Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das Prinzip des militärischen Gleichgewichts in der globalen Weltpolitik infrage gestellt. Aber die richtige Wende in der Sicherheitspolitik hat voraussichtlich den Golfkrieg geweckt. Für Huntington ist sicher: Hätte Saddam Hussein seine Invasion Kuwaits um zwei oder drei Jahre verschoben, bis der Irak über Kernwaffen verfügte, wäre er heute sehr wahrscheinlich im Besitz Kuwaits und möglicherweise auch der saudischen Ölfelder. Irakische Kern- oder Chemiewaffen fanden Amerikaner im zerstörten Land nicht, aber nichtwestliche Staaten ziehen aus dem Golfkrieg eine grundlegende Lehre. Ein hoher indischer Offizier hat sie folgens formuliert: Führe nicht Krieg mit den USA, wenn du keine Kernwaffen hast. Führende Politiker und Militärs in der ganzen nichtwestlichen Welt haben sich diese Lehre zu Herzen genommen und folgern aus ihr: Wenn du Kernwaffen hast, werden die USA keinen Krieg gegen dich führen. (1)
Nach dem Kalten Krieg hat sich die Rolle der Kernwaffe für den Westen völlig geändert. Zuvor dienten Atomwaffen als Ausgleich für die Ungleichheit des Westens gegenüber der Sowjetunion bei den konventionellen Waffen. In der Welt nach dem Kalten Krieg besitzen nun die USA unerreichte konventionelle militärische Macht. Bis weit ins 21. Jahrhundert hinein, meint Huntington, wird allein der Westen, das heißt in erster Linie Amerika, mit etwas Unterstützung aus Großbritannien und Frankreich, in der Lage sein, an fast jedem Punkt der Erde militärisch zu intervenieren. Und nur die USA werden eine Luftwaffe besitzen, die imstande ist, praktisch jeden Fleck der Erde zu bombardieren. Das sind die zentralen Elemente der militärischen Position der USA als Weltmacht und des Westens als der die Welt dominierenden Kultur. In unmittelbarer Zukunft wird, was die konventionelle Militärmacht betrifft, der Westen dem Rest haushoch überlegen sein. (2)
Der Aufbau eines erstklassigen konventionellen militärischen Potenzials erfordert Zeit, Anstrengungen und Kosten, was für nichtwestliche Staaten mächtige Anreize liefert, nach anderen Wegen zu einem Gleichgewicht gegen die konventionelle militärische Macht des Westens zu suchen. Der beliebte Ausweg ist der Erwerb von ABC-Waffen (nuklearen, biologischen und chemischen) und ihren Trägersystemen. Heute sind es die Russen, die sagen: „Wir brauchen Kernwaffen als Gegengewicht gegen konventionelle Überlegenheit der Amerikaner.“ Andere Regionalmächte, die in den Besitz von Kern- und anderen Massenvernichtungswaffen gelangen, werden den genannten Beispielen folgen, um eine maximale Abschreckung ihrer Waffen gegen konventionelle Militäraktionen des Westens zu erzielen. (3)
Während des Kalten Krieges befanden sich die USA und die Sowjetunion in einem klassischen Rüstungswettlauf, bei dem sie immer mehr technologisch hoch komplizierte Kernwaffen und Trägersysteme entwickelten. Es war ein typischer Fall von Ausrüstung gegen Ausrüstung. In der Welt nach dem Kalten Krieg ist die zentrale Rüstungsrivalität von anderer Art. Die Gegenspieler des Westens unternehmen den Versuch, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen, und der Westen unternimmt den Versuch, sie daran zu hindern. Es ist ein Fall nicht von Ausrüstung gegen Ausrüstung, sondern von Ausrüstung gegen Rüstungsverhinderung. Größe und Potential des westlichen Kernwaffenarsenals sind dabei – abgesehen von rhetorischen Beteuerungen – nicht Bestandteil der Realität.
Der Ausgang eines sich aufschaukelnden Wettrüstens hängt von den Ressourcen, dem Einsatz und der technologischen Kompetenz der beiden Seiten ab. Er ist nicht vorherbestimmt. Der Ausgang eines Wettlaufs zwischen Ausrüstung und Rüstungsverhinderung ist aber absehbarer. Die rüstungsverhinderten Anstrengungen des Westens mögen die Ausrüstung anderer Gesellschaften verlangsamen, aber sie werden sie nicht aufhalten. Huntington macht damit die Verbreitung von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen zu einem zentralen Aspekt der langsamen, aber unvermeidlichen Umverteilung von Macht in einer multikulturellen Welt, die durch die zunehmende Macht Amerikas im Bereich der konventionellen Waffen eingeleitet wird. (4)
1. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wilhelm Goldmann Verlag, 2002, 297.
2. Ebenda, S. 296-298.
3. Ebenda, S. 296-298.
4. Ebenda, S. 303-304, 307.