Dabei spricht Huntington genau über die Vielzahl von Zivilisationen – mindestens sieben, die durch die USA, Europa, China, Japan, Russland, Indien, Lateinamerika und Afrika als potenzielle Kandidaten vertreten sind. Solche These, die für die Logik der multipolaren Welt entscheidend wichtig ist, baut Huntington auf der Basis der grundsätzlichen Untersuchung der Begriffe „Zivilisation“ und „Kultur“ auf.
Die Liste von Autoren, die er dabei in Bezug nimmt, ist beeindruckend. Zunächst unterscheidet er ‚Zivilisation‘ (=Kultur) im Singular von ‚Zivilisationen‘ (=Kulturkreisen) im Plural. Die Idee der Zivilisation, so Huntington, wurde von französischen Denkern des 18. Jahrhunderts als Gegensatz zum Begriff „Barbarei“ entwickelt. Die zivilisierte Gesellschaft unterschied sich von den primitiven Gesellschaften dadurch, dass sie sesshaft, städtisch und alphabetisiert war. Gleichzeitig begann man jedoch, zunehmend von Zivilisation im Plural (=Kulturkreisen) zu sprechen, was bedeutete, „stillschweigend auf eine ideale Zivilisation oder vielmehr auf das Ideal der Zivilisation (zu) verzichten“. Stattdessen gab es viele Zivilisationen, deren jede auf ihre Weise zivilisiert war. Huntington nimmt zum Gegenstand seines Buches Zivilisationen im Plural (=Kulturkreise), weil die Idee von Zivilisation im Singular in der These von der universellen Weltzivilisation immer wiederkehrt. Ob eine „Zivilisierung von Zivilisationen“ doch möglich ist, ist aber eine große Frage, auch für Huntington selbst. (1)
Ein Kulturkreis, so Huntington weiter, ist die größte kulturelle Einheit. Alle Zivilisationen sind ein gewisses Maß an Integration zu eigen. Ihre einzelnen Teile definieren sich durch ihr Verhältnis zueinander und zum Ganzen. Setzt sich die Zivilisation aus Staaten zusammen, werden diese Staaten untereinander mehr Beziehungen haben als zu Staaten außerhalb der Zivilisation. Sie werden ökonomisch abhängiger voneinander sein. In Kurzem: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitäten verbunden sind, kooperieren miteinander. Die Kultur eines süditalienischen Dorfes mag sich von der eines norditalienischen Dorfes unterscheiden, aber beiden wird eine gemeinsame italienische Kultur eigen sein, die sie von deutschen Dörfern unterscheidet. Europäische Gemeinschaften wiederum werden miteinander kulturelle Merkmale teilen, die sie von arabischen oder chinesischen Gemeinschaften unterscheiden. Araber, Chinesen und Westler jedoch gehören keiner noch allgemeinen kulturellen Größe an, sie bilden Kulturkreise. Ein Kulturkreis ist demnach die höchste kulturelle Gruppierung von Menschen und die allgemeinste Ebene kultureller Identität des Menschen innerhalb der Ebene, die die Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Huntington befasst sich in seinem Buch mit jenen Kulturkreisen (=Zivilisationen), die allgemein als die größten der menschlichen Geschichte angesehen werden. (2)
Kulturkreise sind zwar vergänglich, aber sie sind auch sehr langlebig; sie entwickeln sich weiter, passen sich an und sind der dauerhafteste aller menschlichen Zusammenschlüsse. Weltreiche steigen auf und fallen, Regierungen kommen und gehen, aber die „Zivilisationen“ bleiben und überleben „politische, soziale, wirtschaftliche, sogar ideologische Umwälzungen“. Praktisch alle großen Kulturkreise in der Welt des 20. Jahrhunderts existieren seit mindestens tausend Jahren oder sind, wie in Lateinamerika, der unmittelbare Spross anderer alteingesessenen Kulturen. Die Phasen ihrer Entwicklung kann man auf verschiedene Weise gliedern, aber ungeachtet bedeutsamer Unterschiede sehen alle Theorien den Entwicklungsgang von „Zivilisationen“ als den Weg von einer Zeit der Unruhen oder Konflikte über einen Universalstaat bis hin zu Verfall. (3)
Kulturkreise sind keine politischen, sondern kulturellen Größen. Die politische Zusammensetzung von Kulturkreisen ist in jedem anders und variiert im Laufe der Zeit innerhalb jedes Kreises. So kann ein Kulturkreis eine oder mehrere politische Einheiten enthalten; diese Einheiten können Stadtstaaten, Kaiserreiche, Bundesstaaten, Staatenbünde, Nationalstaaten, Vielvölkerstaaten sein, mit jeweils unterschiedlichen Regierungsformen. Im Laufe der Entwicklung eines Kulturkreises verändert sich normalerweise die Anzahl und Art der konstituierenden politischen Einheiten. Im Extremfall können Kultur und politische Einheit deckungsgleich sein (zum Beispiel Japan).
Die meisten Kulturkreise enthalten allerdings mehr als einen Staat oder eine politische Einheit. Einige von ihnen haben einen Kern- oder Führungsstaat, wie zum Beispiel China, Indien und Russland. Im Westen hat es in der Geschichte eine große Anzahl von Staaten, aber auch eine kleine Zahl von Kernstaaten gegeben (zum Beispiel Frankreich, England, Deutschland und die USA). In seinen besten Tagen war das Osmanische Reich Kernstaat des islamischen Kulturkreises; in moderner Zeit gibt es hingegen keinen islamischen Kernstaat, eine Situation, die wir auch in Lateinamerika und Afrika antreffen. (4)
Nationalstaaten bleiben also die Hauptakteure des Weltgeschehens, sie gruppieren sich jedoch nicht mehr in drei Blöcke aus der Zeit des Kalten Krieges (Westen, kommunistische Gesellschaften und Dritte Welt), sondern in den großen Kulturkreisen. Die Interessen, Zusammenschlüsse und Konflikte der Nationalstaaten sind nun zunehmend von kulturellen Faktoren geprägt. In dieser neuen Welt ist Lokalpolitik die Politik der Ethnizität und Weltpolitik die Politik von Kulturkreisen. Die Rivalität der Supermächte ist abgelöst vom Konflikt der Kulturen. (5)
1. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wilhelm Goldmann Verlag, 2002, S. 50.
2. Ebenda, S. 53-54.
3. Ebenda, S. 54-56.
4. Ebenda, S. 56.
5. Ebenda, S. 21, 24, 43.