wahlen aber beginnt jedes Mal das große Zittern. Da wird vorher von ARD und ZDF über Zeit, SPIEGEL, FAZ, Tagesspiegel, Süddeutsche Zeitung und weitere Leitmedien eine unendliche Angst geschürt und hinterher ebendort der Schrecken wortreich verhandelt, als würde mongolische Heerscharen vor den Toren Europas stehen.“ (22)
Der „Schrecken“ der herrschenden politischen Elite im Vorfeld der Wahlen im September 2024 wird von Tag zu Tag größer, was durch die endlosen Versuche, die AfD zu diskreditieren, belegt wird. Dies bestätigt einmal mehr die Tatsache, dass sich in Deutschland eine revolutionäre Situation zusammenbraut, wie Lenin es formulierte: „Eine revolutionäre Situation gibt es dann, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen“.
1. Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023, 10. Auflage, S. 53.
2. Ebenda, S. 53-54, 108.
3. Ebenda, S. 87-88.
4. Ebenda, S. 88-89.
5. Ebenda, S. 16.
6. Ebenda, S. 121-122.
7. Ebenda, S. 111-112.
8. Ebenda, S. 65-66.
9. Ebenda, S. 104-105.
10. Ebenda, S. 157, 161-162, 166, 168.
11. Ebenda, S. 54.
12. Ebenda, S. 55.
13. Ebenda, S. 107-108.
14. Ebenda, S. 184-185.
15. Ebenda, S. 72-73.
16. Ebenda, S. 92-93-112.
17. Ebenda, S. 95.
18. Ebenda, S. 96-97.
19. Ebenda, S. 180-181.
20. Ebenda, S. 11-12, 197.
21. Ebenda, S. 199.
22. Ebenda, S. 101.