Um die Macht auszuüben, bemerkt Huntington, braucht man die wirtschaftliche, militärische, institutionelle, demografische, politische, technologische, soziale oder sonstige Ressourcen. Die Macht eines Staates oder der Gruppe (zum Beispiel den westlichen Ländern) wird daher normalerweise nach Maßgabe der Ressourcen eingeschätzt. Der Anteil des Westens an den meisten, wenn auch nicht allen, wichtigen Energieressourcen erreichte Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt und begann dann im Vergleich zu den Ressourcen anderer Kulturen zu sinken.
Im Jahre 1920 beherrschte der Westen etwa 66 Millionen Quadratkilometer oder annähernd die Hälfte der Landoberfläche der Erde: Es war der Höhepunkt seiner territorialen Ausdehnung. Bis 1993 halbierte sich diese territoriale Kontrolle auf rund 32,9 Millionen Quadratkilometer. Ähnliche Veränderungen ergaben sich in der Kontrolle über Populationen. Die Alphabetisierung in Entwicklungsländern betrug 1970 durchschnittlich 41 Prozent der Rate in entwickelten Ländern; 1992 betrug sie durchschnittlich 71 Prozent. Zwischen 1960 und 1992 stieg rasant der Anteil der städtischen Bevölkerung in diesen Ländern. Auch die Lebenserwartung hat in diesen Regionen erheblich zugenommen. Diese Veränderungen in der Alphabetisierung, Bildung und Urbanisierung erzeugen mobile Populationen mit gesteigerten Potentialen und höheren Erweiterungen, die zu politischen Zwecken mobilisiert werden. (1)
Der Anteil des Westens an der Weltwirtschaftsproduktion mag ebenfalls um 1920 seinen Höhenpunkt erreicht haben und geht seit dem Zweiten Weltkrieg eindeutig zurück. Auch in allen Dimensionen der militärischen Macht – Truppenstärke, Waffen, Gerät und Ressourcen –war der Westen um 1920 dem Rest der Welt überlegen. Seitdem ist die militärische Macht des Westens im Verhältnis zu den anderen Zivilisationen zurückgegangen. Die Machtressourcen, die benötigt werden, um den Westen in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts anzuführen, sind ebenfalls knapp. Huntington bezieht sich dabei auf wissenschaftliche Talente, Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sowie zivile und militärische technologische Innovationen.
Die Kontrolle über die Machtressourcen wird in zunehmendem Maße auf die Kernstaaten und führenden Ländern nichtwestlicher Kulturkreise übergehen. Um das Jahr 2020, hundert Jahre nach einem Höhenpunkt, wird der Westen wahrscheinlich 24 Prozent des Weltterritoriums kontrollieren, 10 Prozent der Weltbevölkerung und vielleicht 15 bis 20 Prozent der sozial mobilen Bevölkerung der Welt, etwa 30 Prozent des Weltbruttosozialprodukts, vielleicht 25 Prozent der Industrieerzeugung und weniger als 10 Prozent der globalen militärischen Mannschaftsstärke. (2)
Im Jahr 1919 dehnten Woodrow Wilson, Lloyd George und Georges Clemenceau ihre Macht praktisch auf die ganze Welt aus. Außerdem beschlossen sie, sich militärisch in die Angelegenheiten Russlands einzumischen und wirtschaftliche Zugeständnisse von China zu erpressen. Hundert Jahre später wird es keine kleine Gruppe von Staatsmännern mehr geben, die in der Lage ist, vergleichbare Macht auszuüben. In dem Maße, wie der Primat des Westens erodiert, wird sich ein guter Teil seiner Macht einfach verflüchtigen, und der Rest wird sich auf regionaler Basis auf die verschiedenen großen Kulturkreise und ihre Kernstaaten verteilen. (3)
Huntington spricht über Regionalismus in der Weltpolitik: Auf der Sicherheitsagenda der Welt ersetzen regionale Konflikte den globalen Konflikt. Großmächte wie Russland, China und die USA, aber auch sekundäre Mächte definieren ihre Sicherheitsinteressen neu, in regionalen Begriffen. Der Handel innerhalb einer Region expandierte schneller als der Handel zwischen Regionen, und viele sahen bereits das Entstehen regionaler Wirtschaftsblöcke voraus – europäischer, nordamerikanischer, ostasiatischer und vielleicht anderen. (4)
* * *
Heute wird Regionalismus zum Bestandteil der Weltpolitik als Synthese der wirtschaftlichen Zusammenschlüsse und Sicherheitsbündnissen. Der Trend ist sichtbar: Die Entwicklung der Eurasischen Wirtschaftsunion wird durch Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit gesichert, während die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf dem ostasiatischen Kontinent ist durch Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit gedeckt, genau nach dem Vorbild des transatlantischen Bündnisses und NATO.
Regionalismus gibt keinen Grund für die Befürchtungen, dass irgendwann in der Welt ein oder anderer Kulturkreis, zum Beispiel China, eine absolute Dominanz bekommen kann. Wenn sogar Amerika nach dem Kalten Krieg mit allen möglichen Überlegungen nicht in der Lage ist, einen gesicherten Frieden um den Preis der Welthegemonie zu schaffen, dann ist es noch mehr fraglich, dass es dem China gelingt. Die Machtressourcen werden sich in der Zukunft noch mehr verstreuen und verteilen: Das macht alle Bemühungen um die Welthegemonie vergeblich.
1. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wilhelm Goldmann Verlag, 2002, S. 122-126.
2. Ebenda, S. 126, 130, 135-136.
3. Ebenda, S. 119, 136.
4. Ebenda, S. 203.