Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versetzten die Vereinigten Staaten in eine außergewöhnliche Lage. Sie wurden, so Brzezinski, gleichzeitig die erste und die einzig wirkliche Weltmacht, die „Hegemonie neuen Typs“. Im Gegensatz zu allen früheren Imperien ist der Geltungsbereich der heutigen Weltmacht Amerika einzigartig.
Brzezinski stützt sich in erster Linie auf historische Erfahrungen, um seine Hauptthese zu belegen. Er analysiert den Aufstieg und Untergang der Großreiche der Römer, Chinesen und Mongolen, die er als regionale „Vorläufer späterer Anwärter auf die Weltmacht“ betrachtet. Das römische Imperium ist für ihn vorbildlich. Er schreibt: „Das Römische Reich war ein zentralistisches Staatswesen mit einer autarken Wirtschaft. Mit einem hochentwickelten System politischer und wirtschaftlicher Organisation übte es seine imperiale Macht besonnen und gezielt aus. Ein nach strategischen Gesichtspunkten angelegtes, von der Hauptstadt ausgehendes Netz von Straßen und Schifffahrtsrouten gestattete – im Falle einer größeren Bedrohung – eine rasche Umverlegung und Konzentration der in den verschiedenen Vasallenstaaten und tributpflichtigen Provinzen stationierten römischen Legionen.“ (1)
„Auf dem Höhepunkt seiner Macht, so Brzezinski weiter, zählten die im Ausland eingesetzten römischen Legionen nicht weniger als 300 000 Mann – eine beachtliche Streitkraft, die dank römischer Überlegenheit in Taktik und Bewaffnung wie auch dank der Fähigkeit des Zentrums, seine Truppen relativ schnell umzugruppieren, noch tödlicher wurde. … Roms imperiale Macht beruhte indessen auch auf einem wichtigen psychologischen Sachverhalt: Civis Romanus sum – ich bin römischer Bürger – war gewissermaßen ein Ehrentitel, Grund, stolz zu sein, und für viele ein hohes Ziel. Schließlich selbst jenen gewährt, die keine gebürtigen Römer waren, war der Status des römischen Bürgers Ausdruck kultureller Überlegenheit, die dem imperialen Sendungsbewusstsein als Rechtfertigung diente. Sie legitimierte nicht nur Roms Herrschaft, sondern nährte auch in den ihr Unterworfenen den Wunsch, in die Reichsstruktur aufgenommen und ihr assimiliert zu werden. Somit stützte die von den Herrschern als selbstverständlich betrachtete und von den Beherrschten anerkannte kulturelle Überlegenheit die imperiale Macht. … Kurzum übte Rom seine Macht in erster Linie dank einer ausgezeichneten Militärorganisation und dem Reiz seiner kulturellen Errungenschaften aus“ (2)
Trotzdem, so Brzezinski, war das römische Imperium nicht einzigartige in seiner Zeit: „In derselben Epoche entstanden auch chinesisches Reich, obwohl keines vom anderen wusste“. Brzezinski findet viele Ähnlichkeiten in diesen beiden Imperien: „Wie Rom verfügte auch dieses Imperium über eine differenzierte Ordnung des Finanz-, Wirtschafts- und Erziehungswesens sowie über ein System der Herrschaftssicherung, mit dessen Hilfe das riesige Territorium und die mehr als 300 Millionen Untertanten regiert wurden. Die Machtausübung lag in den Händen einer politischen Zentralgewalt, die über einen erstaunlich leistungsstarken Kurierdienst verfügte. … Eine zentralisierte, professionell geschulte und durch Auswahlverfahren rekrutierte Bürokratie bildete die Hauptstütze der Einheit. Gestärkt, legitimiert und erhaltet wurde diese Einheit – ebenfalls wie im Falle Roms – durch ein tief empfundenes und fest verankertes Bewusstsein kultureller Überlegenheit, das nicht zuletzt auf dem Konfuzianismus fußte. Die besondere Betonung von Harmonie, Hierarchie und Disziplin empfahl ihn geradezu als staatstragende Philosophie.“ (3)
Ein zentralistisches Staatssystem, eine autarke Wirtschaft, ein hochentwickeltes System politischer und wirtschaftlicher Organisation und nicht zuletzt die kulturelle Überlegenheit machten das römische und das chinesische Reich zum Zentrum des Universums, zu „einer Welt für sich“. Sie waren die echten Vorläufer „späterer Herrschaftsgebilde von noch größerer geografischer Ausdehnung“. Das Mongolenreich baute seine imperiale Macht jedoch auf anderen Prinzipien auf. Brzezinski schreibt: „Die imperiale Macht der Mongolen gründete zum größten Teil auf militärischer Vorherrschaft. Nachdem sie durch den brillanten und rücksichtslosen Einsatz überlegender Militärtaktiken, die eine bemerkenswerte Fähigkeit zu schneller Truppenbewegung und deren rechtzeitiger Konzentration verbanden, die Herrschaft über die eroberten Gebiete erlangt hatten, bildeten die Mongolen weder ein einheitliches Wirtschafts- oder Finanzsystem aus, noch leitete sich ihre Autorität von irgendeinem Überlegenheitsgefühl kultureller Art ab.“ (4)
Die kulturelle Schwäche wurde zum historischen Schicksal des Mongolenreiches. Brzezinski schreibt: „Die Mongolenherrscher warfen zahlenmäßig zu schwach, um eine sich selbst erneuernde Herrscherkaste zu bilden. Da den Mongolen ein klar definiertes Selbstbewusstsein in kultureller oder ethnischer Hinsicht fremd war, fehlte es ihrer Führungselite auch am nötigen Selbstvertrauen. Folglich erwiesen sich die mongolischen Herrscher als recht anfällig für die allmähliche Assimilation an die oft höher zivilisierten Völker, die sie erobert hatten. So wurde zum Beispiel einer der Enkel Dschingis Khans, der im chinesischen Teil des Khan-Reichs Kaiser geworden war, ein glühender Verfechter des Konfuzianismus; ein anderer bekehrte sich in seiner Eigenschaft als Sultan von Persien zum Islam; und ein Dritter wurde der von der persischen Kultur geprägte Herrscher über den zentralasiatischen Raum.“ Brzezinskis kurze Schlussfolgerung lautet: „Das Mongolenreich basierte auf einer ausgefeilten, auf Eroberung abgestimmten Militärtaktik und einem Hang zur Assimilation.“ (5)
„Die Assimilation der Herrscher an die Beherrschten“ war laut Brzezinski einer der wichtigsten Gründe für den Untergang des Mongolenreiches. „Das Mongolenreich war zu groß geworden, um von einer einzigen Zentrale aus regiert zu werden“, schreibt er zusätzlich. Das sind voraussichtlich die Brzezinskis Grundgedanken, wenn er frühere Imperien als „Vorläufer späterer Anwärter auf die Weltmacht“ betrachtet, in diesem Fall Russland als Nachfolger des Mongolenreiches. Deshalb wird Russland – aufgrund seiner Größe und seines Hangs zu Assimilation – im Gegensatz zu den Nachfolgern des Römischen und des chinesischen Reiches der Status einer modernen Weltmacht abgesprochen.
Leider sah Brzezinski in der vermeintlichen Schwäche Russlands als Nachfolger des Mongolenreichs nicht dessen Stärke. Sie liegt in der Fähigkeit, andere Kulturen zu akzeptieren und zu übernehmen, sie in die eigene zu integrieren und so die kulturelle Landschaft des multinationalen Russlands noch reicher zu machen. Genau das ist es, was andere Kulturen, die unter ihrer Überlegenheit leiden, daran hindert, sich weiterzuentwickeln. Peter der Große öffnete ein Fenster nach Europa und bereicherte die russische Kultur mit den Errungenschaften des Römischen Reiches. Wladimir Putin hat ein Fenster nach China aufgestoßen. Konfuzius wird bei den Russen zu einer neuen Legende, die ihre Neugierde und ihren Wissensdurst anheizt. Indische und andere, noch nicht vollständig assimilierte Kulturen sind als nächste an der Reihe. Russland, dieses „schwarze Loch“, wie Brzezinski es nannte, absorbiert eine Kultur nach der anderen und bewahrt so auf seinem riesigen, von zahlreichen Völkern bewohnten Territorium die Grundlage seiner Existenz – den Reichtum der Kultur.
Natürlich baut Brzezinski – als Vertreter der westlichen Kultur – die Grundlagen der amerikanischen Weltherrschaft nach dem Vorbild des Römischen Reiches auf. Im Grunde dieser Konstruktion liegt die Überlegenheit Amerikas in Wirtschaft, Militär, politischen Staatswesen, Technologie und Kultur. Er schreibt: „Die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft schafft die notwendige Voraussetzung für die Ausübung globaler Vorherrschaft. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war Amerika allen anderen Staaten ökonomisch weit überlegen, stellte es doch mehr als 50 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. … Wichtiger noch, die USA konnten ihren Vorsprung bei der Nutzung der neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu militärischen Zwecken behaupten, ja sogar noch vergrößern. Infolgedessen verfügen sie heute über einen in technologischer Hinsicht beispiellosen Militärapparat, den einzigen mit einem weltweiten Aktionsradius. Die ganze Zeit über wahrte Amerika seinen starken Wettbewerbsvorteil in den auf wirtschaftlichem Gebiet ausschlaggebenden Informationstechnologien. Seine Überlegenheit in diesen zukunftsträchtigen Wirtschaftsbereichen deutet darauf hin, dass es seine beherrschende Position auf technologischem Sektor wahrscheinlich nicht so schnell einbüßen wird… Kurz, Amerika steht in den vier entscheidenden Domänen globaler Macht unangefochten da: seine weltweite Militärpräsenz hat nicht ihresgleichen, wirtschaftlich gesehen bleibt es die Lokomotive weltweiten Wachstums, selbst wenn Japan und Deutschland in einigen Bereichen eine Herausforderung darstellen mögen (wobei freilich keines der beiden Länder sich der anderen Merkmale einer Weltmacht erfreut); es hält seinen technologischen Vorsprung in den bahnbrechenden Innovationsbereichen, und seine Kultur findet trotz einiger Missgriffe nach wie vor weltweit, vor allem bei der Jugend, unübertroffen Anklang. All das verleiht den Vereinigten Staaten von Amerika eine politische Schlagkraft, mit der es kein anderer Staat auch nur annähernd aufnehmen könnte. Das Zusammenspiel dieser vier Kriterien ist es, was Amerika zu der einzigen globalen Supermacht im umfassenden Sinne macht.“ (6)
Aber das ist nicht einmal der Hauptpunkt bei der Frage, was die amerikanische Supermacht einzigartig macht. Alle früheren Reiche waren regionale Imperien: Damals gab es noch keine Verbindung zwischen den verschiedenen Kontinenten der Welt. Aber selbst das britische Empire, das allgemein als erstes planetarisches Imperium angesehen wird, war für Brzezinski kein echtes Weltreich. Er schreibt: „Die Briten (wie auch die Spanier, Niederländer und Franzosen) erlangten überragende Geltung, als sie in ihren überseeischen Handelsniederlassungen ihre Flagge hissten und ihre Macht durch eine überlegene Militärorganisation sowie durch ein anmaßendes Auftreten festigten. Aber keines dieser Reiche beherrschte die Welt. Nicht einmal Großbritannien war eine wirkliche Weltmacht. Es beherrschte Europa nicht, sondern hielt es lediglich im Gleichgewicht. Ein stabiles Europa war für die internationale Führungsrolle Großbritanniens von zentraler Bedeutung, und die Selbstzerstörung der Alten Welt markierte zwangsläufig das Ende der britischen Vormachtstellung.“ (7)
Brzezinski zieht eine wichtige Schlussfolgerung aus der Niederlage des britischen Imperiums: Die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts, selbst in einem Teil der Erde wie Europa, reicht nicht aus, um sich als Weltmacht zu betrachten. Die Kontrolle sollte allumfassend, wenn nicht sogar vollständig sein. Brzezinski schreibt: „Im Gegensatz dazu ist der Geltungsbereich der heutigen Weltmacht Amerika einzigartig. Nicht nur beherrschen die Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, um die Küsten unter Kontrolle zu halten, mit denen sie bis ins Innere eines Landes vorstoßen und ihrer Macht politisch Geltung verschaffen können. Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf.“ (8)
Die Anziehungskraft eines Imperiums, ob römisch oder amerikanisch, ist für Brzezinski der höchste Grad seiner Autorität und damit seiner Legitimität. Dies manifestiert sich in erster Linie in der kulturellen Überlegenheit. Wie bei Rom ist für ihn die Anziehungskraft der amerikanischen Kultur und des amerikanischen Lebensstils (american way of life) unbestreitbar, auch wenn „die kulturelle Komponente der Weltmacht USA“ bisweilen unterschätzt sind. Er schreibt: „Amerikas Massenkultur besitzt, besonders für die Jugendlichen in aller Welt, eine geradezu magnetische Anziehungskraft. Ihre Attraktion mag vom hedonistischen Lebensstil herrühren, den sie entwirft; ihr weltweit größerer Anklang ist jedenfalls unbestritten. Amerikanische Fernsehprogramme und Filme decken etwa drei Viertel des Weltmarktes ab. Die amerikanische Popmusik ist ein ebenso beherrschendes Phänomen, während Amerikas Marotten, Essgewohnheiten, ja sogar seine Mode, zunehmend imitiert werden. Die Sprache des Internets ist Englisch, und ein überwältigender Teil des Computer-Schnickschnacks stammt ebenfalls aus den USA und bestimmt somit die Inhalte der globalen Kommunikation nicht unwesentlich. Und schließlich ist Amerika zu einem Mekka für jene jungen Leute geworden, die nach einer anspruchsvollen Ausbildung streben. Annähernd eine halbe Million ausländischer Studenten drängt alljährlich in die USA, und viele der Begabtesten kehren nie wieder nach Hause zurück. Absolventen amerikanischer Universitäten sind in den Regierungskabinetten aller Herren Länder vertreten. Überall auf der Welt imitieren demokratische Politiker Führungsstil und Auftreten amerikanischer Vorbilder.“ (9)
Brzezinski präsentiert in seinem Buch eine Karte, die zeigt, wie „der gesamte Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären“. Die Karte sollte einmal mehr die „globale Vormachtstellung der USA“ bezeugen. (10)
Der Einfluss der kulturellen Anziehungskraft auf die Weltpolitik war in der Ära des höchsten Aufstiegs des britischen Empire offensichtlich. Brzezinski schreibt: „Da diese (britische, Anm. d. Autors) kulturelle Überlegenheit erfolgreich zur Geltung gebracht und stillschweigend anerkannt wurde, bedürfte es keiner großen Militärmacht, um die Autorität der englischen Krone aufrechtzuerhalten. Noch 1914 überwachsen nur ein paar tausend britische Soldaten und Verwaltungsbeamte etwa elf Millionen Quadratmeilen und hielten fast 400 Millionen nicht britische Untertaten im Zaum.“ Ein weiteres Beispiel ist der Wettstreit zwischen Amerika und der Sowjetunion, der ohne militärische Mittel endete. Die Hauptrolle, so betont Brzezinski, spielten dabei die „politische Energie, ideologische Flexibilität, wirtschaftliche Dynamik und kulturelle Attraktivität“ der amerikanischen Koalition. (11)
Brzezinskis Argumentation erlaubt es uns, die einfachste Formel für den Aufstieg und Untergang von Imperien zu formulieren: Je unattraktiver ein Imperium ist, desto mehr es sich mit Gewalt behaupten muss, desto weniger Legitimität es hat, desto näher ist sein Ende.
1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. S. 26, 32.
2. Ebenda, S. 26 37.
3. Ebenda, S. 27, 29.
4. Ebenda, S. 32.
5. Ebenda, S. 32-33, 37.
6. Ebenda, S. 38, 40.
7. Ebenda, S. 37-38.
8. Ebenda, S. 38.
9. Ebenda, S. 42.
10. Ebenda, S. 38-39.
11. Ebenda, S. 37, 22.