Dabei versteht Brzezinski unter der Demokratie traditionell die west-liberale Demokratie als die beste Regierungsform, also die ideelle politische System für die neue Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges. Er schreibt: „In einer Zeit, da die demokratische Regierungsform so weit verbreitet ist wie niemals zuvor, dient die politische Erfahrung der USA gern als Vorbild.“ Nie zuvor, so Brzezinski, hat eine wirklich im Volk verankerte Demokratie die internationale Politik dominiert. Amerika hat eine neue internationale Ordnung hervorgebracht, die viele Merkmale des amerikanischen Systems nicht nur kopiert, sondern auch institutionalisiert, nämlich Streitkräftestrukturen wie NATO, Wirtschaftskooperation APEC und NAFTA, spezialisierte Institutionen zu weltweiter Zusammenarbeit wie Weltbank, IWF, Welthandelsorganisation, WTO als auch Gerichtshof IGH. Washington ist der Ort, wo sich das Machtpoker abspielt, und zwar nach amerikanischen Regeln. (1)
Brzezinski schreibt: „Vielleicht das größte Kompliment, mit dem die Welt anerkennt, dass im Mittelpunkt amerikanischer globaler Hegemonie der demokratische Prozess steht, ist das Ausmaß, in dem fremde Länder in die amerikanische Innenpolitik verwickelt sind. Mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bemühen sich ausländische Regierungen, jene Amerikaner zu mobilisieren, mit denen sie eine besondere ethnische oder religiöse Identität verbindet. Die meisten ausländischen Regierungen setzen auch amerikanische Lobbyisten ein, um ihre Sache, vor allem im Kongress, voranzubringen, gar nicht zu reden von den etwa 1000 ausländischen Interessengruppen, die in Amerikas Hauptstadt registriert sind. Auch die ethnischen Gemeinschaften in den USA sind bestrebt, die Außenpolitik ihres Landes zu beeinflussen, hierbei stechen die jüdischen, griechischen und armenischen Lobbys als die am besten organisierten hervor.“ (2)
So wird durch die Lobbyarbeit ausländischer Gruppen für ihre Interessen in Washington das Prinzip der repräsentativen Demokratie unter amerikanischer Weltherrschaft verwirklicht. Was ist nicht der Prototyp einer repräsentativen Weltdemokratie, die von Amerika angeführt wird? Leider erwies sich diese Demokratie als eine weitere Illusion Brzezinskis, die durch die angeprangerte Russophobie im Kampf zwischen Demokraten und Republikanern zunichte gemacht wurde.
Brzezinski ist sich jedoch der Schwierigkeiten, die mit der Demokratisierung verbunden sind, durchaus bewusst. Er schreibt: „Das Amt des Weltpolizisten, das Amerika geerbt hat, wird daher kaum von Turbulenzen, Spannungen und zumindest sporadischen Gewaltausbrüchen verschont bleiben. Die neue und komplexe internationale Ordnung, die unter amerikanischer Hegemonie zustande kam und ihre Handschrift trägt, und innerhalb derer die Kriegsgefahr vom Tisch ist, wird sich wohl auf jene Teile der Welt beschränken, in denen demokratische Gesellschaften und Verfassungen sowie ausgeklügelte multilaterale – doch ebenfalls von Amerika dominierte –Strukturen die Macht der USA gestützt haben.“ Verantwortung Amerikas als Garant der Stabilität und des Friedens in der Welt besteht also darin, die demokratische Wende in der Welt zu fördern. (3)
Dabei ist die Rolle Europas von grundlegender Bedeutung, insbesondere bei der Demokratisierung des Eurasiens: Es sollte Amerikas „demokratischer Brückenkopf“ werden. Brzezinski schreibt: „Europa ist Amerikas natürlicher Verbündeter. Es teilt dieselben Werte und, im wesentlichen, dasselbe religiöse Erbe; es ist demokratischen Prinzipien verpflichtet und ist die ursprüngliche Heimat der großen Mehrzahl Amerikaner. … Außerdem dient Europa als Sprungbrett für die fortschreitende Ausdehnung demokratischen Verhältnisse bis tief in den euroasiatischen Raum hinein. Europa Osterweiterung würde den Sieg der Demokratie in den 1990er-Jahren festigen.“ (4)
Brzezinski träumt um eines größeren Europa, das „mit der Ukraine, Weißrussland und Russland ein Beziehungsgeflecht aufbauen, sie zu einer immer engeren Zusammenarbeit bewegen und im gleichen Zuge für die gemeinsamen demokratischen Prinzipien gewinnen“ könnte. Letztlich sollte ein geeintes Europa das Modell für einen postnationalen demokratischen Weltstaat sein. Brzezinski schreibt: „Beim Versuch der Integration von ehemaligen Nationalstaaten in eine gemeinsame supranationale Wirtschafts- und schließlich auch politische Union weist Europa außerdem den Weg zu größeren Formen postnationaler Organisation, jenseits der engstirnigen Visionen und zerstörerischer Leidenschaften, die dem Zeitalter des Nationalismus sein Gepräge gaben.“ (5)
Das Hauptproblem für Brzezinski auf diesem großen Weg ist Russland. Die Frage ist, ob Russland gleichzeitig ein mächtiger Staat und eine Demokratie sein kann? Einerseits ist Russlands innenpolitische Erholung die wesentliche Voraussetzung für seine Demokratisierung und letztlich für seine Europäisierung. Anderseits wäre jede Erholung seines imperialen Potentials beiden Zielen abträglich. Verständlicherweise muss die vorrangige Aufgabe sein, die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass ein zerbröckelnder, immer noch über ein mächtiges Atomwaffenarsenal verfügender Staat in politische Anarchie verfällt oder sich wieder in eine feindliche Diktatur verwandelt. Als langfristige Aufgabe bleibt also das Problem zu lösen, wie man Russlands Demokratisierung und wirtschaftliche Erholung unterstützen und dabei das erneute Entstehen eines eurasischen Imperiums vermeiden kann – ein Imperium, das Amerika an der Verwirklichung seines geostrategischen Ziels hindern könnte, ein größeres euroatlantisches System zu entwerfen, in welches sich dann Russland dauerhaft und sicher einbeziehen lässt. (6)
Ein geostrategisch grundlegendes Problem wirft auch China. Die beste Lösung wäre es, wenn man ein zur Demokratie findendes, marktwirtschaftlich organisiertes China in einen größeren Rahmen regionaler Zusammenarbeit einbinden könnte. Daher muss demokratische Kontinuität in Japan und Indien als eine zuversichtlichere Perspektive für die zukünftige politische Gestalt der Welt nicht unterschätzt werden. Tatsächlich legen die Erfahrungen dieser beiden Staaten sowie Südkoreas und Taiwans nahe, dass Chinas anhaltendes Wirtschaftswachstum vielleicht auch eine fortschreitende Demokratisierung des politischen Systems mit sich bringen könnte, sobald das Land stärker in die internationale Staatengemeinschaft eingebunden ist und von daher gedrängt wird, einen Wandel herbeizuführen. Sich diesen Herausforderungen zu stellen, so Brzezinski, ist Amerikas Bürde und auch seine besondere Verantwortung. (7)
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Es ist schwer zu sagen, ob Brzezinski wirklich an die Macht der amerikanischen Demokratie glaubte oder sich nur damit schmückte, um die Etablierung der einzigen Weltsupermacht Amerika zu beweisen. Sein Glaube an die Demokratie scheint unverhohlen zu sein, so dass man nur bezweifeln kann, dass er als erfahrener Politiker die Bedeutung der demokratischen Rhetorik in politischen Kämpfen nicht übersehen konnte. Die Logik der westlichen Macht beinhaltet immer die Notwendigkeit, sich auf demokratische Werte zu berufen, um eigene Interessen zu verteidigen und dadurch diese Werte zu missbrauchen. Es ist kein Zufall, dass Demokratie, so wie sie im Westen verstanden wird, im Munde westlicher Politiker und in den westlichen Medien wie etwas Unveränderliches, Ewiges, Vollkommenes und ohne Widerspruch oder Kritik klingt. Dann wundern sie sich naiv, warum die Demokratie auf dem Planeten nicht so gut Fuß fasst, und brechen Brzezinskis Konzept der Demokratisierung Russlands, Chinas und anderer Länder.
1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 42-43, 45, 256.
2. Ebenda, S. 45
3. Ebenda, S. 239
4. Ebenda, S. 77.
5. Ebenda, S. 77, 79.
6. Ebenda, S. 71-72, 113.
7. Ebenda, S. 74, 260.