Diese Frage stellt sich der Politikwissenschaftler Lothar Brock im Jahr 2022 nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine und knüpft damit an eine andere Frage an, die ihn bereits 2004 im Zusammenhang mit der Kriegserklärung der US-Regierung Bush an den Terrorismus beschäftigte: „Ist das Völkerrecht am Ende?“ Im Jahr 2004, wie auch fast zwanzig Jahre später, stützt sich Brock auf das Erbe des großen Philosophen Immanuel Kant, um sich selbst und den Leser davon zu überzeugen, dass die Schaffung der von Kant erträumten rechtlichen Weltordnung trotz aller Kollisionen des neuen Zeitalters immer noch möglich ist. Dennoch lässt der Politikwissenschaftler Brock mit seiner Frage im Jahr 2022 (War Kant also doch für die Katz?) Zweifel aufkommen, ob der Friedensplan des Philosophen Kant überhaupt realisierbar ist. Dabei versucht er, die konkrete Frage von Krieg und Frieden im globalen Wandel der internationalen Kräfte wieder in den philosophischen Diskurs über Völkerrecht einzubringen. Heute, wo Politik vor Recht geht, ist ein solches Bestreben respektabel.
Seine Ansicht über Kants Friedensplan hat Brock bereits in seinem Standpunkt 2004 dargelegt. Im Mittelpunkt dieses Plans steht Kants Wunsch, das damals geltende europäische Völkerrecht, das den Krieg als solchen erlaubte, einer völlig anderen Weltordnung gegenüberzustellen, in der der Krieg als solcher undenkbar wäre. Brock schreibt: „In seiner Schrift zum Ewigen Frieden nennt Kant die Vertreter des klassischen Völkerrechts deshalb „lauter leidige Tröster“, die viel vom Frieden redeten, ohne mit ihrem Kodex je einen Krieg verhindert zu haben, egal ob „philosophisch oder diplomatisch abgefasst“; denn dieser Kodex beruhe auf der gesetzlosen Freiheit der Staaten, „sich unaufhörlich zu balgen“. Die Vernunft gebiete, so Kant in seiner Schrift zum Ewigen Frieden (1795), diese gesetzlose Freiheit hinter sich zu lassen, also das Völkerrecht von einem Recht des Krieges in ein Friedensrecht zu überführen.“ (1)
Dieser Wandel des Völkerrechts (von Kriegen zu ewigem Frieden) beruht, wie von Kant beabsichtigt, auf der Vernunft und der modernen Demokratie. Brock schreibt: „Wenn der Friede ein Gebot der Vernunft ist, also im ureigensten Interesse aller Beteiligten liegt, müsste er sich, wie Kant ausdrücklich bemerkt, auch in einer Welt von Teufeln einstellen – sofern nur die Vernunft Gelegenheit hat, sich Bahn zu brechen. Diese Bedingung sah Kant mit der modernen Demokratie gegeben; denn in der Demokratie hätten diejenigen Gelegenheit über Krieg und Frieden mitzuentscheiden, die die Lasten des Krieges zu tragen hätten.“
Die Kants Formel des Friedens könnte dann folgendes formuliert werden: In einer demokratischen Welt, in der der Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker gilt, sollten alle Völker umsichtig genug sein, um Kriege zu vermeiden – einfach deshalb, weil sie die Hauptlast des Krieges tragen. Mit anderen Worten: In Demokratien müssen die Regierungen bei der Planung ihrer Militärpolitik stets die Bürger im Auge behalten, da sie es sind, die die Hauptlast eines Krieges tragen. Diese Pläne müssen nicht immer mit dem Willen des Volkes übereinstimmen, wie wir heute zum Beispiel in Deutschland sehen: Den Plänen der Ampelregierung zur weiteren Eskalation des Konflikts in der Ukraine steht ein erheblicher Teil der Bevölkerung gegenüber, der Vernunft und Frieden fordert. Oder, um es mit Kants Formulierung zu sagen: Die Vernunft bricht in einer Welt von Teufeln durch.
Aber die Demokratien sind nur ein Teil des ganzen Planeten, und so kann Kants Friedensformel noch nicht vollständig verwirklicht werden: Die globale Welt ist noch nicht zu einer globalen modernen Demokratie geworden. Außerdem gilt das Grundprinzip der Demokratie, das meist als das Selbstbestimmungsrecht der Völker definiert wird, nur für einen Nationalstaat, in dem dieses Recht in der Verfassung verankert ist. Es gibt noch immer keine Weltverfassung, keine Weltregierung, keine Weltdemokratie und keine Möglichkeit für die Menschen auf dem gesamten Planeten, ihren Willen zu bestimmen. Das Grundprinzip der Weltdemokratie, das in aller Munde ist, muss erst noch formuliert werden – eine sehr schwierige Aufgabe, selbst für Rechtsgelehrte. Dennoch versucht Brock, unter Berufung auf Kant, dieses Prinzip zu formulieren. Dies zeigt sich in seinen drei Artikeln über Krieg und Frieden: „Frieden durch Recht“ (2004), „Überlegungen zu Krieg und Frieden in Geschichte und Gegenwart. Lothar Brock im Gespräch“ (2019) und „Der Ukraine-Krieg und das Völkerrecht. Ist das Gewaltverbot nun endgültig tot?“ (2022).
Der Ausgangspunkt von Brocks Überlegungen ist das Grundproblem der internationalen Beziehungen. Er beschreibt es wie folgt: „Das Gewaltverbot hat den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verhindert. Das Verbot als solches hätte ihn aber auch nicht verhindern können. Das anzunehmen, liefe auf ein Missverständnis hinaus: Denn die Gültigkeit des Gewaltverbots als völkerrechtliche Norm bemisst sich nicht in erster Linie daran, ob es zu jeder Zeit befolgt wird. Zentral ist vielmehr seine Akzeptanz als verbindlicher Maßstab für die Beurteilung militärischer Gewaltanwendung. 2021 wurden in Deutschland mehr als 200 Morde registriert. Niemand würde aus diesen Rechtsbrüchen ernsthaft schlussfolgern, dass der Straftatbestand des Mordes nach §211 StGB damit seine Gültigkeit verloren hätte. Das ist für die Aufrechterhaltung des Rechts selbst wichtig, weil das Recht zur Freude seiner Feinde auch totgeredet werden kann.“ (2)
In einer Demokratie ist die Verfassung für die Aufrechterhaltung des Rechts zuständig. In den internationalen Beziehungen gelten ganz andere Regeln. Brock schreibt mit Blick auf die internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg: „Nun sind staatliches und zwischenstaatliches Recht aber nicht dasselbe. Die Durchsetzung des letzteren kann sich nicht wie in einem funktionierenden Staat auf ein „Monopol legitimer Gewaltsamkeit“ (Max Weber) stützen. Entscheidend ist das Votum des Sicherheitsrates, das letztlich immer von der Abstimmung der fünf Ständigen Mitglieder abhängt, die über ein Veto verfügen. Jede Entscheidung muss also konkurrierende politische Interessen berücksichtigen. Das Recht, das seine Legitimität aus dem Anspruch auf Überparteilichkeit bezieht, ist stets Objekt seiner Instrumentalisierung durch die miteinander im Streit liegenden Parteien.“
Das Grundproblem der internationalen Beziehungen besteht also darin, dass sie im Gegensatz zu modernen demokratischen Staaten nicht über ein Gewaltmonopol verfügen, das in einer einzigen internationalen Verfassung für alle verankert wäre. Brock schreibt mit Blick auf die Demokratien: „Dieses Gewaltmonopol gilt als legitim, soweit es gewalttätige Selbsthilfe zugunsten einer rechtlich gehegten Konfliktaustragung zurückdrängt. Das Gewaltmonopol verwandelt violentia in potestas (Gewalt in eine Form der Macht, Anm. d. Autors.) und stiftet damit Ordnung. Diese Ordnung wird aber erst in dem Maße zur Friedensordnung, in dem staatliches Handeln sich selbst bestimmten Regeln unterwirft, das staatliche Gewaltmonopol also rechtsstaatlicher Kontrolle unterstellt wird. Dies leistet eine Verfassung.“ (3)
Das verfassungsrechtlich kontrollierte Gewaltmonopol ist für Brock eine wichtige historische Errungenschaft, mit der ein entscheidender „Schritt zur Zivilisierung des Konfliktverhaltens“ getan wurde. Brock greift auf Kant zurück, um die Bedeutung eines solchen Schrittes zu unterstreichen: „Denn die Teufel, denen Kant den Frieden zutraut, weil er ihrem Interesse entspricht, müssen dazu befähigt werden, dieses Interesse am Frieden zu erkennen und ihm zu entsprechen.“
Aber gibt es so etwas auch auf internationaler Ebene? Und wäre das überhaupt erstrebenswert, fragt Brock. Seine Suche nach einer Antwort auf diese Fragen bringt uns näher zu verstehen, wie er Kants Friedensplan sieht. Brock schreibt: „Betrachtet man die Volkssouveränität als Kern demokratischer Selbstbestimmung, so erscheint jede über den Staat hinausgreifende Verfassungsbildung als problematisch. Regelungen der internationalen Beziehungen müssen dann auf zwischenstaatliche Verträge beschränkt bleiben, die der Oberhoheit der Parlamente unterworfen sind. Es ist jedoch zu fragen, ob das ausreichen kann, um die materiellen Einschränkungen demokratischer Selbstbestimmung aufzufangen, die mit der globalen Verflechtung aller Lebensverhältnisse einhergehen. Auch hier gilt, dass demokratische Selbstbestimmung, also Autonomie, in einer materiell verflochtenen Welt nur im Rahmen der Selbstbindung möglich ist. Und zur Stärkung dieser Selbstbindung reicht die Vernunft der einzelnen Staaten – auch der Demokratien – offenbar nicht aus. Dementsprechend müsste man auch auf internationaler Ebene auf den erzieherischen Effekt einer guten Verfassung setzen, die dazu beiträgt, der Vernunft auf die Sprünge zu helfen. Deshalb bedarf es internationaler Normen, die der autonomen Verfügungsgewalt der Einzelstaaten entzogen sind, gleichwohl aber nicht als Einschränkung demokratischer Selbstbestimmung zu betrachten wären, sondern als Voraussetzung für die Ausübung demokratischer Selbstbestimmung in einer verflochtenen und zugleich vielgestaltigen Welt gelten könnten.“
Dies kann als Grundlage für das demokratische Prinzip in den internationalen Beziehungen angesehen werden: Nicht die Bemühungen der westlichen Demokratien, noch nicht vollständig demokratische Länder (militärisch oder anderweitig) zu demokratisieren, sondern die notwendigen Bedingungen zu schaffen, die die demokratische Selbstbestimmung der Völker der Welt erleichtern würden, ohne ihre Souveränität zu verletzen. Ein solches Prinzip in den internationalen Beziehungen steht im Einklang mit Kants Friedensplan, weil es auf dem gesunden Menschenverstand der Nationen beruht. Letztendlich sind es die Völker selbst, nicht ihre Regierungen, die über Krieg oder Frieden entscheiden müssen, denn sie sind es, die die Hauptlast der Feindseligkeiten tragen. Dazu dient eine „gute Verfassung“ auf internationaler Ebene, deren Aufgabe es ist, den Prozess der Selbstdemokratisierung der Völker zu unterstützen. Es bleibt aber zu klären, um welche Art von Weltverfassung es sich handeln könnte.
In seinem Interview „Überlegungen zu Krieg und Frieden in Geschichte und Gegenwart“ (2019) skizziert Brock kurz die Konturen einer solchen Weltverfassung. Die erste Frage, die ihm gestellt wurde, betraf das Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz, die am 18. Januar 1919 begann. Brock stellt fest, dass der Friedensvertrag von Versailles gegen eine der Maximen Kants verstieß (nämlich, dass kein Friedensvertrag den Stoff für neue Kriege liefern sollte), was wesentlich zur Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland beitrug, und sieht die Dokumente der Pariser Konferenz dennoch als einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Konfliktlösung. Es geht, so Brock, „um die Schaffung internationaler und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die dazu beitragen, den Umgang mit Konflikten in zivile Bahnen zu lenken“. (4)
Genau unter diesem Gesichtspunkt, so Brock, sollte „Versailles“ betrachtet werden. Er schreibt: „Dann kann man die Verhandlungen am Ende des Ersten Weltkrieges auch als Versuch verstehen, eine internationale Ordnung für den geregelten Umgang mit Konflikten zu schaffen. Die Idee einer solchen Ordnung fand vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Wissenschaft, aber auch in der ersten transnationalen Friedensbewegung der Geschichte regen Zuspruch. Sie war also nicht neu, neu war der historische Kontext, in dem sie Gestalt annahm. Dazu zählen in erster Linie die damaligen Kriegserfahrungen.“
Es ging nicht nur darum, frühere Erfahrungen zu berücksichtigen: Es war ein Schritt in Richtung einer progressiveren Gestaltung der internationalen Beziehungen. Brock schreibt: „Der Vertrag umfasste 440 Artikel, die alles, was den Übergang vom Krieg zum Frieden betraf, bis ins letzte Detail zu regeln versuchten. Die Pariser Friedensverhandlungen stehen also nicht nur für ein machtpolitisches Ränkespiel, sondern auch für den Versuch, solche Ränkespiele zu zivilisieren.“
Der Frieden von Versailles ist bekanntlich gescheitert, aber das ist für Brock kein Grund, die Idee des Pariser Friedensvertrags zu begraben, nämlich die Zivilisierung der internationalen Beziehungen. Er schreibt: „Die Versailler Bemühungen, alles bis ins kleinste Detail zu regeln, brachten offensichtlich ebenso wenig wie der große ordnungspolitische Entwurf des Völkerbundes einen Durchbruch auf dem Weg von der Beendigung des Krieges zum „Ewigen Frieden“. Aber auch Faschismus, Stalinismus, Krieg und Holocaust haben nicht bewirkt, dass das normative Projekt, für das die Pariser Friedensverhandlungen standen, aufgegeben wurde. Im Gegenteil, dieses Projekt wurde am Ende des Zweiten Weltkrieges erneut weiterentwickelt und ausgebaut, diesmal in Gestalt der Vereinten Nationen, des „Bretton Woods“-Systems zur Regelung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, der Kodifizierung der Menschenrechte und eines Ausbaus der internationalen Gerichtsbarkeit. Nach dem Ende des Kalten Krieges erhielt die Idee, Frieden durch Verrechtlichung der internationalen Beziehungen zu erreichen, einen weiteren präzedenzlosen Auftrieb. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit dem Konzept einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, also der Umformung des Völkerrechts in ein Weltverfassungsrecht.“
Leider präzisiert Brock nicht, was er unter einem Weltverfassungsrecht versteht, das das geltende Völkerrecht ersetzen soll. Vielleicht handelt es sich um eine Art neues, auf Regeln basierendes Recht, das der Westen nach dem Sieg im Kalten Krieg der Welt aufzwingen wollte. Im Jahr 2019 stellt Brock in seinen Überlegungen zu Krieg und Frieden lediglich fest, dass die in Versailles proklamierte Idee einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen ihre Überzeugungskraft verloren hat. „Kosmopolitisches Denken wird allerorten durch einen neuen Nationalismus und Populismus verhöhnt“, gibt er zu und schließt: „Der mehr als hundertjährige Zyklus von Kriegserfahrungen und darauf reagierenden Friedenshoffnungen geht zu Ende.“
Die Welt kehrt damit zu dem zurück, was Kant einst zu bekämpfen versuchte, indem er das klassische europäische Völkerrecht, das Jus Publicum Europaeum, das Gewalt anerkannte, durch einen Friedensplan mit einem totalen Gewaltverbot zu ersetzen suchte. Aber Kant wäre nicht Kant, wenn er nicht wüsste, dass der Frieden erkämpft werden muss. In Kants Optimismus findet Brock auch Optimismus für sich selbst. Er schreibt mit Kant im Hinterkopf: „Er konzipierte einen dauerhaften internationalen Rechtsfrieden nicht als Zustand, sondern als einen historischen Prozess, der immer wieder Rückschläge erfahren würde, ohne damit aber zum Erliegen zu kommen.“ (5)
Von besonderer Bedeutung in diesem Friedensplan, so Brock, waren für Kant die internationalen Institutionen und die Öffentlichkeit. Deren erfolgreiches Tandem konnte nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtet werden. Brock schreibt: „Beides waren für ihn (gemeint ist Kant, Anm. d. Autors) kritische Instanzen, die die Anwendung von Gewalt in internationalen Konflikten skandalisieren und damit erschweren sollten. Das hat in der aus europäischer Perspektive so genannten „Nachkriegszeit“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus leidlich gut funktioniert: Ein großer Krieg zwischen Ost und West wurde vermieden (wenn auch nicht die Eskalation des Konflikts bis an den Rand eines mit Atomwaffen geführten Krieges in der Kuba-Krise). Kollektive Gewalt wurde weiterhin ausgeübt, aber überwiegend nicht als zwischenstaatliche, sondern als innerstaatliche Kriege mit internationaler Einmischung (was ihre Bedeutung für die Betroffenen nicht minderte).“
Es sollte daher nicht überraschen, dass Brock der UN-Charta große Bedeutung beimisst, in der er die Umwandlung des Völkerrechts in das kantische Recht des Friedens sieht. Im Jahr 2004 schreibt er: „Das ist inzwischen der Form nach weitgehend geschehen. Die Völker haben sich unter der Charta der Vereinten Nationen zusammengeschlossen, um die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien. Die Charta spricht ein allgemeines Gewaltverbot aus und etabliert eine dem Gewaltverbot entsprechende Friedenspflicht. Der Frieden ist damit von einer Idee zu einer Norm geworden.“ (6) Im Jahr 2022, in dem klar war, dass die „internationalen Institutionen und die öffentliche Meinung“ trotz der umfassenden Kritik an Putins Russland nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt haben (die sogenannte Dritte Welt als Ganzes hat Russland nicht verurteilt), ruft Brock dennoch erneut alle Staaten auf, „die Grundsätze der UN-Charta energisch zu verteidigen“. Er bezog sich dabei natürlich auf die völkerrechtliche Willkür Russlands, gegen die sich die ganze Welt wehren sollte, obwohl er bereits 2004 die Marginalisierung der Grundsätze der UN-Charta und der Rolle der UNO selbst durch das Vorgehen der US-Regierung sah.
* * *
Im Jahr 2004, nachdem die USA dem Terrorismus den Krieg erklärt hatten, wurde Brock in seinen Analysen der internationalen Ereignisse konsequenter. Seine kritische Analyse der internationalen Politik der USA um die Jahrhundertwende trägt wesentlich dazu bei, zu erklären, warum die Idee einer Zivilisation der internationalen Beziehungen heute scheitert.
Die Bildunterschrift auf dem Foto, mit dem Brock seine Analyse im Jahr 2004 beginnt, lautet: „Kant blickt auf Kant: Das Recht bleibt immer das Gegenüber der Politik, trotz aller Versuche der Politik, sich das Recht gefügig zu machen.“ Ich würde gerne eine Ergänzung machen: Politik versucht nicht nur das Recht, sondern auch die Rechtsgelehrten selbst gefügig zu machen. Gerade die Versuche der USA, das geltende Völkerrecht zu manipulieren, bereiteten Brock seinerzeit die größten Sorgen. Es ging in erster Linie um die Folterung von Gefangenen in Guantanamo – ein Verstoß gegen die geltenden Regeln der Kriegsführung. Ein weiterer Verstoß gegen die Regeln der Kriegsführung ist die Bombardierung von zivilen Objekten in Jugoslawien und im Irak. Die USA haben deutlich gemacht, dass sie bereit sind, die Rolle der UNO bei der Lösung internationaler Konflikte generell zu übernehmen – mit der Begründung, dass die UNO diese Aufgabe nicht gut bewältigt. Dem Anspruch der USA, Schiedsrichter zu sein, setzte Brock seine These entgegen, dass Frieden in der Welt nur durch kollektives Handeln erreicht werden kann. Nutzlos: Die USA ändern auch heute noch internationale Regeln, um ihren eigenen Interessen gerecht zu werden.
Brock sah eine besondere Gefahr in der wachsenden Rolle der US-Geheimdienste, die sowohl internationale als auch staatliche Gerichte bei der Terrorismusbekämpfung herausgefordert haben. Er schreibt: „Die Gerichte werden, wie beim Hamburger Terrorismusprozess zu Beginn des Jahres 2004, im Kampf gegen den Terror blockiert, wenn nicht marginalisiert, weil die Geheimdienste ihnen Informationen vorenthalten, bei deren Beschaffung man sich nicht unbedingt an die Strafprozessordnung hält und bei deren Verwertung es nicht um Rechtsprechung, sondern um Gefahrenabwehr (wenn nicht um die Machtsicherung der Geheimdienste selbst) geht.“ Durch die Manipulation von Geheimsinformation unter dem Vorwand der „Gefahrenabwehr“ kann jedes Gerichtsverfahren in internationalen Konflikten blockiert werden, wodurch das Gericht zu einem politischen Prozess wird.
Brock missbilligt, dass die US-Regierung den internationalen Gerichtshof ignoriert, obwohl er sich weiterhin für internationale Gerechtigkeit einsetzt. Er schreibt: „Ein wesentlicher Aspekt der Weiterentwicklung prozeduraler Normen ist der Ausbau der internationalen Gerichtsbarkeit. Die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes stellt in diesem Rahmen (das heißt bezogen auf Völkermord, Kriegsverbrechen und „crimes against humanity“) einen Meilenstein in einer langfristigen Entwicklung dar, die von Einzelregierungen aufgehalten, aber wohl nicht mehr zum Stillstand gebracht werden kann. Der Kampf der Bush-Administration gegen den Internationalen Strafgerichtshof ist in historischer Perspektive als ein Rückzugsgefecht zu werten und nicht als Signal für eine Kehrtwende in der Völkerrechtspolitik.“
Ein weiteres wichtiges Thema, das Brock in seiner Studie anspricht, ist die Tendenz zur Entrechtlichung, die durch den Kampf der USA gegen den Terrorismus verursacht wird (z. B. die Verweigerung des Anrechts auf eine gerichtliche Anhörung für die Gefangenen in Guantanamo). Letztlich führt dies zu einer Aushöhlung der Demokratie. Brock schreibt: „Hier ergibt sich als weitere große Herausforderung, den liberalen Rechtsstaat im Kontext der Terrorbekämpfung nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gegen eine Einschränkung bestehender Freiheiten durch Maßnahmen zu verteidigen, die ihrem Schutz dienen sollen.“ Was Brock 2004 befürchtete, ist nun Realität: Der Druck auf die bestehenden Freiheiten in Deutschland nimmt zu, sei es durch eine Coronavirus-Pandemie oder durch eine wahrgenommene Bedrohung der demokratischen Entwicklung des Landes durch Querdenkende oder AfD-Anhänger.
Brock ist auch besorgt über die Tendenz zur Umdeutung von Begriffen, was zu einer Verzerrung ihrer wahren Bedeutung führt. Er schreibt: „Hinzu kommt, dass die unumgängliche Forderung nach Anerkennung von Differenz mit der unermüdlichen Konstruktion neuer Differenzen beantwortet wird, selbst dort, wo man sie vorher gar nicht vermutet hat. „Mars und Venus“, „altes und neues Europa“ sind die Früchte solcher Konstruktionen. Hinter diesen Sprachspielen steht eine unerfreuliche Entwicklung: Kritik vermischt sich mit Stimmungsmache, Anti-Imperialismus mit Antiamerikanismus und Antisemitismus – nicht nur in Frankreich, sondern auch bei uns, wie Umfragen belegen. Umgekehrt wurden in der US-amerikanischen Öffentlichkeit im Vorfeld des Irak-Krieges vor allem über das Internet wahre Hasskampagnen gegen „alteuropäische“ Kritiker der US-Politik organisiert, wobei diese Kritiker auch in den etablierten Medien kaum zu Wort kamen, sondern nur über polemische Zuspitzungen ihrer Argumentate durch die diversen „news shows“ wahrgenommen wurden.“
Heute hat die Tendenz zur Umdeutung von Begriffen die Form des Absurden angenommen. Wer kann schon sagen, was der Unterschied zwischen linker und rechter Politik ist, wenn das, was früher rechts war, links geworden ist und umgekehrt? Wer weiß, was das Wesen des Rechtsextremismus ist, den man der demokratisch gewählten Partei AfD vorwirft? Wer versteht noch, was Demokratie wirklich ist, wenn das, was immer als ihre Errungenschaft angesehen wurde, nun vom politisch-medialen Mainstream als Gefahr für das bestehende System wahrgenommen wird? Und so weiter.
Brocks Analyse stellt eine klare Verbindung zwischen der imperialen Politik der USA und der Gefahr her, die sie für den Weltfrieden darstellt. Er schreibt mit Blick auf „den Westen“: „Er verfolgt zwar einerseits als Staatengemeinschaft das Projekt, den Rest der Welt auf die friedenstiftende Idee der liberalen Demokratie einschwören zu können. Andererseits wächst heute aber die Angst, dass diese Idee womöglich nicht einmal ausreichen könnte, den inneren Zusammenhalt der westlichen Staatengemeinschaft selbst zu wahren. Und wenn die US-Politik, wie Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz meinen, einer imperialen Handlungslogik folgt, die sie zur Weltherrschaft drängt, dann könnten wir nicht einmal mehr sicher sein, dass es den Demokratien gelingen wird, auf Dauer untereinander Frieden zu halten.“
Brocks abschließendes Urteil über den Anspruch der westlichen Gemeinschaft auf die Weltherrschaft unter der amerikanischen Führung, der als Kampf für Frieden, Menschenrechte und Demokratie dargestellt wird, lautet in den Worten des amerikanischen Philosophen Michael Walzer: „Politisch oder religiös motivierte Feldzüge – etwa zur Verbreitung des Christentums oder des Islams, des Sozialismus oder der Demokratie – sind keine gerechten Kriege.“
Brocks Worte erwiesen sich als prophetisch: Die Einheit der demokratischen westlichen Welt zerbröckelt nun vor unseren Augen angesichts des zunehmenden Widerstands der anderen, nicht-westlichen Welt. Doch im Jahr 2019 war Brock, wie viele im Westen, davon überzeugt, dass die westliche Demokratie eine Zukunft hat, weil Demokratien sich nicht gegenseitig bekämpfen und daher die beste Formel für den Weltfrieden auf dem gesamten Planeten bieten können. Er formuliert seine These wie folgt: „Zwar war nicht zu übersehen, dass das Ende der Blockkonfrontation keineswegs schon das Ende aller Kriege bedeutete. Aber mit den Schrecken, die die Gewalt in den sogenannten neuen Kriegen verbreitete, wuchs die Zuversicht, dass der „Sieg“ der Demokratie neue Möglichkeiten für die Ausbreitung des Friedens bot. Dem lag das Theorem des demokratischen Friedens zugrunde, das sich auf den empirischen Sachverhalt beruft, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen.“ (7)
Aber die Fakten bestätigen auch, dass die Ausbreitung der Demokratie in der Welt in den letzten dreißig Jahren zu mehr Gewalt geführt hat. Die Formel für den demokratischen Frieden gilt in keiner Weise für den Krieg der liberalen Demokratie gegen die gesamte nicht-demokratische Welt. Diesen empirischen Sachverhalt war Gegenstand einer Studie der Hessischer Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), deren Schlussfolgerungen Brock zuzustimmen scheint. Er merkt an: „Untersuchungsgegenstand waren die sogenannten humanitären Interventionen der 1990er Jahre und die Kriege in Afghanistan und dem Irak. Eines der Ergebnisse dieser Forschung war, dass liberal-demokratische Staaten mit ihrer Berufung auf Demokratie und Menschenrechte über eine breitere Palette von Gründen für die Anwendung von Gewalt verfügen als Nicht-Demokratien. In einer heterogenen Welt von Demokratien und Nicht-Demokratien ist also mit mehr Kriegen zu rechnen als in einer Welt von Nicht-Demokratien, und dies, obwohl die Ausbreitung der Demokratie die Chancen auf Frieden empirisch nachweisbar erhöht.“
Mit anderen Worten: Die zunehmende Gewalt gegen Nicht-Demokratien ist gerechtfertigt, weil sie die Errichtung einer universellen demokratischen Ordnung auf der Erde ermöglicht, die (da Demokratien sich nicht gegenseitig bekämpfen) die Welt endlich von Konflikten befreit. Das klingt nach einem politischen Projekt „Zwang zum Frieden“, das jedoch von Wissenschaftlern der HSFK-Stiftung als Paradoxon zwischen Zwang und Frieden untersucht wird. Brock merkt an: „Denn ein dauerhafter Frieden, egal ob inner- oder zwischenstaatlich, ist nur als Rechtsordnung denkbar, wobei das Recht aber nicht für die Überwindung von Zwang steht, sondern für seine Verregelung. Das sorgt für Ordnung, zugleich aber auch für Widerstand, weil jede Form der Verregelung nicht nur Willkür eindämmt, sondern immer auch neue Willkür schafft. Es wäre jedoch verhängnisvoll, wollte man daraus folgern, dass Anarchie und Krieg weniger Schaden anrichten als alle Bemühungen um Ordnung und Frieden.“
Was ist das, wenn nicht der Versuch, die Anwendung von Gewalt zur Errichtung einer demokratischen Ordnung zu rechtfertigen? Im Jahr 2004 äußerte sich Brock mehr kritisch gegenüber solchen Versuchen. Er schrieb: „Aber sind es nicht gerade die Demokratien, die heute unter Verweis auf die Notwendigkeit, das Friedensrecht weiterzudenken, neue Kriegsführungsoptionen formulieren und durchsetzen? „Wen müssen wir schützen?“ fragen die demokratischen Vertreter der humanitären Intervention. Aber folgt dem nicht automatisch die von dem britischen Politikwissenschaftler Bary Buzan nach dem 11. September 2001 formulierte Frage: „Wen dürfen wir bombardieren?“ und jetzt sogar die Frage „Wen dürfen wir foltern?““ (8)
Leider hat Brock den Fehler nicht bemerkt, der sich im Theorem des demokratischen Friedens eingeschlichen hat: Demokratien haben erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgehört, sich untereinander zu bekämpfen, als die USA, die den „Kreuzzug“ gegen den Kommunismus angeführt hatten, sich schließlich als Hegemon in der westlichen demokratischen Welt etablierten. Davor befanden sich die westlichen Demokratien untereinander in den Kriegen. Und ganz allgemein: Die Geschichte der Demokratie lässt sich nicht in eine kurze Episode der Nachkriegszeit pressen. Wer kann garantieren, dass die westlichen Demokratien im Falle eines plötzlichen Zusammenbruchs der amerikanischen Hegemonie ein freundschaftliches Verhältnis untereinander pflegen werden? Dies ist das Paradoxon eines demokratischen Friedens nach westlichem Vorbild: Sie ist nur möglich, wenn sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten über den gesamten Planeten erstreckt. Aber was für eine Art von Demokratie ist das, wenn die Welt von einem Hegemon regiert wird?
War Kant also doch für die Katz, wenn er die Idee eines ewigen Friedens vorschlägt, der auf dem gesunden Verstand der Nationen und der friedlichen Natur der Demokratien beruht? Brock selbst hat diese Frage nie beantwortet. Alle seine Versuche, die Philosophie Kants auf die rechtliche Bewertung der Ereignisse von 2004 (Kampf der USA gegen den Terrorismus) und 2022 (Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine) anzuwenden, laufen auf Rechtspositivismus hinaus: auf den Wunsch, die Welt durch „richtige Gesetze“, denen alle gehorchen müssen, von Konflikten zu befreien.
Aber der Positivismus ist dafür bekannt, dass er zu viel Politik enthält, was trügerisch sein kann und die alte Wahrheit bestätigt: Gute Absichten pflastern den Weg zur Hölle. Man kann in eine Sackgasse geraten, wenn man sich für die Wahrheit auf den Positivismus verlässt. Mit dieser Frage sah sich Brock konfrontiert, als er versuchte, eine Antwort auf die Frage zu finden, was also zu tun sei, wenn die Idee der Zivilisierung der internationalen Beziehungen – unter dem Druck von Nationalismus und Populismus – scheitert und die militärische Konfrontation in der Welt nur zunimmt. Er musste zugeben: „Wie die Antwort wirklich lautet, weiß im Augenblick niemand so recht – weder in der Wissenschaft noch in der Politik.“ (9)
Dies ist jedoch nicht verwunderlich: In der starken Umarmung der Politik kann auch die Wissenschaft blind werden.
1. Hier und weiter: https://www.jstor.org/stable/resrep14628
2. Hier und weiter: https://blog.prif.org/2022/12/06/der-ukraine-krieg-und-das-voelkerrecht-erneute-totsage-des-gewaltverbots/
3. Hier und weiter: https://www.jstor.org/stable/resrep14628
4. Hier und weiter: https://blog.prif.org/2019/02/11/ueberlegungen-zu-krieg-und-frieden-in-geschichte-und-gegenwart-lothar-brock-im-gespraech/
5. Hier und weiter:https://blog.prif.org/2022/12/06/der-ukraine-krieg-und-das-voelkerrecht-erneute-totsage-des-gewaltverbots/
6. Hier und weiter: https://www.jstor.org/stable/resrep14628
7. Hier und weiter: https://blog.prif.org/2019/02/11/ueberlegungen-zu-krieg-und-frieden-in-geschichte-und-gegenwart-lothar-brock-im-gespraech/