Durch Treuhand hat die Bundesrepublik an der DDR richtig gut verdient, so ist das Motto. Aber die Schocktherapie der 90er Jahre, die politische und ideologische Kolonialisierung des Ostens, die Marginalisierung des lokalen Wissens und Erfahrungen der Ostdeutschen, u.a. im wirtschaftlichen Bereich, erklären nicht, warum die ostdeutsche Wirtschaft trotz massiver Investitionen immer noch nicht wieder auf die Beine gekommen ist. Es gibt doch andere Beispiele, darunter China: Es hat etwas Ähnliches erlebt, aber es hat den Rückstand gegenüber dem Westen relativ schnell überwunden und ist nun bereit, dem Westen zu zeigen, wie lokales Wissen und Erfahrung zum wirtschaftlichen Erfolg in einer liberalen Wirtschaft beitragen können. Warum ist das nicht in Ostdeutschland passiert?
Die wirtschaftliche Gesetzmäßigkeit des freien Marktes
Natürlich kann man darauf verweisen, dass die Integration in den freien Markt immer schmerzhaft ist. Es gibt hier sogar eine gewisse Gesetzmäßigkeit: Das Bekenntnis zu den Prinzipien des Freihandels, die maximale Förderung der Marktliberalisierung bis hin zum Abbau von Zöllen, stärkt in der Praxis nur die Staaten, die sich schon lange und erfolgreich auf diesem Weg befinden. Gleichzeitig können Gesellschaften mit einer anderen Wirtschaftsgeschichte, in denen der Binnenmarkt noch im Entstehen begriffen ist, sowohl wirtschaftlich als auch politisch geschwächt und unterminiert werden. Daher müssen Gesellschaften, die sich der freien Marktwirtschaft öffnen, dieses Muster berücksichtigen, um ihre nationale Souveränität und wirtschaftliche Unabhängigkeit im Kontakt mit den hoch entwickelten Ländern nicht zu verlieren.
Die ökonomische Gesetzmäßigkeit erklärt insbesondere, warum die osteuropäischen Länder, die in die Europäische Union aufgenommen wurden, immer noch gezwungen sind, den Rückstand aufzuholen. Ihren Eintritt im Klub von Stärken bedeutet zuerst den Verfall der konkurrenzunfähigen Industrie, dann den Aufschwung der Arbeitslosigkeit und zuletzt die Massenauswanderung von qualifizierten Arbeitskräften in Richtung der wohlhabenden westeuropäischen Länder. Eine solche Integration in den freien Markt haben ausnahmslos alle osteuropäischen Länder erfahren, und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, was die Gesellschaften in diesen Ländern vor die schmerzliche Frage stellt, inwieweit sie sich heute wirklich als unabhängig betrachten können – wirtschaftlich und politisch. Angesichts der Hartnäckigkeit, mit der einige der östlichen Länder wie Ungarn versuchen, ihre politische und wirtschaftliche Souveränität zu behaupten, wird diese Frage im Laufe der Zeit wahrscheinlich noch an Bedeutung gewinnen.
Aber es gibt noch etwas Wichtiges: Wie die DDR kamen alle osteuropäischen Länder mit Volkswirtschaften in die EU, die sich im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe entwickelt hatten. Während des Siegeszuges des Sozialismus wurde in diesen Ländern gar nicht so wenig gebaut und es entstanden starke wirtschaftliche Verbindungen, insbesondere im Energiesektor. Die wirtschaftliche Vernunft gebot es, die hiesige Industrie nicht wahllos zu zerstören und die bestehenden Beziehungen zu Russland nicht leichtfertig abzubrechen. Doch die wirtschaftlichen, politischen und geopolitischen Interessen des Westens diktierten bei der EU-Osterweiterung andere Bedingungen: nämlich die gleichen Bedingungen wie im Falle Ostdeutschlands. Es geht nicht darum, die Voraussetzungen für ein Wirtschaftswunder zu schaffen, wie es z.B. in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war.
Beispiel der Ukraine: Geopolitik statt wirtschaftlicher Vernunft
Die Orientierung nach Europa bedeutete für die ehemaligen Sowjetrepubliken den Bruch der etablierten Wirtschaftsbeziehungen mit Russland. Was dies in der Praxis bedeutete, lässt sich am Beispiel der Ukraine deutlich erkennen. Die Orientierung auf das industrialisierte Europa mit dem gleichzeitigen Abbruch der Zusammenarbeit mit Russland und anderen Sowjetrepubliken hat der Ukraine einen grausamen Streich gespielt. Diese ehemalige Sowjetrepublik, die zu Sowjetzeiten die Lokomotive der modernen Industrie war und im Vergleich zu allen anderen Sowjetrepubliken den höchsten Lebensstandard aufwies, verlor ihre wirtschaftlichen Vorteile schnell, lange vor der Sonderoperation Russlands. Die meisten der hochmodernen Großunternehmen, die als der Stolz der Sowjetunion galten, wurden nach deren Zusammenbruch, lange vor der russischen Sonderoperation, zerstört oder ganz geschlossen.
Mehrere Millionen Ukrainer, die in ihrem eigenen Land keine Arbeit finden konnten, begannen, in Europa oder Russland nach Arbeit zu suchen. Sie müssen einen Teil ihres Einkommens in die Ukraine schicken, damit ihre Verwandten Waren kaufen können, die meist im Ausland produziert werden. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrage Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner im Jahr 2021 in der Ukraine 4828 US-Dollar, während in Belarus 7295, Kasachstan 9977 und in der Russischen Föderation 12198 US-Dollar. (1)
Beispiel Ostdeutschland: wirtschaftliche Vernunft statt Geopolitik
Die dichten Autokolonnen von PKW, die sich am Vorabend des Arbeitstages auf der Autobahn A 4 in Richtung Westdeutschland und am Ende der Woche in umgekehrter Richtung füllen, sind seit langem ein Symbol der deutschen Einheit. Dies erklärt besser als alle Statistiken, warum Sachsen zu einer Hochburg der Proteste geworden ist. Die Bürger des Freistaats Sachsen müssen nun ihre Stimme für eine größere politische Unabhängigkeit erheben, um den Weg für die Rettung der wirtschaftlichen Souveränität zu ebnen. Anders geht nicht: Eine ökonomische Unabhängigkeit verlangt die angemessene politische Souveränität, wie im Fall des Bayerns, das der Name des freien Staates wie Sachsen trägt, aber doch die eigene politische Vertretung in der Bundesrepublik hat.
Die politische und wirtschaftliche Souveränität Sachsens hat ein verbindendes Merkmal: die Orientierung an Russland. Nach der Wiedervereinigung erlebte der Handel zwischen Russland und Ostdeutschland einen enormen Aufschwung – bis zu einem Moment, in dem die Geopolitik ins Spiel kam. Bereits im Jahr 2020, noch vor Beginn der russischen Sonderoperation in der Ukraine, war der Handel zwischen Deutschland und Russland dramatisch zurückgegangen. Nach Bericht des Handelsblatts war Ostdeutschland besonders stark betroffen: „Der Handel mit Russland ist in den vergangenen Jahren nach einer Analyse des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft in Ostdeutschland zuletzt prozentual stärker zurückgegangen als im Westen. Zwischen 2013 und 2019 ging das Gesamthandelsvolumen in den fünf ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) um 6,9 Milliarden oder 39,6 Prozent zurück auf 10,6 Milliarden Euro. In den westdeutschen Ländern betrug das Volumen 47,2 Milliarden Euro, was einem Minus von 12,2 Milliarden oder 20,6 Prozent entspricht.“ (2)
Sachsen hatte am meisten zu verlieren. Dem Handelsblatt-Bericht zufolge ging der Warenaustausch zwischen Sachsen und Russland insgesamt um 70,8 Prozent zurück. Der Vorsitzende des Ost-Ausschusses, Oliver Hermes, führt den Rückgang des Russlands-Handels zum Teil darauf zurück, dass viele Unternehmen in Ostdeutschland, besonders im Maschinenbau, traditionell stark in Russland engagiert seien. „Dazu kommen umgekehrt größere Engagements russischer Unternehmen in Ostdeutschland, zum Beispiel in Raffinerien oder im Pipelinebau“, sagte Hermes der Deutschen Presse-Agentur. Der Ausschuss habe sich von Anfang an kritisch gegenüber weiteren Sanktionen geäußert, sagte er weiter. So warnte der Ausschuss beispielsweise vor der Initiative, das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 zu stoppen. Aus Sicht des Ausschusses werde die Pipeline neben Arbeitsplätzen auch zum regionalen Steueraufkommen beitragen.
Um die Bedeutung der Kontakte mit Russland für Ostdeutschland zu unterstreichen, zitiert das Handelsblatt die Meinung der ostdeutschen Regierungschefs, die sich einstimmig für die Fertigstellung des Gaspipeline-Projekts Nord Stream 2 ausgesprochen haben: „Das Projekt sei wichtig für die Energieversorgung der Zukunft in Deutschland und Europa, hieß es in einem Papier, das die sechs Ministerpräsidenten am Freitag vergangener Woche bei einem Treffen in Berlin einstimmig verabschiedeten. Die Fertigstellung der Ostsee-Pipeline sei weiterhin richtig und sinnvoll.“
Die normalen Beziehungen zu Russland sind daher für die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands von entscheidender Bedeutung. Das wissen natürlich auch die potenziellen Wähler in Sachsen und den anderen neuen Bundesländern. Die Haltung der Sachsen zur Wirtschaftspolitik der Ampel-Regierung, die zu einem völligen Abbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland führt, ist leicht vorhersehbar: Diese Politik kann keine Unterstützung bekommen, weil sie Ostdeutschland am stärksten trifft. Kurzum, der Faktor „Russland“ spielt auch hier eine überragende Rolle, was sich sicherlich auf den Ausgang der Wahlen am 1. September 2024 auswirken wird.