Amerika ist die einzige, aber nicht die absolute Weltmacht: Ihr fehlt die Kontrolle über das Herz des Eurasiens, also über den riesigen Russland mit den riesigen Bodenschätzen. Russland ist das einzige Land in der Welt, das mit seinen Rohstoffen, Energieträgern, grenzenlosen fruchtbaren Erdboden und nicht zuletzt mit seinem großen wissenschaftlichen, technischen und humanen Potenzial allein und ohne jegliche Hilfe von außen existieren kann. Es ist also ein idealer „autarken Großraum“, der nach Bedarf alle Isolationen, Blockaden und Sanktionen überleben kann. Russland, dieses Herzland der Weltinsel ist unglaublich teurer Schatz der Erde, der dem Staat gehört, der etwas mehr als 140 Millionen Einwohner zählt – nur 2 Prozent der Weltbevölkerung.
Allein die Existenz solches unkontrollierten Riesen brachte den Europäer in der Beunruhigung, in der Angst und in allen Arten von Verdächtigung, die sich in Europa seit Mittelalter verbreiteten und kultivierten. Ivan der Schreckliche sollte noch schrecklicher sein als Karl der Große und Stalin nicht weniger Despot als Hitler. Die Tatsache, dass diese „gefährliche“ Riese zweimal – bei Napoleon und Hitler – den Frieden in Europa mitgebracht hatte, und dass die Russen sich selbst nicht als Aggressor, sondern als Schützer des Weltfriedens definieren, bleibt im Westen am meisten ohne Berücksichtigung. Sein größter Wunsch wäre, diesen unbotmäßigen Nachbarn zu disziplinieren und in seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einflusszone einzugliedern. Dann wäre alles in Ordnung.
Das war das Ziel des „Großen Spiels“ Briten gegen russisches Imperium, dann das Anliegen des Westens im Kampf gegen kommunistische UdSSR und nun, nach dem Zerfall der Sowjetunion, die Aufgabe Amerikas als Sieger im Kalten Krieg beim Aufbau der neuen Weltordnung. Zweimal – nach der Februarrevolution 1917 und in den 1990er Jahren – wurde dieses Ziel fast erreicht. Eine solche Aussicht war auch durchaus realistisch, als Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg als erstes Land die Atombombe baute. Aber jedes Mal scheiterten alle diese Bemühungen an Russlands Hartnäckigkeit: Zuerst Bolschewiki (ab 7. Oktober 1917), dann Stalins Regierung (nach erstem Test der Atombombe im Jahr 1949) und nun russischer Präsident Wladimir Putin (ab 1. Januar 2000) haben die westlichen Pläne zu Fall gebracht. Russland bleibt ein selbstständiges, unkontrolliertes und ungehorsames Land.
Es ist leicht zu verstehen, dass es für Russland, das sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR vom Bolschewismus befreit hat und nicht mehr den Sieg des Weltproletariats anstrebt, nur eine Bedingung gibt, um auf seinem riesigen Territorium ein friedliches und blühendes Leben aufzubauen: den Weltfrieden. Russland, mehr als alle anderen Staaten in der Welt, braucht die klaren, weltweit anerkannten und berechenbaren Regelungen und Methoden des Völkerrechtes, also eine Weltordnung, die eine Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder ausschließt. Man könnte sogar um Russlands geopolitische Mission sprechen, die darin besteht, die Machtbalance in der Welt zu fördern – als Grundprinzip der internationalen Gerechtigkeit und als eine Art der Sicherheitsgarantie für sich selbst. Zweimal hat Russland das schon demonstriert: bei Napoleon im 19. Jahrhundert und bei Hitler im 20. Jahrhundert. Heute entspricht diese geopolitische Mission am bestens – ohne Fragen! – dem Konzept der multipolaren Welt.
„Die Stabilität durch die Balance“: So könnte das Prinzip der russischen Außenpolitik genannt werden. Das nukleare Gleichgewicht bietet zuverlässige Garantien für die Harmonisierung der internationalen Beziehungen und die Beilegung regionaler Konflikte an – im Interesse aller Seiten. Russland baut freundschaftliche Beziehungen zu all jenen auf, die diesen Grundsatz anerkennen. Im Nahen Ost baut sie eine Kooperation mit Syrien, Türkei, Iran, Saudi-Arabien und Israel auf, also mit den Staaten, die nicht gut miteinander auskommen. Im Karabach-Konflikt bildet Russland eine nie gewesene Kooperation mit Armenien, Aserbaidschan, Iran und der Türkei. Dabei stellt die Russische Föderation ausdrücklich keine ideologischen Rahmenbedienungen für die Zusammenarbeit. Die kommunistische Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ ist die Geschichte, und der einzige noch lebendige ideologische Anspruch des Westens, eine westliche liberale Demokratie aufzubauen, ist Russland fremd. „Realpolitik statt liberaler Imperialismus“ – so kann man bedingt ein weiteres Prinzip russischer Weltpolitik formulieren.
Das Prinzip der Balance fördert von Russland die Entwicklung von wirtschaftlichen Beziehungen mit allen Ländern, unabhängig von jeglichen politischen Orientierungen. China, die USA oder die europäischen Länder – sie sind alle herzlich Willkommen für die Realisierung von großen und kleinen Projekten auf dem riesigen Territorium. Die Russische Föderation unterstützt gern die Tendenzen zur Herstellung der finanziellen und technischen Balance in der Welt – durch seine Finanzpolitik, die mehr Unabhängigkeit von US-Dollar voraussieht, durch die Bildungs- und Forschungsprogramme, die das Land zum einen von Reitern der vierten und den nächsten Industrierevolutionen führen sollen. Internationale Initiativen sind heute kein Vorrecht nur des Westens – eine Tatsache, die vielleicht zu schwer im Westen als die aktuelle Gegebenheit wahrgenommen ist. Zur solchen Wende in den Beziehungen „Westen-Russland“ sagte der renommierte russische Wissenschaftler Dmitri Trenin, Direktor am Moskauer Carnegie-Zentrum: „Der Westen muss aufhören, darüber nachzudenken, was gut für Russland ist, und sollte sich darauf konzentrieren, was gut für den Westen ist. Irgendwann könnte es ein überraschend großes Maß an Übereinstimmung zwischen beidem gehen“. (1)
Wladimir Putin ist heute sicherlich zum Symbol der Wende in der Weltpolitik geworden. Er kündigte diese Wende auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 an und rief dazu auf, nicht länger eine unipolare Welt unter amerikanischer Schirmherrschaft anzustreben, sondern eine multipolare Welt, die auf einem internationalen Gleichgewicht der Kräfte beruht. Die Idee der multipolaren Welt sah damals als eine utopische, von Westen scharf kritisierte Vision, die nie realisiert werden könnte. Doch heute wird multipolare Welt zur realen Alternative der Vorherrschaft Amerikas als auch zum neuen. Doch heute entwickelt sich die multipolare Welt zu einer echten Alternative zur amerikanischen Dominanz, zu einer Art des Weltgeistes der Moderne.
Carl Schmitt beschreibt solche Wende als ein „historischer Moment“, das die Politik zum Cäsarismus führt und die Politiker zum Instrument des Weltgeistes macht. In der Geschichte der politischen Ideen, schreibt Schmitt, gibt es Epochen großer Impulse und Zeiten der Windstille eines ideenlosen Status quo. Der Weltgeist fasst sich aber auf der jeweiligen Stufe seiner Bewusstheit zunächst immer nur in wenigen Köpfen. Schmitt schreibt: „Das Gesamtbewusstsein der Epoche tritt nicht mit einem Schlag bei allen Menschen und auch nicht bei allen Mitgliedern des führenden Volkes oder der führenden sozialen Gruppe auf. Immer wird es einen Vortrupp des Weltgeistes geben, eine Spitze der Entwicklung und der Bewusstheit, eine Avantgarde, die das Recht zur Tat hat, weil sie die richtige Erkenntnis und Bewusstheit hat – nicht als Auserwählte eines persönlichen Gottes, aber als Moment in der Entwicklung, aus deren Immanenz sie keineswegs heraustreten will, oder, nach dem vulgären Bilde, als Geburtshelfer der kommenden Dinge.“ Als Beispiele nennt Schmitt solche welthistorische Persönlichkeiten wie Theseus, Cäsar und Napoleon – als diejenigen, die zum einen Instrument des Weltgeistes geworden waren. „Ihr Diktat beruht darauf, dass sie im historischen Moment steht.“ (2)
Auch heute zwingt ein „historischer Moment“ voraussichtlich die Politik zum Cäsarismus und macht die Politiker zum Instrument des Weltgeistes. Chinas Staatschef Xi Jinping steht vor der gewaltigen Aufgabe, eine ehemalige Kolonie und ein großes Land zum wohlhabenden und hochmodernen Industrieimperium zu machen. Der wirtschaftliche Konflikt Chinas mit den Industrieländern und der Kampf um die Ressourcen sind zu diesem historischen Zeitpunkt unvermeidlich. Vor Recep Erdogan steht die Herausforderung, verlorenen Geist des Turans wiederherzustellen, um Status seines Landes als Regionalmacht nicht zu verlieren. Die Türkei muss daher ihre Souveränität mit besonderem Eifer gegen westliche Einmischung verteidigen. Donald Trump hat verkündet, die USA unter dem Wahlkampfslogan „Make America Great Again“ wieder großartig zu machen, gerät aber in der Konfrontation mit globalem Dominanz-Anspruch der amerikanischen Elite. Usw. In jedem der oben genannten Beispiele für Cäsarismus ist ein „historischer Moment“ verborgen, das ihre Vertreter zu Instrumenten des Zeitgeistes macht.
Auch Wladimir Putin wird zum Instrument der Geschichte: als geistiger Führer des einzigen Landes, das in der Lage ist, das nukleare Gleichgewicht mit den USA beizubehalten und die bevorstehende Wende in der Weltpolitik durchzusetzen. Im Endeffekt sollten alle Ansprüche auf globale Vorherrschaft begraben werden. Die Unzufriedenheit der herrschenden amerikanischen Elite mit der Politik Putins ist deshalb mehr als offensichtlich: Putin hat viele Hoffnungen und Illusionen den Protagonisten der einheitlichen west-liberalen Weltordnung zerstört, unter anderem den Brzezinskis Traum, auf den postsowjetischen Raum ein prowestliches Bündnis aufzubauen. Doch genau deswegen ist Putins Politik absolut voraussagbar: Er folgt der Logik des neuen Weltgeists und ist damit beschäftigt, die Idee der multipolaren Welt zu realisieren. Man kann nur staunen über den Mut eines Mannes, der sich der mächtigsten westlichen Macht widersetzt hat.
1. Krone-Schmalz, Gabriele: Eiszeit, S. 253.
2. Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 30.