Huntington macht diese Schlussfolgerung mit Hilfe von Abbildungen der allgemeinen Tendenz: Anfänglich sind Verwestlichung und Modernisierung eng miteinander verbunden, wobei die nichtwestliche Gesellschaft wesentliche Elemente der westlichen Kultur absorbieren und langsame Fortschritte in Richtung Modernisierung macht. In dem Maße jedoch, wie sich das Tempo der Modernisierung beschleunigt, geht die Verwestlichungsrate zurück, und die einheimische Kultur erlebt eine Renaissance. (1)
Der Geist der Verwestlichung ist eng mit der Blüte der westlichen Zivilisation verbunden. Mehrere Jahrhunderte lang haben nichtwestliche Völker die westlichen Gesellschaften um ihre wirtschaftliche Prosperität, technologische Entwicklung, militärische Macht und politische Geschlossenheit beneidet. Sie suchten das Geheimnis dieses Erfolgs in westlichen Werten und Institutionen, und als sie ausgemacht hatten, was sie für den Schlüssel hielten, versuchten sie, ihn in ihren eigenen Gesellschaften auszuprobieren. Der sogenannte Kemalismus war dafür ein gutes Beispiel: Verwestlichung wurde in Türkei als die Voraussetzung für die Modernisierung betrachtet. Es war die erste Generation der Modernisierung, die sowohl in früheren Kolonien als auch in unabhängigen Ländern wie China und Japan die nationalen Eliten bildeten. Diese erste Generation der Modernisierer erhält ihre Ausbildung oft an ausländischen Universitäten in einer westlich-kosmopolitischen Sprache. Weil sie als beeindruckbare junge Menschen ins Ausland kamen, eigneten sie sich westliche Werte und Lebensstile mitunter recht gründlich an. (2)
Doch mit der Zeit verschwunden allmählich diese kemalistischen Einstellungen. Huntington weist zuerst auf die Ostasien: Die Menschen Ostasien schreiben ihre dramatische wirtschaftliche Entwicklung nicht ihrem Import der westlichen Kultur zu, sondern vielmehr ihrem Festhalten an der eigenen. Sie sind, so behaupten sie, auf Erfolgskurs, weil sie anders sind als der Westen. Aber auch in anderen Kulturkreisen nimmt der Aufstand gegen Verwestlichung zu. Das Wiederaufleben des Islam und die „Re-Islamisierung“ sind seit achtziger und neunziger Jahren die zentralen Themen in muslimischen Gesellschaften. In Indien überwiegt die Tendenz zur Ablehnung westlicher Formen und Werte und zur „Hindisierung“ von Politik und Gesellschaft. In Ostasien fördern Regierungen den Konfuzianismus, in Russland die Orthodoxie. Die Modernisierung stärkt also Macht und Selbstvertrauen dieser Gesellschaft und festigt die Bindung an die eigene Kultur. In dem Maße, wie nichtwestliche Gesellschaften ihr wirtschaftliches, militärisches und politisches Potential ausbauen, pochen sie zunehmend auf die Vorzüge ihrer eigenen Kultur, Werte und Institutionen. Indigenisierung zeigt sich generell am Wiedererstarken der Religion. In diesem Sinne ist die Renaissance nichtwestlicher Religionen die machtvollste Manifestation der Ablehnung der westlichen Gesellschaften durch Nicht-Westler. Diese Renaissance bedeutet keine Ablehnung der Moderne: Sie bedeutet eine Ablehnung des Westens und der laizistischen, relativistischen, degenerierten Kultur, die mit dem Westen assoziiert wird. Sie bedeutet auch die Erklärung der kulturellen Unabhängigkeit vom Westen, die stolze Feststellung: „Wir werden modern sein, aber wir werden nicht wie ihr sein.“ (3)
Für Huntington ist der offensichtlichste, entscheidendste und mächtigste Grund für den weltweiten Aufstieg der Religionen genau das, was eigentlich zum Tod der Religionen führen sollte: die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Modernisierung. Die Menschen ziehen vom Land in die Stadt, verlieren den Kontakt zu ihren Wurzeln und ergreifen neue Berufe. Sie brauchen neue Quellen der Identität, neue Formen einer stabilen Gesellschaft und neue moralische Anhaltspunkte, die ihnen ein Gefühl von Sinn und Zweck vermitteln. Die Religion befriedigt diese Bedürfnisse. Auch in Russland ist das Aufblühen der Religion die Folge „einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach Identität, die allein die orthodoxe Kirche, das einzige intakte Bindeglied zur tausendjährigen russischen Vergangenheit, befriedigen kann“. (4)
1. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wilhelm Goldmann Verlag, 2002, S. 109.
2. Ebenda, S. 138-139.
3. Ebenda, S. 138-140,109, 143, 152, 154.
4. Ebenda, S. 144, 148.