Der Westen verliert an relativem Einfluss

Gewissenhaft markiert Huntington die drei Phasen der Entwicklung der Beziehungen der Hochkulturen untereinander: zwei Phasen sind vorbei und die dritte tritt nun auf die Weltbühne. Lange Zeit fanden die Kontakte zwischen Kulturen entweder gar nicht oder kurz und heftig statt. Hochkulturen lagen räumlich und zeitlich weit auseinander. Nur eine kleine Zahl von ihnen existierte jeweils gleichzeitig. Bis zum Jahre 1500 hatten die Anden- und die mesoamerikanische Kultur weder zu anderen noch zueinander Kontakt. Auch die frühen Hochkulturen am Nil, an Euphrat und Tigris, am Indus und am Gelben Fluss waren nicht in Fühlung miteinander. Die Verkehrsverbindungen und Handelsbeziehungen waren eingeschränkt aufgrund der großen Entfernungen zwischen den einzelnen Kulturen und den begrenzten Transportmöglichkeiten zur Überwindung derartiger Strecken. Zwar gab es einen gewissen Seeverkehr im Mittelmeer und im Indischen Ozean. Aber: „Steppendurchquerende Pferde, nicht ozeanüberquerende Segler waren das hauptsächliche Fortbewegungsmittel, durch das die getrennten Kulturen der Welt vor 1500 nach Christus miteinander verbunden waren – in dem geringen Ausmaß, in dem sie überhaupt Kontakt zueinander unterhielten.“ (1)

Das war die erste Phase der Beziehungen zwischen Hochkulturen. Die zweite Phase verknüpft Huntington mit dem Aufstieg des Westens. Im 8. und 9. Jahrhundert begann die europäische Christenheit, als eigene Kultur hervorzutreten. Sie hinkte jedoch, was ihren Zivilisationsgrad betraf: Die islamische Welt zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert und Byzanz zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert übertrafen Europa bei weitem an Wohlstand, Ausdehnung, militärischer Macht und künstlerischer, literarischer und wissenschaftlicher Leistung. Nur zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert begann die europäische Kultur, sich zu entwickeln. Um 1500 war die Renaissance der europäischen Zivilisation schon in vollem Gange. Der expandierende Handelsverkehr, technische Errungenschaften und sozialer Pluralismus lieferten die Grundlage für eine neue Ära der Weltpolitik.

In den folgenden 250 Jahren gerieten die gesamte westliche Hemisphäre und wesentliche Teile Asiens unter europäische Herrschaft oder Dominanz. An die Stelle sporadischer oder begrenzter wechselseitiger Begegnungen zwischen Hochkulturen trat nun der kontinuierliche, überwältigende, einseitige Druck des Westens auf alle anderen Kulturen. Im Zuge der europäischen Expansion wurden die mesoamerikanische und die Anden-Hochkultur praktisch vernichtet, die indische und die islamische Kultur ebenso wie Afrika unterzogen und China vom Westen durchdrungen und westlichem Einfluss unterworfen. (2)

400 Jahre lang bedeuteten interkulturelle Beziehungen die Anpassung anderer Gesellschaften an die westliche Kultur. Um 1910 war die Welt in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht mehr als je zuvor in der Geschichte ein Ganzes. Zivilisation bedeutete westliche Zivilisation, und der Westen kontrollierte oder beherrschte die meisten Teile der Welt. Internationales Recht war westliches internationales Recht, das internationale System war das westliche System souveräner, aber „zivilisierten“ Nationalstaaten und der kolonialen Gebiete, die sie kontrollierten.

Die Entstehung dieses an westlichen Maßstäben ausgerichteten internationalen Systems war die zweite große Entwicklungsstufe der globalen Politik nach 1500. Die unmittelbare Quelle westlicher Expansion war jedoch eine technologische: die Erfindung von Methoden der Hochseenavigation, um ferne Völker zu erreichen, und die Entwicklung des militärischen Potenzials, um diese Völker zu erobern. Der Westen eroberte also die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen, Werte oder seiner Religion, sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler werden es nie vergessen. (3)

Die innere Politik des Westens wurde nach 1500 lange Zeit vom großen Religionsschisma und von religiösen und dynastischen Kriegen beherrscht. Nach dem Westfälischen Frieden (1648) waren die Konflikte der westlichen Welt weitere 150 Jahre lang im wesentlichen Konflikte von Fürsten – Kaiser, absoluten Monarchen und konstitutionellen Monarchen. Im Zuge dieser Entwicklung schufen sie Nationalstaaten, und seit der Französischen Revolution verliefen die hauptsächlichen Konfliktlinien zwischen Nationen, nicht zwischen Fürsten. Wie es auch heißt: „Die Kriege der Könige waren vorbei; die Kriege der Völker hatten begonnen.“ (4)

1917 wurde infolge der Russischen Revolution der Konflikt zwischen Nationalstaaten um den Konflikt zwischen Ideologien ergänzt, zunächst zwischen Faschismus, Kommunismus und liberaler Demokratie, danach zwischen den beiden letzteren. Die Machtübernahme des Marxismus zuerst in Russland und dann in China und Vietnam stellte eine Phase des Übergangs vom europäischen internationalen System zum posteuropäischen multikulturellen System. Lenin, Mao und Ho modelten Marxismus für ihre Zwecke um und benutzen ihn, um die Macht des Westens herauszufordern, ihre Völker zu mobilisieren und die nationale Identität und Autonomie ihrer Länder gegen den Westen zur Geltung zu bringen. Der Zusammenbruch dieser Ideologie in der Sowjetunion und ihre gründliche Adaption in China und Vietnam bedeuteten jedoch nicht, dass diese Länder nun zwangsläufig auch die andere Ideologie, also die liberale Demokratie übernehmen. Westler, die annehmen, dass dies der Fall sein wird, dürfen von der Kreativität, Dauerhaftigkeit und Anpassungsfähigkeit nichtwestlicher Kulturen überrascht werden. (5)

Die kommunistische Ideologie sprach Menschen in aller Welt in den fünfziger und sechziger Jahren an, als mit ihr die wirtschaftlichen Erfolge und die militärische Stärke der Sowjetunion verbunden wurden. Diese Anziehungskraft ließ nach, als die sowjetische Wirtschaft stagnierte und nicht imstande war, die militärische Stärke der Sowjetunion aufrechtzuerhalten. Westliche Werte und Institutionen haben Menschen anderer Kulturen angesprochen, weil sie als Quelle westlicher Macht und westlichen Wohlstandes angesehen wurden. Aber in dem Maße, wie die Macht des Westens schwindet, schwindet auch das Vermögen des Westens, die westlichen Vorstellungen von Menschenrechten, Liberalismus und Demokratie den anderen Zivilisationen aufzuzwingen.

Das Schicksal der Sowjetunion, meint Huntington, dessen Einheit mehr noch als die der USA in ideologischen Begriffen definiert war, ist ein ernüchterndes Beispiel für Amerikaner. Er zieht zum Gespräch der japanischen Philosoph Takeshi Umehara heran, der sagt voraus: „Das totale Scheitern des Marxismus … und das Dramatische der Sowjetunion waren nur Vorläufer für den Zusammenbruch des westlichen Liberalismus, des Hauptstroms der Moderne. Weit davon entfernt, als die Alternative zum Marxismus und als die herrschende Ideologie am Ende dieses Jahrhunderts dazustehen, wird der Liberalismus der nächste Dominostein sein, der fällt.“ Demzufolge macht Huntington die eigene Schlussfolgerung: In einer Welt aus vielen Kulturkreisen, in der Kultur zählt, könnten die USA einfach der letzte anomale Überrest einer verblassenden westlichen Welt sein, in der Ideologie zählte. (6)

Im 20. Jahrhundert sind also die Beziehungen zwischen Kulturen von einer Phase, die vom einseitigen Einfluss einer einzigen Kultur auf alle anderen beherrscht war, in eine Phase intensiver, anhaltender und vielseitiger Interaktion zwischen allen Kulturen übergegangen. Es endete „die Expansion des Westens“ und begann „der Aufstand gegen den Westen“. Das Gleichgewicht der militärischen und ökonomischen Macht und des politischen Einflusses hat sich verschoben. Die Macht des Westens ging im Verhältnis zur Macht der anderen Kulturen zurück, nichtwestliche Gesellschaften sind in zunehmendem Maße zur Gestaltung der Weltgeschichte geworden. (7)

So hat Huntington noch ein wichtiger Baustein im Gebäude der multipolaren Welt hingelegt.

1. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wilhelm Goldmann Verlag, 2002, S. 62-64.

2. Ebenda, S. 64-67.

3. Ebenda, S. 65-68.

4. Ebenda, S. 69.

5. Ebenda, S. 69-70.

6. Ebenda, S. 138, 504.

7. Ebenda, S. 69-70.