Ihrer Status als führende Weltmacht, so Brzezinski, wird in absehbarer Zeit – für mehr als eine Generation – wohl von keinem Herausforderer angefochten werden. Kein Nationalstaat dürfte sich mit den USA in den vier Schlüsselbereichen der Macht (militärisch, wirtschaftlich, technologisch und kulturell) messen können, die gemeinsam die entscheidende globale politische Schlagkraft ausmachen. Außer einer bewussten oder unfreiwilligen Abdankung Amerikas ist in absehbarer Zeit die einzig reale Alternative zur globalen Führungsrolle der USA die internationale Anarchie.
Brzezinski schreibt: „So gesehen kann man zu Recht behaupten, dass Amerika, wie Präsident Clinton es ausdrückte, die für die Welt ‚unentbehrliche Nation ist‘. Man muss hier dem Faktum der Unentbehrlichkeit das Potenzial für weltweite Anarchie gegenüberstellen. Die verheerenden Folgen der Bevölkerungsexplosion, Armutsmigration, sich rasant beschleunigender Urbanisierung, ethnischer und religiöser Feindseligkeiten und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wären nicht zu bewältigen, sollte auch noch das bestehende, auf Nationalstaaten basierende Grundgerüst rudimentärer geopolitischer Stabilität zu Bruch gehen. Ohne ein abhaltendes und gezieltes Engagement Amerikas könnten bald die Kräfte weltweiter Unordnung die internationale Bühne beherrschen. Angesichts der geopolitischen Spannungen, nicht nur in heutigem Eurasien, sondern überall auf der Welt, ist ein solches Szenario durchaus denkbar.“ (1)
Kurz zu fassen: Ohne amerikanische Vorherrschaft wäre eine weltweite Anarchie. Zur Bestätigung dieser These zieht Brzezinski die Behauptung seiner Kollegen, Politologe Samuel P. Huntington: „Ohne die Vorherrschaft der USA wird es auf der Welt mehr Gewalt und Unordnung und weniger Demokratie und wirtschaftliches Wachstum geben, als es unter dem überragenden Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Gestaltung der internationalen Politik der Fall ist. Die Fortdauer der amerikanischen Vorherrschaft ist sowohl für das Wohlergehen und die Sicherheit der Amerikaner als auch für die Zukunft von Freiheit, Demokratie, freier Marktwirtschaft und internationaler Ordnung in der Welt von zentraler Bedeutung.“ (2)
Der Glaube, dass nur die USA und ihre Verbündeten in der Lage sind, die globale Anarchie zu verhindern, war nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr groß. Ob ein solcher Glaube heute noch ernst genommen werden kann, ist eine große Frage. Die USA haben ihre Hausaufgaben eindeutig nicht gemacht und verstärken durch ihr Handeln den Eindruck, dass die Welt am Rande einer globalen Anarchie steht. Zum Glück ist die sogenannte Alternativlosigkeit kein Gebot der Geschichte. Die absolute Vorherrschaft der USA ist nicht die einzige Alternative zur Anarchie, wie der berühmte Rechtsphilosoph Carl Schmitt gezeigt hat.
In seinem Buch „Der Nomos der Erde“ (1950) schreibt Schmitt: „Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, von der Anarchie des Mittelalters zu sprechen, weil im Mittelalter Fehde und Widerstandsrecht als Einrichtungen und Methoden der Behauptung und Verteidigung des Rechtes anerkannt waren. Aus anderen Gründen ist es ebenso unrichtig, die völkerrechtliche Ordnung des zwischenstaatlichen Völkerrechts, vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, als Anarchie zu bezeichnen, weil sie Kriege zuließ.“ (3)
Aus der Erfahrung des europäischen zwischenstaatlichen Völkerrechts, des Jus Publicum Europaeum, leitet Schmitt eine Formel für den Frieden ab, die auf einem System des Gleichgewichts beruht. Für Schmitt war das Jus Publicum Europaeum ein einzigartiges Beispiel des Völkerrechtes, dem es gelungen war, die vernichtenden Religions- und Bürgerkriege des Mittelalters zu beenden und die effektiven rechtlichen Instrumente für die Hegung der Kriege in Europa zu schaffen. Seine tragende Größe war ein souveräner Staat. Die Kriegsgegner, also die souveränen Staaten, wurden von der europäischen Gemeinschaft als gerechte Feinde (justus hostis) anerkannt und von Rebellen, Verbrechern und Piraten unterschieden. Der Krieg verwandelte sich in eine Beziehung zwischen beiderseitig gleichberechtigten, souveränen Staaten: Die Gegner, auf beiden Seiten in gleicher Weise als justus hostis anerkannt, standen einander auf gleicher Ebene gegenüber. Das Gleichgewicht der rechtlich anerkannten und wirklich souveränen Staaten war tragende Säule des europäischen Friedens. Dabei handelte es sich nicht um eine politisch-propagandistische Gleichgewichtspolitik, sondern um eine große praktische Überlegenheit der Gleichgewichts-Vorstellung, in derer die Fähigkeit lag, eine Hegung des Krieges zu bewirken. Solches als gemeinsam empfundenes Gleichgewichts-System war für Schmitt sogar wichtiger als die Souveränität und Nicht-Intervention. Die europäischen Großmächte spielten dabei die führende Rolle, weil sie sich in erster Linie an der Bewahrung und Pflegen des Gleichgewichtes interessierten, um die Zerstörung der bestehenden Weltordnung zu vermeiden. (4)
Nach dem Ersten Weltkrieg löste sich das Jus Publicum Europaeum und mit ihm brachte sich auch das europäische Gleichgewichts-System zusammen. Die Vereinigten Staaten von Amerika als neue Supermacht versuchten, das zerstörte System durch eine andere Grundlage der Weltordnung zu ersetzen, die den global gewordenen amerikanischen Interessen gerecht werden konnte. Man könnte dabei über ein neues System des hegemonialen Gleichgewichtes sprechen, das die Vereinigten Staaten von Amerika auf dem amerikanischen Kontinent erfolgreich erprobt und sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in der Genfer Liga herausgebildet hatten. Es waren zuerst die amerikanischen Staaten wie Kuba, Haiti, San Domingo, Panama und Nicaragua, die formal souverän, aber in der Wirklichkeit von den Vereinigten Staaten wirtschaftlich und militärisch abhängig waren. Es führte, nach Schmitt, zum modernen Typus der Intervention, wenn das amerikanische Interventionsrecht nicht nur durch Stützpunkte, militärische Besetzungen oder in anderen Formen der Gewalt gesichert wurde, wie es beim britischen Empire war, sondern auch durch Verträge und Vereinbarungen mit den gelenkten Staaten, so dass es möglich war, zu behaupten, dass hier im rein juristischen Sinne überhaupt keine Intervention mehr vorliegt. (5)
Europäisches Gleichgewichts-System und amerikanisches System des hegemonialen Gleichgewichtes sind seitdem zu zwei konkurrierenden Grundlagen für den Aufbau einer Weltordnung geworden. Das europäische Gleichgewichts-System hat sicherlich einen Vorteil: Es hat schon zwei Mal beweist, dass es fähig ist, eine Hegung des Krieges zu bewirken, nämlich in Europa vom 16. bis zum 20. Jahrhundert im Rahmen des Jus Publicum Europaeum und im Rahmen der bipolaren Welt des Kalten Krieges. Das amerikanische hegemoniale Gleichgewicht-System sollte man seine praktische Überlegenheit doch noch beweisen. Nach dem Ersten Weltkrieg, unter der Führung des Völkerbundes, hat es keine Erfolge gezeigt: Ein neuer Vernichtungskrieg von noch schrecklicherem Ausmaß brach in der Welt aus. Aber auch heute bewirkt es sich noch nicht überzeugend, obwohl nach dem Ende des Kalten Krieges die USA eine universelle Chance bekam, die Welt in allen ihren Formen (von Ökonomik bis Sport und Kultur) und in allen ihren Instituten (von NGO bis UNO) zu lenken.
Ein Gleichgewichts-System nach dem Vorbild des Jus Publicum Europaeum könnte eine vollwertige Alternative zu den amerikanischen Ambitionen im Kampf gegen die globale Anarchie sein. Es geht um den Aufbau einer multipolaren Welt. Eine Weltordnung des 21. Jahrhunderts, die auf den alten Prinzipien des Jus Publicum Europaeum beruht, ist möglich, wenn anstelle der souveränen Staaten des alten Europa, die das Fundament des europäischen Friedens bildeten, die Schmitts Großräume gelegt werden müssen. Zwischen den kulturellen Großräumen liegen die Konflikte der Zukunft, wie es Politikwissenschaftler Samuel Huntington treffend feststellte. Solche Kriege und Konflikte in der neu aufgebauten Weltordnung sind in der überschaubaren Zukunft möglich und sogar unvermeidlich. Sie sollen aber nicht durch Autorität der Siegermächte im Kalten Krieg, etwa als eine Spezialoperation, sondern durch die Willen von allen Großmächten, die die kulturellen Großräume vertreten, eingehegt werden. Nicht die Staaten, manche von denen sich in den verschiedenen Einflusszonen befinden und über keine echte Unabhängigkeit verfügen, sondern die Großmächte sind heute die wahren Souveränen. China, Indien, Russland … Auch für Europa schloss Huntington eine wirkliche Souveränität nicht aus.
In dieser neuen Welt sind die Großmächte gleichberechtigte Akteure und anerkannte justus hostis, also sie übernehmen die Rolle von wirklich souveränen Staaten des Jus Publicum Europaeum. Nicht die Abschaffung des Krieges (outlawry of war), die als amerikanischen Ideal der Freiheit und des Friedens auf amerikanischen Kontinent entstanden hat, sondern die Hegung des Krieges wird wieder zum Wesen des neuen Völkerrechts. Der Krieg selbst wird nicht mehr illegal, sollte aber durch die Regeln und Methoden auf der Basis der Gleichberechtigung von allen Beteiligten eingehegt werden. Die Weltmächte müssen dafür sorgen, dass die Akte der Aggression nicht zu großen Angriffskriegen eskalieren. Usw. In dieser Weltordnung ist das amerikanische hegemoniale Gleichgewichts-System obsolet, unabhängig von allen Bemühungen des Westens zu beweisen, dass nur er in der Lage ist, eine Welt ohne Chaos und Anarchie zu schaffen.
Dieser Prozess hat bereits begonnen, wenn wir uns die wachsende Rolle der „nicht-westlichen“ Staaten bei der internationalen Konfliktlösung vor Augen halten.
1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 238.
2. Ebenda, S. 46-47.
3. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Duncker&Humbolt GmbH, Berlin, 5. Auflage 2011, S. 158.
4. Ebenda, S. 161.
5. Ebenda, S. 225.