Make Germany great again

Dabei geht es sicher nicht darum, Donald Trumps Slogan „Make America Great Again“ einfach zu kopieren: Die Idee, Deutschlands imperiale Ambitionen heute wieder aufleben zu lassen, kann nur in den Köpfen der verzweifelten Revanchisten entstehen. Aber über welche Alternative für das rapide abwärts rutschende Deutschland können wir dann reden, wenn es denn wirklich eine Alternative sein muss? Denn die Behauptung, dass Sie eine Alternative zu dem darstellen, was die deutsche Regierung heute tut, reicht nicht aus, damit die Wähler Ihnen glauben. Die Menschen werden schnell von Ihnen enttäuscht sein, wenn sich herausstellt, dass Ihre Alternative nur eine kosmetische Verbesserung dessen ist, was die Regierung heute ist. Es reicht auch nicht aus, die drei Schlagworte „Russland, Vernunft und Gerechtigkeit“ zu nennen, um die Sympathien der Ostdeutschen (nach dem Vorbild von Bündnis Sahra Wagenknecht) zu gewinnen und gleichzeitig deren Forderung nach einer Alternative zu erfüllen. Es muss etwas Großartiges geben, das sich grundlegend von dem unterscheidet, was Deutschland in den letzten Jahrzehnten getan hat und das Land in eine tiefe wirtschaftliche und politische Krise geführt hat. Was genau?

In ihrem Grundsatzprogramm für Deutschland (April-Mai 2016) positionieren sich die Ideologen der AfD als liberalkonservative Demokraten. Die Präambel des Programms beginnt mit den Worten: „Wir sind Liberale und Konservative. Wir sind freie Bürger unseres Landes. Wir sind überzeugte Demokraten.“(1)

Die liberalen Einstellungen der Partei spiegeln sich vor allem in den Grundsätzen des Freihandels wider, die auf wirtschaftlicher Vernunft beruhen und Sanktionen jeglicher Art ablehnen. In dem Programm heißt es: „Zentrale Prinzipien unserer wirtschaftspolitischen Leitlinien sind Eigentum, Eigenverantwortlichkeit und freie Preisbildung. Internationaler Handel ist die Grundlage unseres Wohlstands und des friedlichen Miteinanders. Wirtschaftliche Sanktionen halten wir grundsätzlich für falsch.“ Daraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, mit der ganzen Welt, einschließlich der USA und Russlands, in Freundschaft zu leben, wofür Deutschland in seinen besten Zeiten bekannt war: „Der ‚Kalte Krieg‘ ist vorbei. Die USA bleiben unser Partner. Russland soll es werden. Die AfD setzt sich deshalb für ein Ende der Sanktionen und eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland ein.“

Die konservativen Ansichten der Partei spiegeln sich in ihrem Festhalten an der Tradition wider: „Wir sind offen gegenüber der Welt, wollen aber Deutsche sein und bleiben. Wir wollen die Würde des Menschen, die Familie mit Kindern, unsere abendländische christliche Kultur, unsere Sprache und Tradition in einem friedlichen, demokratischen und souveränen Nationalstaat des deutschen Volkes dauerhaft erhalten.“ In einer besonderen Linie unterstreicht die Partei ihr Engagement für die Werte der traditionellen Familie: „Die Alternative für Deutschland bekennt sich zur traditionellen Familie als Leitbild. Ehe und Familie stehen nach dem Grundgesetz zu Recht unter dem besonderen Schutz des Staates.“

All dies zusammen wird als eine Rückkehr zu den traditionellen demokratischen Grundsätzen verstanden: „Als freie Bürger treten wir ein für direkte Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft, Subsidiarität, Föderalismus, Familie und die gelebte Tradition der deutschen Kultur. Denn Demokratie und Freiheit stehen auf dem Fundament gemeinsamer kultureller Werte und historischer Erinnerungen.“ All dies muss jedoch noch verteidigt werden: „Wir setzen uns mit ganzer Kraft dafür ein, unser Land im Geist von Freiheit und Demokratie grundlegend zu erneuern und eben diesen Prinzipien wieder Geltung zu verschaffen.“ Die Zukunft Europas betrachtet die Partei auch unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung von Traditionen: „In der Nachfolge der beiden Revolutionen von 1848 und 1989 artikulieren wir mit unserem bürgerlichen Protest den Willen, die nationale Einheit in Freiheit zu vollenden und ein Europa zu schaffen, dessen souveräne demokratische Staaten einander in Frieden, Selbstbestimmung und guter Nachbarschaft verbunden sind.“

Aber Konservatismus, Liberalismus, das Festhalten an den Prinzipien der direkten Demokratie geben ebenso wenig das Recht, sich als Alternative zu bezeichnen wie der Appell an eine harte Migrationspolitik, die Verteidigung der Leitkultur gegen Multikulturalismus, die Priorisierung nationaler Interessen gegenüber globalen Projekten und vieles mehr, was bis vor kurzem noch Gegenstand der Wahlforderungen der Christdemokraten war – bis ihre konservativen Grundsätze bei der Bildung von Koalitionsregierungen in der politischen Zweckmäßigkeit untergingen. Auch der Wunsch nach guten Beziehungen zu den Nachbarn, einschließlich Russland, ist nichts Neues. Was ist also die Alternative?

Es ist bemerkenswert, dass das Programm der AfD nicht so sehr auf die kurze Nachkriegsgeschichte Deutschlands zurückgreift, sondern auf die gesamte deutsche Geschichte, die sich wie in jedem anderen Land nicht auf einen bestimmten Zeitraum beschränken lässt. Diese Haltung zur Geschichte kommt im Programm der Partei klar zum Ausdruck: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“

Im Allgemeinen, und nicht nur in der kurzen Nachkriegsgeschichte Deutschlands, kann man stolz auf den Beitrag sein, den es zur Entwicklung der Weltkultur, des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und der europäischen Demokratie geleistet hat. Auch die Errungenschaften der Ostdeutschen nehmen einen würdigen Platz in der allgemeinen und nicht in der kurzen Nachkriegsgeschichte ein. Dies ist vielleicht der Hauptgrund für den Erfolg der AfD in den neuen Bundesländern. Die allgemeine, nicht kurze, deutsche Geschichte, auf die sich die Partei stützt, gibt den Ostdeutschen die Chance, ihren Platz im Aufbau eines neuen Deutschlands zu finden, stärkt ihr Selbstbewusstsein und macht sie zum Subjekt der neuen Geschichte.

In der gemeinsamen Geschichte Deutschlands, die 1945 unterbrochen wurde, scheint die Grundlage für die zukünftige Einheit der deutschen Gesellschaft zu liegen. Den westdeutschen Politikern, die 1989 die Verantwortung für den Aufbau eines neuen Deutschlands übernahmen, ist es nie gelungen, auf dem Weg dorthin greifbare Fortschritte zu erzielen. Der pro-amerikanische Westen, der sich als Sieger des Kalten Krieges sah, versäumte es, den ehemals prosowjetischen Osten in sein System zu integrieren und die Ostdeutschen so demokratisch zu machen, wie sich die Westdeutschen selbst sehen. Das 1989 von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama angekündigte Ende der Geschichte ist nicht eingetreten; der Versuch, in einem vereinigten Deutschland eine Demokratie nach westlichem Vorbild aufzubauen, ist eindeutig gescheitert. Es gab eine Nachfrage nach alternativer Politik, die zu Protestbewegungen, zu friedlichen Montagsdemonstrationen in Dresden im Rahmen der PEGIDA-Bewegung und schließlich zu einer alternativen Partei für Deutschland führte.

Man könnte sagen, dass die Logik einer echten Alternative für Deutschland gerade darin besteht, die Logik zu überwinden, die die Politik der BRD nach 1945 und – nach der friedlichen bürgerlichen Revolution 1989 – die westliche Politik in Ostdeutschland bestimmt hat. Das ist keine leichte Aufgabe, denn die westdeutsche Politik ist seit langem vom Transatlantizismus und dem amerikanischen Programm „Re-Education“ geprägt, das tief in das Bewusstsein und die Weltanschauung der Westdeutschen eingedrungen ist. Es ist nicht leicht, die Logik dieser beiden Überbleibsel des Kalten Krieges in kurzer Zeit zu überwinden. Die sächsische Revolution im September 2024 ist daher nur der Anfang eines langen Weges hin zu einem neuen, alternativen Deutschland.

Im Schatten des amerikanischen Programms zur Umerziehung der Deutschen

Das Programm re-education wird im Allgemeinen mit der Umerziehung der Deutschen in Verbindung gebracht und konzentriert sich auf Erziehungsmethoden. Das heißt: „Mit der Re-Education verfolgten die Alliierten in der Nachkriegszeit das Ziel, Deutschland vom nationalsozialistischen Gedankengut zu lösen und demokratisch zu erziehen. Zum Aufbau eines demokratischen Systems nutzten die Besatzungsmächte Bildung, Medien und Kultur. Die Re-Education war Teil der Entnazifizierung und geriet durch den aufkommenden Ost/West-Konflikt ab 1949 in den Hintergrund.“ (2)

Der Demokratieexperte Paul Nolte sieht das Programm in einem größeren Zusammenhang. Ausgangspunkt für das Programm war das Potsdamer Abkommen (August 1945), in dem die Grundsätze der politischen Neuordnung Deutschlands festgelegt wurden, die als „vier D“ bekannt sind: Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung (einschließlich einer Dekartellisierung der Wirtschaft) – und Demokratisierung.

Es war noch eine – die fünfte Position „D“, und zwar die „Deindustrialisierung“ Deutschlands, um die neue führende wirtschaftliche Führungsrolle des Landes zu verhindern. Die berühmten „Direktive JCS 1067“ vom April 1945 ordnete z. B. an, dass die Besatzungsgruppe außer zugunsten übergeordneter Zwecke keine Schritte unternehmen durften, „die (a) zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands führen könnten oder (b) geeignet sind, die deutsche Wirtschaft zu erhalten oder zu stärken.“ (3) Diese Direktive wurde übrigens nicht durchgesetzt: Sie würde den Interessen der USA angesichts der bevorstehenden Konfrontation mit der Sowjetunion zuwiderlaufen.

Die vier „D“ (Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und Deindustrialisierung) sind relativ selbsterklärend. Aber was bedeutet „Demokratisierung“? Nolte schreibt: „In der sowjetischen Zone übernimmt eine Gruppe von Kommunisten um Walter Ulbricht, die das Exil in Moskau verbracht hatten, die Initiative. Schließlich entsteht, unter sowjetischer Kontrolle und Vorherrschaft, am 7. Oktober 1949 die „Deutsche Demokratische Republik“. Sie war nach ihrem Selbstverständnis und nach ehrlicher Überzeugung vieler ihrer Gründer die angemessene demokratische Antwort auf den Nationalsozialismus und seine vermeintlichen Wurzeln im bürgerlichen Kapitalismus. In den Westzonen geben die Amerikaner den Ton an. Sie setzen auf eine demokratische re-education, auf ein Umerziehen der Deutschen zu Demokraten im westlich-liberalen Sinne.“ (4)

Natürlich waren nicht alle Deutschen von der Etablierung amerikanisch kontrollierter demokratischer Medien begeistert, ebenso wenig von einer langfristigen proamerikanischen Kulturpolitik. „Aber, so Nolte, auf lange Sicht erweisen sich die Westdeutschen als gelehrige Schüler, auch was den demokratischen Lebensstil und eine neue Lockerheit der Umgangsformen betrifft“. Doch der direkte Einfluss der Alliierten bleibt begrenzt: „Das Beamtenrecht, die Sozialversicherungssysteme, der Föderalismus und vieles mehr bleiben überwiegend in der deutschen Tradition des Kaiserreichs und Weimarer Republik“, schreibt Nolte und ergänzt auf die Frage, ob die Alliierten 1945 die Demokratie nach Deutschland gebracht haben: „Ein alliiertes Oktroi ist die Demokratie der Bundesrepublik deshalb nie gewesen.“ (5)

Das ist nicht verwunderlich: Deutschland hat sich immer aktiv an der Gestaltung der europäischen Demokratie beteiligt, und zwar mit einem eigenen Schwerpunkt. Nolte verbindet diesen besonderen Weg der deutschen demokratischen Entwicklung mit der ewigen „Deutschen Frage“, die unmittelbar mit der Suche Deutschlands nach einem deutschen Sonderweg zusammenhängt. Er schreibt: „Vor hundert Jahren hätte man eher mit Stolz auf eine Besonderheit der deutschen Kultur hingewiesen, die sie angeblich vom ‚Westen‘ unterschied. Damit meinte man schon damals den Nachbarn (und „Erbfeind“) Frankreich, England und die Vereinigten Staaten von Amerika: die Länder mit demokratischem Selbstverständnis und liberalen politischen Kultur, die zugleich die Konkurrenten des Deutschen Reiches auf den Weltmärkten und beim Kampf um einen Platz in der Weltpolitik waren. Ihre politische Verfassung, ihre ganze Kultur galt als oberflächlich. Sie hatten vielleicht „Zivilisation“, aber echte Kultur, im tiefen und philosophischen Sinne, besaßen doch nur die Deutschen! So formulierten es Professoren und Bildungsbürger am Beginn des Ersten Weltkriegs und setzen die deutschen „Ideen von 1914“ gegen die westlichen „Ideen von 1789“, denen sie sich haushoch überlegen fühlten.“ (6)

Der Streit zwischen den „Ideen von 1789“ und den „Ideen von 1914“ spiegelt den inneren Konflikt zwischen Ost und West wider, der auch heute, nach der deutschen Wiedervereinigung, gespürt ist. Nolte schreibt: „Das vergleichsweise rückständige, ländlich-adlig dominierte, konservativ und militärisch geprägte Preußen verdrängte die mehr liberalen, städtischen, zivilen Traditionen im Westen Deutschlands.“ Die Folgen einer solchen Unterdrückung sind hinlänglich bekannt. Laut Nolte: „Die bürgerliche Revolution 1848 war gescheitert; statt Einheit in Freiheit gab es zwanzig Jahre später Einheit durch ‚Blut und Eisen‘, wie Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) es genannt hatte.“ (7)

Viele Sozialwissenschaftler und Historiker beklagen diesen „deutschen Sonderweg“ und führen ihn als einen der Hauptgründe für das Scheitern der Weimarer Republik und die Machtergreifung der Nationalsozialisten an. Eigentlich sollte das amerikanische re-education diese schmerzhafte „deutsche Frage“ für immer beenden. Wie Nolte schreibt: „Umso drängender war der Impuls, die Lücke zu schließen und den Staat des Grundgesetzes, vor allem aber die Mentalität der Bevölkerung an den Standard der westlichen Alliierten heranzuführen.“ (8)

Sonderweg der deutschen Demokratie

Dennoch hat Nolte es nicht eilig, den westlichen Alliierten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg eifrig um die Umerziehung der Deutschen bemühten, die Überlegenheit bei der Entwicklung der Demokratie zuzusprechen. Er schreibt: „Inzwischen ist dieses Bild vielfach modifiziert, sogar grundsätzlich in Frage gestellt worden. „Der“ Westen lässt sich nicht über einen Kamm scheren, und auf seine demokratischen Traditionen passt kein Heiligenschein: Wie konservativ war England und wie zögernd die Ausweitung des Wahlrechts dort; wie brutal und politisch exklusiv war der Rassismus in den USA? Umgekehrt verfügte Deutschland um 1900 über starke demokratische Kraft, zum Beispiel in der Arbeiterbewegung, in den Großstädten, in einer kritischen Öffentlichkeit.“ (9)

Darüber hinaus ist für Nolte die Demokratie mehr als eine bestimmte Regierungsform, mehr als eine Theorie, politisch-soziale Bewegung oder die Rezeptur für eine Herrschaftstechnik. „Sie ist nichts Statisches, sonder ein Prozess, der in gesellschaftlicher Aushandlung, in Debatten und Konflikten vorangetrieben wird“, schreibt er und stellt nochmals fest: „Einen „Urmeter“ der Demokratie gibt es nicht.“ In diesem Sinne ist es müßig, die Suche der Deutschen nach einem eigenen demokratischen Weg, auch im Kaiserreich, abzulehnen. Wie Nolte schreibt: „Aber ohne Kenntnis des „deutschen Problem“ kann man auch in Zukunft nicht über Demokratie in Deutschland sprechen. Man versteht sonst wichtige Debatten nicht, und nicht wichtige Bücher wie Heinrich August Winklers „Der lange Weg nach Westen“. Und wenn die Deutschen in einer Krise mal wieder schnell und grundsätzlich an der Demokratie zweifeln, wo Amerikaner oder Briten oder Schweizer gelassener bleiben, kann das immer noch in alten Traditionen wurzeln.“ (10)

Die deutsche Tradition bei der Entwicklung der Demokratie passt nicht genau den englischen, französischen oder amerikanischen Traditionen. Nolte zeigt dies am Beispiel des Deutschen Reiches unter Bismarck, der sich die Vorherrschaft des monarchistischen Adels über das liberale Bürgertum verkörperte. Er schreibt: „Das Kaiserreich war ein Verfassungsstaat – keine Demokratie! Doch die Verfassung stand nicht nur auf Papier, sondern wurde respektiert. Man übte sich in rechtsstaatlichen Normen und parlamentarischen Verfahren. Auf Gesetze könnte man sich berufen, und sein Recht als Bürger auch vor Verwaltungsgerichten einklagen. Mit dem Kalkül, durch die Masse ländlicher Wähler eine konservative Dominanz zu gewährleisten, hatte Bismarck das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht für den Reichstag, das nationale Parlament, durchgesetzt. Ein moderneres Wahlrecht gab es damals kaum irgendwo auf der Welt. Überhaupt der Reichstag, der 1894 seinen prächtigen Neubau bezog: Er konnte zwar nicht mit seiner Mehrheit den Kanzler wählen und die Regierung bestimmen, entwickelte sich aber zur selbstbewussten Bühne politischer Streitkultur und Opposition gegen die Regierung.“ (11)

Im Wesentlichen geht es um den Aufbau von Demokratie durch Reformen von oben – als Prozess, der, wie es Carl Schmitt formuliert hat, auf einer Reihe von Identitäten beruht: „Identität von Regierenden und Regierten, Herrscher und Beherrschten, Identität von Subjekt und Objekt staatlicher Autorität, Identität des Volkes mit seiner Repräsentation im Parlament, Identität von Staat und jeweilig abstimmenden Volk, Identität von Staat und Gesetz, letztlich Identität des Quantitativen (ziffernmäßige Mehrheit oder Einstimmigkeit) mit dem Qualitativen (Richtigkeit des Gesetzes).“ (12)

Reformen von oben werden durch Revolutionen von unten bekämpft, wie in Frankreich 1789 und 1948, was in der Regel zu Bürgerkriegen führt. Reformen von oben statt Revolutionen von unten: Das ist der Stempel, den das Deutsche Reich zu Bismarcks Zeiten in der Geschichte der Demokratie hinterlassen hat. Diese Tradition in der Entwicklung der deutschen Demokratie ist bis heute aktuell. Nolte schreibt: „Inzwischen bedrängt uns die Frage nach der Demokratie im Kaiserreich nicht mehr so wie noch vor einer Generation. Aber von deutschem Untertanengeist und Obrigkeitsgesinnung ist bis heute öfter die Rede, und überhaupt bleiben Kultur und Selbstdeutung der deutschen Demokratie ohne Kenntnis des Kaiserreichs kaum verständlich. Seine Ambivalenz zwischen Rechtsstaatlichkeit und Autoritarismus, zwischen einer zunehmend freieren Gesellschaft und unfreier Politik finden sich woanders auch heute – ein historisches Fallbeispiel für die Gegenwart also.“ (13)

Vielleicht liegt in der historischen Betrachtung der deutschen Demokratie die Hauptquelle des Konflikts zwischen der offiziellen Politik und der von der AfD angebotenen Alternative. Für die Parteien, die das Land seit der deutschen Wiedervereinigung regieren, bleibt die Demokratie, die sich in Westdeutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt hat, grundlegend. Sie ist zu einem Ideal erhoben worden und kann nicht in Frage gestellt werden. Die Verteidigung einer solchen Demokratie ist zu einer Art politischem Slogan der gegenwärtigen deutschen Regierung geworden. Nolte beschreibt solches selbstlose Vertrauen der Westdeutschen in ihre Demokratie wie folgt: „In der Systemkonfrontation des Kalten Krieges und in einer Zeit noch weithin ungebrochenen Fortschrittsbewusstsein folgten die westlichen Länder der wärmenden Sonne der Demokratie. Sie war entweder selbstverständlich oder, wie in der Bundesrepublik, noch nicht selbstverständlich genug als das rettende Ufer, das man nach dem Absturz in Diktatur, Krieg und Völkermord gerade eben glücklich erreicht hatte. In jedem Fall erschient Demokratie als ein ‚Wert an sich‘, der keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte.“ (14)

Doch schon bald nach dem Ende des Kalten Krieges schoben sich schwarze Wolken über die wärmende Sonne der westlichen Demokratie. Wie Nolte hervorhebt: „Die Zukunft demokratischer Regierungssysteme wird auch davon abhängig, wie viel Zustimmung und Unterstützung sie in der Bevölkerung erfahren können. Am Beginn des 21. Jahrhundert ist diese Frage wieder offener geworden als sie einige Jahrzehnte früher schien.“ Und, so Nolte, es sei unmöglich, das eine oder das andere Regierungssystem zu bevorzugen, wenn es um die Grundversprechen der Demokratie geht, nämlich um Freiheit, Sicherheit, materiellen Wohlstand und ein Glücksgefühl für möglichst viele Menschen. Die Demokratie sieht sich einmal mehr mit ihren inneren Widersprüchen konfrontiert und weiß nicht, was sie bevorzugen soll: kollektive oder individuelle Perspektiven, liberale oder republikanische Traditionen, positive Freiheit „für etwas“ oder negative Freiheit „von etwas“, usw. (15)

Die Programmlogik der AfD weist darauf hin, dass die Politik der Partei nicht auf der kurzen Geschichte der deutschen Demokratie von 1945 bis 1990 basiert, sondern auf ihrer gesamten Geschichte, einschließlich der demokratischen Transformationen im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Die Berufung auf die beiden Revolutionen von 1848 und 1989 unterstreicht die Neigung der AfD für eine friedliche Lösung der gesellschaftlichen Konflikte im Sinne Bismarcks – durch Reformen von oben. Mit der Forderung nach Direktwahl des Präsidenten und einer klareren Gewaltenteilung kehrt die Partei zur Verfassung der Weimarer Republik zurück. Und so weiter. Offenbar haben die Ideologen der AfD den Kern der Krise der deutschen Demokratie erkannt: den überfälligen Konflikt zwischen der Suche Deutschlands nach einem eigenen Weg der Demokratieentwicklung und der Demokratie, die Westdeutschland von den Amerikanern geerbt hat. Und generell sind viele Punkte des AfD-Programms eine direkte Einladung zu einer allgemeinen Diskussion über die Art von Demokratie, die Deutschland braucht.

Die Suche nach dem eigenen demokratischen Weg führt unweigerlich zu den Ideen der Konservativen Revolution, wenn mit dieser Revolution die Suche deutscher Denker nach der Weiterentwicklung Deutschlands nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg gemeint ist. Dass einige der Ideen der Konservativen Revolution vom NS-Regime zur Erreichung seiner Ziele genutzt wurden, schmälert nicht die Bedeutung des geistigen Erbes der Konservativen Revolution. Darin liegt vielleicht der Hauptnerv der deutschen Frage – die Suche Deutschlands nach seinem Platz in der neuen Welt. Kurz zu sagen, genau die Frage, die in Westdeutschland im Rahmen des Programms „Vier-D“ unter ideologische Quarantäne gestellt wurde, die aber nach der Vereinigung von West- und Ostdeutschland mit neuem Leben erfüllt wurde. Die Position der AfD in dieser Frage ist mehr als eindeutig: völlige Unabhängigkeit von ausländischer Einflussnahme. „Wir stehen für die Freiheit der europäischen Nationen von fremder Bevormundung“, heißt es im Programm der Partei.

Im Griff der Transatlantismus

Je weniger Transatlantismus, desto mehr europäische und damit deutsche Unabhängigkeit. Diese einfache Formel für das Verhältnis zwischen Nordamerika und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich bewährt und ist mit der Eskalation des Konflikts in der Ukraine deutlich geworden.

Seinen Ursprung nimmt der Transatlantismus (auch Atlantismus) von Atlantik-Charta: einer gemeinsamen Erklärung damaligen Regierungschefs der USA, Franklin D. Roosevelt, und Großbritanniens, Winston S. Churchill am 14. August 1941, die als Anstoß für die neue internationale Politik unter der „Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt“ initiiert wurde. Im Kalten Krieg bezeichnete Transatlantismus die enge politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Kooperation zwischen Westeuropa und den USA, in der Konkurrenz mit dem sowjetischen Block und der kommunistischen Ideologie.

Der Transatlantismus wurde zum Programmdokument der westlichen Eliten in ihrer Konfrontation mit der Sowjetunion. Sie haben verschiedene Denkfabriken, Bündnisse, Clubs, Medien usw. zu ihren Diensten gerufen, die die Qualität ihrer „Regierbarkeit“ erhöhen müssen. Zu den bekanntesten und einflussreichsten unformalen Organisationen des Westens gehören u. a. Club of Rom, Trilaterale Kommission, Denkfabrik CFR (Council on Foreign Relations), Bilderberg-Konferenzen und Konferenz in Davos. Die international aufgebauten Institute wie die UNO, G7 oder INF (Internationaler Währungsfonds) sind zur Arena der Konkurrenz zwischen beiden Weltsystemen – westlichen und sowjetischen – geworden.

Die amerikanische Institutionalisierung der westdeutschen Politik erfolgte durch zahlreiche Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen, Vereine und andere Organisationen, die die Verbindungen zwischen der US-Politik und der westdeutschen Politik stärken und ausbauen sollten. Das Programm re-education spielte hier eine wichtige Rolle: in der Presse, in der Politik, im Bildungswesen, in der Kultur und in vielen anderen Bereichen des Lebens. Die Bedeutung von Organisationen wie der Atlantik-Brücke e. V. und der Amadeu Antonio Stiftung für die öffentliche Meinungsbildung und die politische Entscheidungsfindung ist heute ein heiß diskutiertes Thema.

„Volk ist ein Begriff des öffentlichen Rechts. Volk existiert nur in der Sphäre der Publizität.“ Dieses berühmte Axiom von Carl Schmitt definiert die enorme Rolle der Medien bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen Amerika und Europa. Die größten Zeitungen wie Der Spiegel, der Stern, Die Zeit oder Sonntagsblatt gelten in Deutschland als Säulen des Transatlantismus. Die Welt und die Bild legen ihren Mitarbeitern als Bestandteil der Axel Springer SE sogar ein Bekenntnis zu deren Grundsätzen auf, darunter die „Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.“ (16)

In seinem Buch „MAINSTREAM. Warum wir den Medien nicht mehr trauen“ (2014) zeigt Uwe Krüger das wahre Gesicht der deutschen Medien auf. Es könnte, so Krüger, viele Journalisten genannt werden, die „aus staatsbürgerlicher Pflicht“ in den verschiedenen Gremien sitzen und die Öffentlichkeit gegebenenfalls beeinflussen. Zu solchen Gremien gehört z. B. der Beirat des Vereines „Atlantische Initiative“, der die Verständigung zwischen Deutschland und den USA fördert; oder Präsidium der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, die sich als gemeinnützige Verein zur Aufgabe gemacht, „das Verständnis für die Ziele des Atlantischen Bündnisses zu vertiefen und über die Politik der Nato zu informieren“ – also Lobbyarbeit für das stärkste Militärbündnis der Welt zu machen; oder Atlantik-Brücke, dieser 500 Mitglieder starken elitären Verein, der den deutschen und amerikanische Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik, den Streitkräften, der Wissenschaft, den Medien und Kultur die Rahmen für vertrauliche Gespräche anbietet, aber auch Nachwuchsführungskräfte unterstützt, die auf den ‚Young Leaders’ – Konferenzen Netzwerke schmieden und den transatlantischen Dialog in der kommenden Generationen lebendig halten sollen. (17)

Die außenpolitischen Debatten in Deutschland haben also „einen merkwürdigen amerikanischen Akzent“. Diese amerikanische Perspektive ist aber legitim, weil sie eine von vielen möglichen Sichtweisen auf die Welt ist. Vielleicht sind die Verbindungen der Journalisten zu den Denkfabriken, Eliten-Konferenzen, Vereinen und Lobbyorganisationen auch deshalb erst entstanden, weil schon vorher eine geistige Nähe und gemeinsame Wertvorstellungen vorhanden waren. SZ-Ressortleiter Kornelius war jahrelang Washington-Korrespondent, Zeit-Mitherausgeber Joffe hat in Amerika studiert, promoviert und gelehrt. FAZ-Außenpolitikchef Frankenberger hat in jungen Jahren Amerikanistik studiert und bei einem Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus gearbeitet. Aus diesem Grund ziehen es viele Politiker und Journalisten offenbar vor, in der Ukraine-Frage nicht prorussisch zu argumentieren, um den Antiamerikanismus nicht zu schüren und die wachsende „Russophilie“ der deutschen Bevölkerung nicht zu unterstützen. „Mainstream geht aus dem Atlantismus heraus und heißt Russenfeindlichkeit“, so könnte kurz Krügers Hauptthese formuliert werden. (18)

Die europäischen Politiker müssen stets auf die Agenda in Washington schauen, um nicht in Ungnade zu fallen. Sie können für ihre Unabhängigkeit bestraft werden, wie es zum Beispiel beim französischen Präsidenten Charles de Gaulle der Fall war, der von den Amerikanern die Rückgabe der französischen Goldreserven an sein Heimatland verlangte und sein eigenes Konzept der europäischen Entwicklung vorschlug. Nach französischer Vorstellung kann das zentrale Ziel eines geeinten und unabhängigen Europas dadurch erreicht werden, dass die Vereinigung Europas mit dem allmählichen Abbau der amerikanischen Vorrangstellung auf dem Kontinent einhergeht. Die Schaffung eines authentischen Europas – mit den Worten Charles de Gaulles vom Atlantik bis zum Ural – sollte diesen beklagenswerten Zustand beheben. Natürlich standen die Absichten von Charles de Gaulle im Widerspruch zu den amerikanischen Interessen, und die Tage seiner Präsidentschaft waren gezählt.

Das Konzept eines Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok

Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte die Idee von Charles de Gaulle eine reale Entwicklung erfahren, nun aber nicht nur in Form eines Großen Europa vom Atlantik bis zum Ural, sondern auch als Kulturraum von Lissabon bis Wladiwostok. Auch Russland ist an der Schaffung eines solchen Europas interessiert, wie Wladimir Putin in seinem Artikel für Zeit Online zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion schrieb. Allerdings musste er mit Bedauern feststellen, dass eine solche Chance zunächst verpasst wurde. Er schrieb: „Wir hofften, dass das Ende des Kalten Krieges einen Sieg für ganz Europa bedeuten würde. Nicht mehr lange, so schien es, und Charles de Gaulles’ Traum vom geeinten Kontinent würde Wirklichkeit werden, und das weniger geografisch vom Atlantik bis hin zum Ural als vielmehr kulturell und zivilisatorisch von Lissabon bis Wladiwostok. Gerade in diesem Sinne – in der Logik der Gestaltung eines Großen Europas, das durch gemeinsame Werte und Interessen zusammengehalten würde – wollte Russland seine Beziehungen zu den Europäern aufbauen. Sowohl wir als auch die Europäische Union konnten auf diesem Wege viel erreichen. Es setzte sich jedoch ein anderer Ansatz durch. Diesem lag die Erweiterung der Nordatlantischen Allianz zugrunde, die selbst ein Relikt des Kalten Krieges war. Denn geschaffen war sie ja zur Konfrontation aus der damaligen Zeit heraus. Die Grundursache des zunehmenden gegenseitigen Misstrauens in Europa lag im Vorrücken des Militärbündnisses gen Osten, das im Übrigen damit begann, dass die sowjetische Führung de facto überredet wurde, dem Nato-Beitritt des geeinten Deutschlands zuzustimmen. Die damaligen mündlichen Zusagen nach dem Motto „Das ist nicht gegen euch gerichtet“ oder „Die Blockgrenzen werden nicht an euch heranrücken“ wurden nur allzu schnell vergessen. Der Präzedenzfall wurde geschaffen.“ (19)

Nach dem Kalten Krieg wurde für Europa ein anderes geopolitisches Szenario entworfen, als dessen Urheber der amerikanische Politikwissenschaftler Zbigniew Brzezinski gilt. Die wichtigsten Thesen dieses Szenarios hat er in seinem Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, das 2015 auf Deutsch erschienen ist. Durch eine glaubwürdigere transatlantische Partnerschaft, so Brzezinski, muss der Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden, dass ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werden kann, von dem aus sich eine internationale Ordnung der Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten lässt. Dabei erweitert ein größeres Europa den Einflussbereich Amerikas und erhöht mit der Aufnahme neuer Mitglieder aus Mitteleuropa in den Gremien der Europäischen Union auch die Zahl der Staaten, die den USA zuneigen. Außerdem ist ein wirklich geeintes Europa ohne einen gemeinsamen Sicherheitspakt mit den USA in der Praxis kaum vorstellbar. Daraus folgt, dass Staaten, die Beitrittsgespräche mit der EU aufnehmen wollen, und dazu eingeladen werden, in Zukunft automatisch unter den Schutz der NATO gestellt werden sollten. Dies könnte sich für die Stabilität in Eurasien und somit für Amerikas eigene Interessen als fatal erweisen. Eine amerikanische Geostrategie gegenüber Europa bestand also darin, sie als demokratischer Brückenkopf Amerikas – durch NATO- und EU-Osterweiterung – zu festigen. (20)

Das Konzept eines Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok passt natürlich nicht in das amerikanische Szenario. Das war schon bei der deutschen Wiedervereinigung klar. Die Ostorientierung Deutschlands, die seit Willy Brandts neuer Ostpolitik tief verwurzelt ist, ganz zu schweigen von den anhaltend engen Beziehungen zwischen Ostdeutschland und Moskau, könnte die geopolitischen Pläne Amerikas in Eurasien untergraben. Und genau das ist geschehen: Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland verlief etwas anders, als es sich die Amerikaner vorgestellt hatten. Pragmatismus und wirtschaftliche Vernunft setzten sich gegenüber der politischen Doktrin des Transatlantismus durch. Die Demokratisierung Russlands hat nicht mit dem Wachstum der wirtschaftlichen Verflechtungen, insbesondere im Energiebereich und bei der technischen Umstrukturierung der russischen Industrie, Schritt gehalten. Im Jahr 2012 betrug den deutsch-russische Warenverkehr mehr als 80 Milliarden Euro (im gesamten Jahr 2023 bezog Deutschland aus Russland nur noch Waren im Wert von 3,7 Milliarden Euro), während die Demokratisierung Russlands ins Stocken geraten ist, was zu dem Begriff der „Gelenkte Demokratie“ geführt hat. Unter Schröder konnte man sogar von einer politischen Annäherung und der Wiederbelebung der Idee eines Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok sprechen. (21)

Die Pläne der amerikanischen Strategen, Russland schnell und erfolgreich in den Schoß der westlichen Demokratie zu integrieren, scheiterten. Außerdem hat Deutschland seine Hartnäckigkeit bewiesen – zu Schröders Zeiten durch die Weigerung, sich am Irak-Krieg zu beteiligen, und zu Merkels Zeiten, indem es die Pläne der USA, Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen, bereits 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest vereitelte. Ein solches Deutschland passte den USA nicht, vor allem nicht mit dem Aufstieg des Demokraten Biden, der die Verantwortung für die Verteidigung der westlichen Demokratie und die Wiederherstellung der während der Trump-Präsidentschaft verloren gegangenen Rolle des Transatlantismus übernahm.

Deutschland hat es auf die Liste der unzuverlässigen Partner geschafft. Besonders deutlich wurde dies nach dem Ende der Ära Merkel: Es kam eine Regierung an die Macht, die sich der eigentlichen Agenda Washingtons gegenüber aufgeschlossener zeigte. Die deutsche Industrie, die Grundlage der wirtschaftlichen Autarkie Deutschlands, litt am meisten. Zahlreiche Sanktionen, die Einschränkung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und schließlich die Unterminierung von Nord Stream sind allesamt Glieder derselben Kette. In Deutschland hat der Prozess der Deindustrialisierung begonnen, der die Umwandlung der deutschen Gesellschaft in eine westliche Gemeinschaft vollenden soll, und zwar erst jetzt im Rahmen der „fünf D“: Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung, Demokratisierung und Deindustrialisierung. Amerika braucht kein wirtschaftlich starkes Deutschland mehr, das während des Kalten Krieges als Schaufenster für die Errungenschaften der westlichen Demokratie diente. Sie hat eine neue Rolle zu spielen: Sie soll das Flaggschiff des Transatlantismus im Kampf gegen ein widerspenstiges Russland werden.

Großes Europa statt Transatlantismus

Die Suche nach einer Alternative für Deutschland hat weiteren Auftrieb erhalten. Die AfD hat ihre Außenpolitik auf das Konzept eines Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok ausgerichtet und sich damit gegen die Transatlantiker gestellt. Kurz gesagt, bedeutet dies: „Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok, gegründet auf Frieden und freien Handel, mit gesicherten Außengrenzen, restriktiver Migrationspolitik und guten Beziehungen zu allen Ländern Europas – auch zu Russland.“ Im Einzelnen bedeutet dies die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland („Sanktionen gegen Russland schaden deutscher Wirtschaft“), Beendigung der Kriegstreiberei („Ein Europa des Friedens – nicht der Kriegstreiber!“), die Verteidigung der nationalen Interessen („Wir müssen unsere eigenen, deutschen Interessen berücksichtigen“) und viele andere Dinge, die der Agenda Washingtons zuwiderlaufen. (22)

Es ist immer noch eine Zukunftsvision, aber sie basiert auf dem Prinzip der von Willy Brandt eingeleiteten Entspannungspolitik, die ganz reale Ergebnisse gebracht hat. Das Konzept eines Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok bedarf kaum eines Arguments, um seine wirtschaftliche und politische Vernunft zu beweisen. Es genügt, an das Projekt „Freihandel von Lissabon bis Wladiwostok: Wem nutzt, wem schadet ein eurasisches Handelsabkommen?“ zu erinnern, das das ifo Institut 2015 und 2016 im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt hat. Die Schlussfolgerung des Instituts ist unzweideutig: „Der Handel zwischen der EU und Russland ist derzeit durch Sanktionen des Westens gegen Russland und gegenseitige Embargo-Maßnahmen schwer belastet, ohne dass eine sichtbare Veränderung der geostrategischen Ausrichtung Russlands erreicht wurde. Vielleicht erfordert ein Interessenausgleich weniger Strafmaßnahmen, sondern eher die Perspektive auf vertiefte wirtschaftliche Kooperation. Sowohl die EU als auch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sollten großes Interesse an einer Freihandelszone „von Lissabon bis Wladiwostok“ haben, weil die Strukturen ihrer komparativen Vorteile stark komplementär zueinander sind. Für Russland könnte ein tiefgreifendes Abkommen zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft einen Zuwachs der realen Pro-Kopf-Einkommen um 3% bringen; für Deutschland um 0,2%. Das bedeutet ein Einkommenszuwachs von 235 Euro pro Kopf und Jahr für Russland und 91 Euro für Deutschland. Damit könnten Russland und die anderen Länder der ehemaligen Sowjetunion interessante Partner für eine vertiefte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU sein. Die EU sollte an einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft größtes Interesse haben. Außerdem verspricht die komplementäre Spezialisierungsstruktur dieser Länder substantielle wirtschaftliche Vorteile auch für die EU.“ (23)

Darüber hinaus impliziert das Konzept eines Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok die Unabhängigkeit der Europäischen Union und nicht die Entführung Europas – jetzt nicht durch Amerika, sondern durch Eurasien. Nur seine glühenden Gegner können in diesem Konzept eine Bosheit erkennen. Dazu gehören insbesondere diejenigen, die wie Zbigniew Brzezinski in der Idee eines Großraums Europa einen gefährlichen Konkurrenten für die amerikanische Strategie auf dem eurasischen Kontinent sehen, der Amerikas Anspruch auf die Weltherrschaft in Frage stellen könnte. Die Neigung Russland, den Eurasianismus als besondere Weltanschauung wiederzubeleben und eine Eurasische Union zu schaffen, zwang Brzezinski, nach einer Alternative zu dieser für ihn gefährlichen Entwicklung zu suchen. Er sah in der Gründung der Eurasischen Union nichts weniger als eine Wiederbelebung des russischen Imperiums. Eine Alternative zu einem solchen Imperium könnte die Integration Russlands in eine neue transeurasische Sicherheitsstruktur sein – als Erweiterung des transatlantischen Sicherheitssystems. Dies könnte aber nur nach einer erfolgreichen Demokratisierung und Eingliederung Russlands in der westlichen Gemeinschaft stattgefunden werden. (24)

Brzezinskis Erzählung ist auch heute noch aktuell. Dies beweist die Veröffentlichung des Artikels „Herrschaft von Lissabon bis Wladiwostok“, der am 6. Juli 2022 in der Zeitung der Universität zu Köln veröffentlicht wurde. Der Autor des Artikels sah in den philosophischen Lehren der russischen Emigranten über den Eurasianismus eine faschistische Ideologie. „Von einer obskuren Ideologie russischer Exil-Intellektueller zum faschistischen Kampfbegriff“, so lautet der Untertitel des Artikels. Auch hier geht es um den Wunsch Russlands, das russische Imperium auf der Grundlage des Eurasianismus wiederzubeleben, jetzt aber als faschistisches Projekt. (25)

Eine andere Auffassung vertrat einst Bundeskanzlerin Angela Merkel. So sagte sie auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2015: „Es wäre wünschenswert, auf der Basis des Minsker Abkommens erst einmal eine gewisse Stabilität herzustellen und dann in einem größeren Rahmen zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Union zu überlegen, welche Kooperationsmöglichkeiten haben wir in einem Wirtschaftsraum, der ja selbst von Präsident Putin benannt wurde, von Wladiwostok bis Lissabon, zu kooperieren. Das muss ja unser Ziel sein.“ Zu dieser Zeit, unter dem 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, konnte die Belebung der Idee einer Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Union noch möglich. Dies könnte passieren, wenn der US-Regierung die Entspannungspolitik mit Russland wichtiger wäre als die Aufrechterhaltung enger transatlantischer Beziehungen zwischen der EU und den USA. Außerdem könnte der freie Handel in dem riesigen Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok die Grundlage für den Frieden in der Ukraine bilden. Zu einer Entspannung mit Russland ist es jedoch nicht gekommen. Die Mitarbeiter des ifo Instituts, die die Ergebnisse der Diskussion in Davos über die Idee eines größeren Europas von Lissabon bis Wladiwostok analysieren lassen, kamen zu einem Ergebnis: „Noch zeigen sich diese Überlegungen nicht im Handeln der EU. Gerade erst haben die EU-Staaten die Sanktionen gegen Russland um weitere sechs Monate bis Juni 2017 verlängert.“ (26)

Man kann sagen, dass die Position der europäischen Transatlantiker gegenüber Russland kohärenter ist als die Position Trumps. Sie diktieren auch heute noch die Bedingungen der europäischen Außenpolitik und widersetzen sich allem, was zu einer Lösung des Konflikts in der Ukraine und einer Verbesserung der Beziehungen zu Russland führen könnte. Damit steigt der Stellenwert der Idee eines Großen Europas von Lissabon bis Wladiwostok als Konzept einer alternativen Zukunft für Deutschland. Insbesondere das chinesische Seidenstraßenprojekt fügt sich harmonisch in dieses Konzept ein, ganz zu schweigen von der Wiederherstellung der verlorenen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ostdeutschland und Russland.

Wichtig ist, dass in dem Konzept eines Großen Europas kein Platz für deutschen Revanchismus ist – einfach per Definition. Damit sind alle Versuche, die AfD der NS-Ideologie zu bezichtigen, sinnlos. Der Revanchismus sollte in den Eingeweiden des westlichen Liberalismus gesucht werden, wie es zum Beispiel der Soziologe Ingar Solti tut. In einem Artikel für die Berliner Zeitung analysiert er die „Innere Zeitenwende“ in der deutschen Politik, die Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 ohne vorherige parlamentarische, geschweige denn breite gesellschaftliche Debatte ankündigte. Die Schlussfolgerung des Autors, die er in den Titel gesetzt hat, spricht für sich selbst: „Die AfD braucht keine Nazis, der liberale Deutsche hilft schon genug. Ob SPD oder Grüne: Die Gesellschaft wird rhetorisch derart nach rechts geschoben, dass die AfD nur frohlocken kann.“ (27)

Die AfD, die eine Vision von Europa von Lissabon bis Wladiwostok verkündet und gleichzeitig von Amerika die Rückgabe der deutschen Goldreserven an ihr Heimatland fordert, sieht sich einem Giganten gegenüber, dessen Name Transatlantismus ist. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Transatlantismus in Deutschland tiefe Wurzeln geschlagen. Daher wird die AfD in ihrer friedlichen Revolution keinen leichten Sieg davontragen, trotz der Unterstützung durch einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, vor allem in Ostdeutschland. Aber auch die Alternative hat einen Helfer, auf den sie sich auch in Zukunft voll verlassen kann: Es ist ihr gesunder Menschenverstand in Ideen, in Absichten, in Programmtexten. Der gesunde Menschenverstand enthält die Wahrheit, und das ist es, was die Welt vor dem Abgleiten in den Abgrund bewahren soll.

1. https://www.afd.de/grundsatzprogramm/

2. https://www.geschichte-abitur.de/lexikon/uebersicht-nachkriegszeit/re-education

3. https://de.wikipedia.org/wiki/JCS_1067#cite_ref-3

4. Paul Nolte, Die 101 wichtigsten Fragen: Demokratie, Verlag C. H. Beck, München 2015, S. 77-78.

5. Ebenda, S. 78.

6. Ebenda, S. 69.

7. Ebenda, S. 69.

8. Ebenda, S. 69.

9. Ebenda, S. 70.

10. Ebenda, S. 70, 83-84,152.

11. Ebenda, S. 72-73.

12. Ebenda, Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Erste Auflage 1923, Nachdruck Duncker & Humblot, Berlin, 2010, S. 14.

13. Paul Nolte, Die 101 wichtigsten Fragen, S. 73.

14. Paul Nolte, Was ist Demokratie?, Verlag C.H.Beck oHG, München 2012, S. 474.

15. Ebenda, S. 474-475.

16. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Duncker & Humblot, Berlin, Zehnte Auflage, S. 22; https://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Springer_SE#Grunds%C3%A4tze

17. Krüger; Uwe: MAINSTREAM. Warum wir den Medien nicht mehr trauen, Verlag C.H. Beck, München, 2016, S. 66-67, 87-100.

18. Ebenda, S. 11, 34-36, 100-101.

19. https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/ueberfall-auf-die-sowjetunion-1941-europa-russland-geschichte-wladimir-putin

20. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 107, 111, 243.

21. https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-399/328930/statistik-daten-zum-deutsch-russischen-und-eu-russischen-warenverkehr/; https://www.businessinsider.de/wirtschaft/aussenhandel-deutschland-russland-bricht-2023-um-90-prozent-ein-neue-zahlen-und-grafik/

22. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/afd-chrupalla-interview-friedenskonferenz-ukraine-100.html; https://deutschlandkurier.de/2024/06/tino-chrupalla-afd-buerokratie-normen-verbote-das-verbinden-die-meisten-buerger-mit-der-eu/

23. https://www.ifo.de/projekt/2015-11-01/freihandel-von-lissabon-bis-wladiwostok-wem-nutzt-wem-schadet-ein-eurasisches

24. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 70, 139-141.

25. https://portal.uni-koeln.de/universitaet/aktuell/koelner-universitaetsmagazin/unimag-einzelansicht/russlands-traum-einer-herrschaft-von-lissabon-bis-wladiwostok

26. https://www.ifo.de/DocDL/sd-2017-02-felbermayr-groeschl-eurasien-2017-01-26.pdf

27. https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/innere-zeitenwende-afd-braucht-keine-nazis-der-liberale-deutsche-hilft-schon-genug-li.2214494