„Vom Neoliberalismus zum Illiberalismus“

Unter diesem Titel leistet Philipp Ther, Professor für Ostmitteleuropäische Geschichte an der Universität Wien, in seinem Artikel für Rotary-Magazin einen Beitrag zum Diskurs über Neoliberalismus. Er geht davon aus, dass die wesentliche Stärke des Neoliberalismus – als Ideologie – in seiner Anpassungsfähigkeit liegt. Ther schreibt: „Der Neo­­liberalismus konnte auch deshalb eine glo­bale Hegemonie erlangen, weil er sich in verschiedenen Kontexten als flexibel anwendbar erwies. Er ähnelt damit dem modernen Nationalismus, der wirkmächtigsten Ideologie des 19. Jahrhunderts. Die­se blieb ideologisch ebenfalls variabel und entfaltete sich in äußerst verschiedenen Kontexten, von ‚kleinen‘ Nationen bis zu imperialen Nation-Building-Projekten.“ (1)

In der Tat ist die Flexibilität des Neoliberalismus wie auch des Liberalismus Ausdruck ihres ideologischen Paradigmas: so viel Freihandel wie möglich und so wenig staatliche Einmischung in Business wie möglich. Das heißt, der Wirtschaft Vorrang vor der Politik einzuräumen, nach dem Prinzip: Business weiß besser, wie man die Welt zu einem glücklicheren Ort zu machen. Ther bestätigt diese These sogar, wenn er über Neoliberalismus schreibt: „Grundsätzlich wurde die Annahme vertreten, dass der Markt seine produk­tiven Kräfte am besten entfalten könne, wenn er von staatlichen Eingriffen befreit und „entfesselt” sei. Im Grunde genügte es, wenn der Staat auf seine rechtsstaatlichen Funktionen reduziert wird und das Privat­eigentum sowie unternehmerische Aktivitäten schützt und stärkt.“

Die universelle Flexibilität des Neoliberalismus macht ihn alternativlos, was bedeutet, dass alle Versuche, ihn abzuschaffen, reiner Populismus sind. Es ist kein Zufall, dass für Ther der Populismus die Kehrseite des Neoliberalismus ist. Er meint, dass Trumps Populismus Amerika bedroht, weil er den Aufstand der einfachen Amerikaner gegen die Globalisierung und damit gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell – als Grundlage der modernen Globalisierung – anfacht. Aber Populismus bedroht die Europäische Union noch mehr, bis hin zur Bedrohung seiner Existenz, denn die EU ist „weniger gefestigt und stabil“. Ther ist der Ansicht, dass der Aufstieg des Rechtspopulismus, auch in Deutschland, nicht nur als Reaktion auf die „Flüchtlingskrise“ gesehen werden kann: Die Wurzeln liegen tiefer.

Die Gefahr des Populismus besteht darin, dass er leichter Wählerproteste gegen das organisieren kann, was als alternativlos gilt, in diesem Fall die Ideologie des Neoliberalismus. Daher ist der Populismus nach Ansicht von Ther im Wesentlichen illiberal. Er schreibt: „Häufig werden populistische Parteien primär als Protestparteien verstanden. In der Tat bilden die Verlierer der postkommunistischen Transformation und analog dazu im Westen die Verlierer der Globalisierung die Hauptwählerschaft. Aber das Wählerspektrum reicht bis weit in die Mittelschichten, die Angst vor einem sozialen Abstieg haben. Der positive Appeal der Populisten liegt in einem Bündel an Schutz- und Sicherheitsversprechen. Sie versprechen unabhängig von ihrer Couleur Schutz vor internationaler Konkurrenz, Schutz des heimischen Arbeitsmarkts, speziell vor Arbeitsmigranten und Flüchtlingen (Xenophobie ist jedoch eher ein Kennzeichen der Rechtspopulisten), Schutz vor Kriminalität und Schutz nationaler Werte. So gesehen ist das Weltbild der Populisten stringent, man kann auch zu­sammenfassen, dass es illiberal ist. Dieser Illiberalismus erreicht eine solche Schlagkraft, weil er sich als Alternative zum herr­schenden System präsentiert. In Deutschland ist dies bereits im Parteinamen der AfD ausgedrückt, der die Antithese zum neoliberalen there is no alternative ausdrückt.“

Ther bleibt zwar dem Neoliberalismus als universellem Wirtschaftsmodell treu, verschweigt aber auch nicht dessen Unzulänglichkeiten. Dies zeigte sich bereits in Chile, wo die Theorie des Neoliberalismus, die ihre Wurzeln in den 1930er Jahren hat, erstmals in der Praxis erprobt wurde. Er schreibt: „1973 beendete der Militärputsch von Augusto Pinochet die sozialistischen Experimente von Salvador Allende. Unter Pinochet schlug das Pendel in die andere Richtung aus. Er verfolgte eine neoliberale Wirtschaftspolitik mit umfangreichen Privatisierungen (u. a. der Post, der Eisenbahn und sogar der Wasserwerke), einer allgemeinen Deregulierung und einer Öffnung Chiles für Im­porte und ausländische Investitionen.“

Ther hält das chilenische Experiment nicht für einen vollen Erfolg, auch wenn diese neoliberale Success Story immer noch um die Welt kursiert. Einerseits, so Ther, sei es Pinochet gelungen, die Schuldenkrise zu überwinden und in eine Phase hohen Wachstums einzutreten, andererseits entstand im Land „eine tiefe soziale Kluft – Ungleichheit wäre hier fast ein Euphemismus –, die sich wachstumshemmend auswirkt“.

Seine eigentliche Karriere machte der Neoliberalismus jedoch Mitte der 1970er Jahre – als Reaktion auf die „Stagflation“, die auf die zweite Ölkrise folgte und die Politik des Vereinigten Königreichs und der USA in den 1980er Jahren maßgeblich prägte. Ohne auf die Einzelheiten dieses Prozesses einzugehen, gibt es drei Hauptkomponenten: Privatisierung, Deregulierung und Öffnung des Landes für Importe und private Investitionen. Privatisierung und Deregulierung (d. h. die Beseitigung oder Verringerung staatlicher Vorschriften) betrafen die Länder, die ihre Tore für Importe und private Investitionen, vor allem aus dem Vereinigten Königreich und den USA, öffnen wollten.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das neoliberale Modell als Vorbild für die Umgestaltung der Planwirtschaft in den ehemaligen sozialistischen Staaten genommen. Eine besondere Rolle spielten dabei die konzertierten Aktionen der internationalen Finanzinstitutionen und der US-Regierung, der so genannte „Washingtoner Konsens“. Ther schreibt: „Eigentlich zielte dieser „Konsens“ auf die überschuldeten, von hoher Inflation geplagten Länder Südamerikas. Er diente dann aber als Blaupause für die Wirtschaftspolitik in diversen postkommunistischen Staaten, allen voran Polen. Die Rezepturen des „Washington Consensus“ waren eine Zukunftsverheißung, wenngleich unter der Prämisse, dass zunächst ein „Tal der Tränen“ zu durchlaufen sei. Diese Grundidee fand nicht zuletzt deshalb so viel Anklang, weil die staatssozialistische Modernisierung auf ähnlichen Vorgaben beruhte: ‚Alternativlose‘ Opfer in der Gegenwart zugunsten einer besseren Zukunft.“

Doch die Opfer für eine bessere Zukunft waren weitaus größer als erwartet. Auch Polen, das als Musterland für neoliberale Reformen in Europa gelten sollte, wurde zum Opfer. Ther schreibt: „Im Herbst 1989 verabschiedete die im Juni gebildete Regierung den zehnteiligen Balcerowicz-Plan. Dessen Grundidee war ein Big Bang: Wenn man die Subventionen für Lebensmittel, Energie, Mieten und viele Artikel des täglichen Bedarfs abschaffte, die Preise für alle Produkte freigab, die unrentablen Großbetriebe privatisierte und die Grenzen für ausländische Investoren öffnete, dann würde die polnische Wirtschaft nach einer kurzen, schmerzhaften Anpassungsperiode ein „Equilibrium“erreichen und wieder zu wachsen beginnen – so die Vorstellung. Finanzminister Leszek Balcerowicz ging bei seinen Reformen von einem Einbruch des BIP um etwa fünf Prozent und einer leicht ansteigenden Arbeitslosigkeit aus. De facto sanken das polnische Brutto-Inlandsprodukt 1990 und 1991 um 18 Prozent und die Industrieproduktion um fast ein Drittel. 1992 waren bereits 2,3Millionen Polen arbeitslos.“

Aber die ehemalige DDR wurde von den neoliberalen Reformen noch härter getroffen. Ther schreibt: „In Kombination mit der Währungsunion und ihrem unrealistischen Wechselkurs erzeugte die deutsche Version der Schocktherapie ein wirtschaftliches Desaster. Nirgendwo ging die Industrieproduktion so stark zurück wie in der ehemaligen DDR, nicht einmal in Bosnien, und dort herrschte bekanntlich Krieg. Diese beiden Beispiele zeigen, dass sich die häufig aufgestellte Behauptung, die Schocktherapie sei die Grundlage späterer ökonomischer Erfolge, nicht aufrechterhalten lässt, jedenfalls nicht im Sinne von Ursache und Wirkung.“

Die Reaktion auf die neoliberalen Reformen in den Ländern nach der Schocktherapie war durchaus zu erwarten: eine Rückkehr zur staatlichen Regulierung. Ther zeichnet diesen Prozess in Polen nach, obwohl er auch in anderen Ländern, wie etwa Russland, zu beobachten ist. Er schreibt: „In Polen müsste man dann auch die Politik der Postkommunisten berücksichtigen, die 1993 an die Macht kamen und die Reformen zwar nicht aufhoben, aber modifizierten, insbesondere bei der Privatisierung der Großindustrie, die oft etliche Jahre unter staatlicher Regie weitergeführt wurde. Offensichtlich hat dieser Pragmatismus nicht geschadet. Man muss aber auch ergänzen, dass jene osteuropäischen Staaten, in denen die (Post-)Kommunisten Anfang der 1990er Jahre an der Macht blieben (z. B. Rumänien, Bulgarien und die Ukraine) und Reformen verzögerten oder vermieden, noch schlechter abschnitten.“

In der Tat bringt uns Ther auf die klassische Formel einer effizienten Wirtschaftsführung zurück: Es geht nicht darum, sich zwischen liberalen Reformen und staatlicher Regulierung zu entscheiden, sondern um eine Balance zwischen beiden. Staaten, in denen diese Balance gestört ist, sind – in der einen oder anderen Form – zur sozialen Explosion verdammt. Aber es ist das Vorrecht einer bestimmten Regierung in einem bestimmten Stadium der Weltentwicklung, die Balance zwischen Markt und Staat zu wahren. Der Aufstieg von Illiberalismus und Populismus als Kehrseite des Neoliberalismus ist also, um es mit Thers Worten zu sagen, nur eine öffentliche Reaktion auf ineffektives Regieren. Wie in Amerika, in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Dies sind nur die Folgen, nicht die Ursachen der Krise des neoliberalen Wirtschaftsmodells.

1. https://rotary.de/gesellschaft/vom-neoliberalismus-zum-illiberalismus-a-9965.html