Eine amerikanische Geostrategie gegenüber Russland besteht darin, den Wiederaufbau des russischen Imperiums zu verhindern und das Land in Westeuropa zu assimilieren.
Während im Westen der Zusammenbruch der Sowjetunion Erleichterung und Euphorie auslöste, war er für das multinationale Russland ein Schock. Brzezinski verstand dies sehr gut. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, stellt er fest, löste im Herz des Eurasiens ein ungeheures geopolitisches Durcheinander aus. Der historische Schock, den die Russen erlitten, wurde noch durch den Umstand vergrößert, dass an die 20 Millionen russischsprachiger Menschen nun Bürger ausländischer Staaten waren. Der Verlust des Kaukasus gab den strategischen Ängsten vor einem wiederauflebenden türkischen Einfluss neue Nahrung. Die Abspaltung Zentralasiens erzeugte angesichts der dort vorhandenen enormen Energiequellen und Bodenschätze ein Gefühl der Deprivation und schürte Ängste vor einer potentiellen islamischen Bedrohung, und die Unabhängigkeit der Ukraine stellte den russischen Anspruch, der von Gott auserkorene Bannerträger einer gemeinsamen panslawistischen Identität zu sein, geradezu im Kern in Frage. Weiter nach Südosten hin führte die geopolitische Erschütterung einen ähnlich bedeutsamen Wandel im Status des Kaspischen Beckens und Zentralasiens herbei. (1)
Auch in Fernost hat Russland mit einer bedrohlichen neuen geopolitischen Lage zu tun. Über mehrere Jahrhunderte hinweg, so Brzezinski, war China – zumindest auf politisch-militärischem Gebiet – schwächer und rückständiger gewesen als Russland. Aber heute, mit der enormen Tatkraft seiner 1,2 Milliarden Menschen, schickt sich Chinas Wirtschaftsmacht an, die historische Gleichung zwischen den beiden Ländern von Grund auf umzukehren, wobei die leeren Räume Sibiriens chinesische Siedler fast schon herbeiwinken. Diese atemberaubenden neuen Gegebenheiten konnten für das russische Sicherheitsbewusstsein in der fernöstlichen Region wie auch für seine Interessen in Zentralasien nicht folgenlos bleiben. (2)
Die größten Verluste erlitt Russland jedoch auf der internationalen Bühne. Brzezinski schreibt: „Am allerschmerzlichsten freilich war Russlands beträchtliche Einbuße an internationalem Prestige: Nun war die eine der beiden Supermächte in den Augen vieler kaum mehr als eine Regionalmacht in der Dritten Welt, obwohl sie noch immer ein bedeutendes, wenn auch zunehmend veraltetes Atomwaffenarsenal besitzt.“ Doch für Brzezinski bleibt Russland ein geostrategischer Hauptakteur – trotz seiner derzeitigen Schwäche und seiner wahrscheinlich langwierigen Malaise. Russland nährt ehrgeizige geopolitische Ziele, die es immer offener verkündet. Brzezinski schreibt: „Es mag durchaus der Auffassung zuneigen, dass seine Chancen auf dem eurasischen Kontinent größer seien. Viel hängt von seiner innenpolitischen Entwicklung ab, und vor allem davon, ob Russland eine europäische Demokratie oder wieder ein eurasisches Imperium wird.“ (3)
Die Neigung Russland, ein eurasisches, obwohl falsch interpretiertes Imperium zu wiederherstellen, zwingt Brzezinski, eine Alternative für eine, auf seiner Sicht sehr gefährliche Entwicklung zu suchen. Für ihn könnte es ein demokratisches, auf Europa ausgerichtetes Russland sein. Er schreibt: „Es ist leicht, auf die Frage nach Russlands Zukunft mit der Beteuerung zu antworten, dass man ein demokratisches, eng an Europa gebundenes Russland bevorzuge. Vermutlich brächte ein demokratisches Russland den von Amerika und Europa geteilten Werten mehr Sympathie entgegen und würde demgemäß auch mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Juniorpartner bei der Gestaltung eines stabileren und kooperativeren Eurasien.“ Er stellt fest: „Den Russen sollte beständig versichert werden, dass ihnen die Tür zu Europa offensteht, ebenso wie die zu seiner späteren Beteiligung ihres Landes an einem erweiterten transatlantischen Sicherheitssystem und vielleicht in fernerer Zukunft an einer neuen transeurasischen Sicherheitsstruktur. Um diesen Beteuerungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, sollten die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Russland und Europa auf allen Gebieten ganz bewusst gefördert werden.“ (4)
Es ist jedoch sehr zweifelhaft, dass sich Russland mit der Anerkennung und dem Respekt als demokratisches Land zufrieden geben wird. Brzezinski schreibt: „Innerhalb der russischen Außenamtsbehörde (die zum größten Teil aus früheren Sowjetbürokraten besteht) lebt und gedeiht ungebrochen ein tiefsitzendes Verlangen nach einer Sonderrolle in Eurasien, die folgerichtig mit einer neuerlichen Unterordnung der nun unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken gegenüber Moskau einherginge. In diesem Zusammenhang wittern einige einflussreiche Mitglieder der russischen Politbürokratie sogar hinter einer freundlichen Politik des Westens die Absicht, Russland seinen rechtmäßigen Anspruch auf Weltmachtstatus streitig zu machen.“ (5)
Generell, erläutert Brzezinski, kann man sagen, dass in Reaktion auf den Zusammenbruch der Sowjetunion drei umfassende und zum Teil sich überschneidende geostrategische Optionen aufgetaucht sind, deren jede letztlich mit Russlands Sorge um seinen Status gegenüber den USA zusammenhängt. Die erste Denkschule vertreten diejenigen, für die die vollentwickelte strategische Partnerschaft mit Amerika Priorität hat. Brzezinski schreibt: „Die neuen Führer fühlten sich geschmeichelt, mit den politischen Repräsentanten der einzigen Supermacht der Welt auf Du und Du zu stehen, und gaben sich unkritisch der Selbsttäuschung hin, ebenfalls an der Spitze einer Supermacht zu stehen. Als die Amerikaner das Schlagwort von der vollentwickelten strategischen Partnerschaft zwischen Washington und Moskau in die Welt setzten, schien es den Russen, als sei damit ein neues demokratisches amerikanisch-russisches Kondominat – an Stelle des vormaligen Konkurrenzkampfes – sanktioniert worden. Da dieses Kondominium von seinem Geltungsbereich her global wäre, würde Russland zum Rechtsnachfolger der früheren Sowjetunion und zum de-facto-Partner in einer globalen Übereinkunft, die auf echter Gleichberechtigung beruhte. Wie die neuen russischen Machthaber nie müde wurden zu behaupten, hätte das bedeutet, dass die übrige Welt Russland als Amerika ebenbürtig anerkennen solle, und darüber hinaus, dass kein globales Problem ohne Russlands Beteiligung und/oder Erlaubnis angepackt oder gelöst werden könne.“ (6)
Brzezinski fand solchen Ansatz, der auf einer völlig unrealistischen Einschätzung sowohl der internationalen als auch der innenpolitischen Lage Russlands beruhte, problematisch. Er schreibt: „Amerika verspürte keinerlei Neigung, seine Weltmacht mit Russland zu teilen; es wäre auch völlig unrealistisch gewesen. Das neue Russland war einfach zu schwach, seine Wirtschaft in einem dreiviertel Jahrhundert kommunistischer Herrschaft zu heruntergekommen und das Land gesellschaftlich zu rückständig, um ein wirklicher Partner im globalen Maßstab zu sein. In den Augen der amerikanischen Führung waren Deutschland, Japan und China mindestens ebenso wichtig und einflussreich. … Bevor Russland nicht einen langwierigen Prozess politischer Reformen, einen ebenso langwierigen Prozess demokratischer Stabilisierung und einen noch längeren Prozess sozioökonomischer Modernisierung durchmachte und damit einhergehend einen Gesinnungswandel hinsichtlich der neuen politischen Gegebenheiten nicht nur in Mitteleuropa, sondern vor allem auch in dem vormaligen Russischen Reich vollzog, konnte eine echte Partnerschaft mit Amerika keine taugliche geopolitische Option werden.“ (7)
Und gleich macht Brzezinski ein wichtiges Geständnis: „Vielleicht hätte die Enttäuschung abgewendet werden können, wenn sich Amerika schon früher – während der amerikanisch- russischen Flitterwochen sozusagen – den Plan einer NATO-Erweiterung zu eigen gemacht und Russland gleichzeitig einen Deal angeboten hätte, den es nicht hätte ablehnen können, nämlich ein besonderes Kooperationsverhältnis zwischen Russland und der NATO. Wären die Amerikaner von vornherein klar und entschieden für eine Erweiterung des Bündnisses eingetreten unter der Bedingung, dass Russland in irgendeiner Form in den Prozess mit eingebunden werden sollte, dann hätte die spätere Enttäuschung Moskaus über die vollentwickelte strategische Partnerschaft möglicherweise ebenso vermieden werden können wie die fortschreitende Schwächung des prowestlichen Lagers im Kreml.“ (8)
Der richtige Zeitpunkt dafür wäre im zweiten Halbjahr 1993 gewesen, unmittelbar nachdem Jelzin im August Polens Interesse an einem Beitritt zur transatlantischen Allianz als mit den Interessen Russlands vereinbar gebilligt hatte. Brzezinski fügt hinzu: „Statt dessen verfolgte die Clinton-Administration unverdrossen ihre Russland-geht-vor-Politik, die sich noch weitere zwei Jahre dahinquälte, in denen der Kreml seine Meinung änderte und gegenüber den inzwischen auftauchenden vagen Hinweisen auf die von den USA beabsichtigte NATO-Erweiterung eine zunehmend feindliche Haltung einnahm. Als Washington 1996 endlich beschloss, der NATO-Erweiterung in seiner auf die Gestaltung einer größeren und sichereren euroatlantischen Gemeinschaft abzielenden Politik Priorität einzuräumen, hatten sich die Russen bereits in eine starre Opposition verrannt. Folglich könnte man 1993 als das Jahr einer verpassten historischen Chance ansehen.“ (9)
Die NATO – und EU-Erweiterung spielt eine Schlüsselrolle in Brzezinskis eurasischer Geostrategie. Ein größeres Europa und eine erweiterte NATO, meint er, sind den kurz- und längerfristigen Zielen der US-Politik durchaus dienlich. Er schreibt: „Ein größeres Europa wird den Einflussbereich Amerikas erweitern – und mit der Aufnahme neuer Mitglieder aus Mitteleuropa in den Gremien der Europäischen Union auch die Zahl der Staaten erhöhen, die den USA zuneigen.“ Daraus ergibt sich die folgende Schlussfolgerung: „Aus diesem Grund sollte keine Vereinbarung mit Russland über die Frage einer NATO-Erweiterung darauf hinauslaufen, dass Russland de facto am Entscheidungsfindungsprozess des Bündnisses beteiligt wird und dadurch den spezifisch euroatlantischen Charakter der NATO aufweicht, während deren neu aufgenommene Mitglieder zu Staaten zweiter Klasse degradiert werden. Damit erhielte nämlich Russland nicht nur die Gelegenheit, von Neuen zu versuchen, seine Einflusssphäre in Mitteleuropa wiederzugewinnen, es könnte auch seine Präsenz in der NATO dazu missbrauchen, jede Meinungsverschiedenheit zwischen Amerika und Europa geschickt auszunutzen, um die Rolle der USA in europäischen Angelegenheit zu schwächen.“ (10)
Daher ist eine aktive Beteiligung Russlands an der NATO nicht wünschenswert, ganz zu schweigen von einer Aufnahme Russlands in die NATO: Sie würde, so Brzezinski, der amerikanischen Geostrategie auf dem eurasischen Kontinent widersprechen. „Ja, das Scheitern einer von den USA getragenen Bemühung, die NATO auszudehnen, könnte sogar ehrgeizigere russische Wünsche wieder aufleben lassen“, – schließt Brzezinski. (11) Die EU – und NATO-Erweiterung nach Osten ist also nicht irgendeine Laune des Westens, sondern eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Aufbau einer unipolaren Welt unter der Schirmherrschaft der Vereinigten Staaten.
Die zweite russische Denkschule vereint diejenigen, die der Meinung sind, dass den Beziehungen zum nahen Ausland vorrangig seien muss. In den Augen mancher Russen war die Förderung wirtschaftlicher Integration mit den ehemaligen Sowjetrepubliken unter der Führung Moskau eine zweckmäßige, wirkungsvolle und politisch verantwortungsbewusste Strategie. Einige sogar glaubten, dass die GUS sich zu einer von Moskau gelenkten Version der EU entwickeln könnte. Ebenfalls dazu gehören slawophile Romantiker, die für eine aus Russland, der Ukraine und Weißrussland bestehende Slawische Union eintraten und schließlich noch die Verfechter eines etwas mystischen Eurasianismus als der endgültigen Definition der historischen Mission Russlands. (12)
Deshalb verbirgt sich für Brzezinski im Aufbau der GUS nicht nur eine „objektive wirtschaftliche Gegebenheiten“, sondern auch „eine starke Dosis subjektiver imperialer Entschlossenheit“. Er schreibt: „Keine der beiden Komponenten aber lieferte eine philosophischere oder auch nur geopolitische Antwort auf die quälende Frage: Was ist Russland, worin besteht seine wahre Mission und sein rechtmäßiger Geltungsbereich? Genau dieses Vakuum versuchte der ebenfalls auf das nahe Ausland konzentrierte Eurasianismus auszufüllen, der immer mehr Anklang fand. Diese eher kulturphilosophische, ja sogar mystisch gefärbte Gruppierung ging von der Prämisse aus, Russland sei geopolitisch und kulturell weder so recht ein europäisches noch ein asiatisches Land, und postulierte für es eine eigene, eurasische Identität. (13)
Die Ansichten des Eurasismus, so Brzezinski, „fanden bei einer Vielzahl nationalistischer Politiker Russlands ein, wenn auch primitiveres, Echo“. Sie sind sogar Teil von Wahlkampagnen geworden. Brzezinski schreibt: „Trotz seines marxistisch-leninistischen Hintergrunds betonte Jelzins kommunistischer Herausforderer bei der Wahl 1996, Gennadij Sjuganow, ganz im Sinne des mystischen Eurasismus, die besondere geistige und missionarische Rolle des russischen Volkes in den riesigen Weiten Eurasiens und ließ erkennen, dass Russland aufgrund seiner Kultur und seiner günstigen geographischen Basis geradezu prädestiniert sei, weltweit als Führungsmacht aufzutreten. Eine etwas nüchternere und pragmatischere Version des Eurasismus brachte auch der Regierungschef von Kasachstan, Nursultan Nazarbajew, vor. Um den Druck Moskaus auf politische Integration etwas abzuschwächen, propagierte Nazarbajew den Plan einer eurasischen Union als Alternative zu der gesichts- und wirkungslosen GUS. Wenn seiner Version gewiss keine spezielle missionarische Rolle für die Russen als Führer Eurasiens postulierte, so beruhte sie doch auf der Idee, dass Eurasien – geographisch etwa dem Raum der Sowjetunion entsprechend – ein organisches Ganzes bilde, dem auch eine politische Dimension gebühre.“ (14)
Doch die russische Option „nahes Ausland“ ist für Brzezinski keine politische Lösung, sondern eine geopolitische Illusion. Nach ihm ist Russland politisch nicht stark genug, um die neuen Staaten seinen Willen aufzuzwingen, und es ist auch wirtschaftlich nicht attraktiv genug, um diese freiwillig zu engerer Zusammenarbeit zu bewegen. Russischer Druck bewirke lediglich, dass sie sich noch stärker nach außen orientierten, zuerst und vor allem zum Westen hin, in einigen Fällen auch nach China und den wichtigsten islamischen Staaten im Süden. Brzezinski fragt sich: Wenn aber kein Kondominat mit Amerika und ebenso wenig das „nahe Ausland“ – welche andere geostrategische Option stand Russland dann noch offen? Und er antwortet selbst darauf: „Da die Westorientierung für ein demokratisches Russland nicht zu der ersehnten globalen Gleichstellung mit Amerika führte, die ohnehin mehr Schlagwortcharakter hatte, als dass sie der Realität entsprochen hätte, machte sich unter den Demokraten Enttäuschung breit. Hingegen verleitete die widerwillige Einsicht, dass eine Reintegration des alten Imperiums bestenfalls eine ferne Möglichkeit sei, einige russische Geopolitiker dazu, mit dem Gedanken irgendeiner Gegenallianz zu spielen, die sich gegen die Vormachtstellung der USA in Eurasien richten sollte.“ (15)
Es handelt sich um die dritte russische Denkschule, die denjenigen vereinigt, „die ein Gegenbündnis anstrebt, also eine Art von eurasischer Anti-USA-Koalition, die das Übergewicht der Vereinigten Staaten in Eurasien verringern soll.“ Brzezinski schreibt: „Anfang 1996 ersetzte Präsident Jelzin seinen westlich orientierten Außenminister Kosyrew durch den erfahreneren, aber zu Sowjetzeiten linientreu kommunistischen Fachmann für internationale Beziehungen Jewgenij Primakow, dessen Interesse seit langem schon dem Iran und China galt. Es wurde vermutet, dass es unter Primakow schneller zu einer neuen antihegemonialen Koalition jener drei Mächte kommen werde, die an einer Schwächung der amerikanischen Position das größte geopolitische Interesse haben. … Zu Beginn des Jahres 1996 reiste Jelzin nach Peking und unterzeichnete eine Erklärung, in der das Streben nach globaler Hegemonie ausdrücklich verurteilt wurde, ein deutlicher Hinweis darauf, dass die beiden Staaten sich gegen die USA verbünden würden. Im Dezember erwiderte der chinesische Premierminister Li Peng den Besuch, und beide Seiten wiederholten nicht nur ihre Ablehnung eines von einer einzigen Macht beherrschten internationalen Systems, sondern sprachen sich auch für den Ausbau bestehender Bündnisse aus.“ (16)
Allerdings, betont Brzezinski, kann sich eine Koalition, die Russland mit China und dem Iran verbände, nur dann entwickeln, wenn die Vereinigten Staaten so kurzsichtig sind, sich China und den Iran gleichzeitig zum Feind zu machen. Zwar kann diese Eventualität nicht ausgeschlossen werden, doch war weder der Iran noch China bereit, sich in strategischer Hinsicht mit einem instabilen und schwachen Russland zusammenzutun. Brzezinski fügt hinzu: „In Ermangelung einer verbindenden Ideologie und bloß aus einer antihegemonialen Animosität heraus würde eine solche Koalition im Grunde eine Dritte-Welt-Gruppierung gegen die führenden Nationen der Ersten Welt sein. Keines ihrer Mitglieder könnte viel dabei gewinnen, und vor allem China würde seine enormen Investitionszuflüsse aufs Spiel setzen. Auch für Russland würde ‚das Phantom einer russisch-chinesischen Allianz … die Gefahr verschärfen, abermals von westlicher Technologie und westlichem Kapital abgeschnitten zu werden‘, wie ein kritisch eingestellter russischer Geopolitiker dazu bemerkte.“ (17)
Brzezinski ist sicher: Die Lösung für Russlands geopolitisches Dilemma wird nicht in einer Gegenallianz zu finden sein, ebenso wenig wird sie sich mit der Illusion einer gleichberechtigten strategischen Partnerschaft mit Amerika erreichen lassen oder durch irgendeine neue politische oder ökonomische Integration auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion. Er schreibt: „Russlands einzige geostrategische Option – die Option, die ihm eine realistische Rolle auf der internationalen Bühne eintragen und auch seine Chancen für eine gesellschaftliche Veränderung und Modernisierung erhöhen könnte – ist Europa. Und zwar nicht irgendein Europa, sondern das transatlantische Europa einer erweiterten EU und NATO. … Wie schnell dieser Prozess vonstattengehen wird, lässt sich nicht voraussagen, aber eines ist sicher: Er wird sich beschleunigen, wenn ein geopolitischer Kontext geschaffen ist, der Russland in diese Richtung treibt und zugleich andere Versuchungen ausschließt. Je rascher sich Russland auf Europa zubewegt, desto schneller wird sich das Schwarze Loch im Herzen Eurasiens mit einer Gesellschaft füllen, die immer modernere und demokratischere Züge annimmt. Tatsächlich besteht das Dilemma für Russland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu treffen, denn im Grunde geht es ums Überleben.“ (18)
Ausschlaggebend ist Brzezinskis Vorstellung über die zukünftige Regierungsform des Russlands. Er meint, dass Gebietseinbußen nicht Russlands Hauptproblem sind. Vielmehr muss das riesige Russland als der größte Flächenstaat der Erde der Tatsache ins Auge sehen, dass Europa und China beide schon heute wirtschaftlich mächtiger sind. Unter diesen Umständen sollte sich die politische Führung in Moskau deutlicher darüber bewusst werden, dass Russland in erster Linie sich selbst modernisieren muss, anstatt sich auf nutzlose Bemühungen einzulassen, seinen früheren Status als Weltmacht wiederzuerlangen. Angesichts der enormen Ausdehnung und Vielfalt des Landes würde wahrscheinlich ein dezentralisiertes politisches System auf marktwirtschaftlicher Basis das kreative Potential des russischen Volkes besser zur Entfaltung bringen. Solches Russland wäre auch weniger anfällig für imperialistische Propaganda. Brzezinski folgert: „Einem lockerer konföderierten Russland – bestehend aus einem europäischen Russland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik – fiele es auch leichter, engere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, den neuen Staaten Zentralasiens und dem Osten zu pflegen, die wiederum Russlands eigene Entwicklung beschleunigten. Jede dieser drei konföderierten Einheiten könnte das kreative Potential vor Ort besser erschließen, das jahrhundertelang durch die schwerfällige Bürokratie Moskaus erstickt wurde.“ (19)
* * *
Wir dürfen die Zeit nicht vergessen, in der Brzezinski sein Buch zur Veröffentlichung vorbereitete. Es war die zweite Hälfte der 1990er Jahre, als es schien, als würde sich Russland als Weltmacht endgültig von der weltpolitischen Bühne zurückziehen. Im Jahr 1996, bei den neuen Präsidentschaftswahlen in Russland, war die Gefahr, dass der unberechenbare Kommunist Sjuganow an die Macht kommt, gebannt. Der neu gewählte Jelzin folgte gehorsam den Anweisungen aus dem Westen. Die Macht in Russland ging allmählich an die Oligarchen über, was zum Begriff „Semibojarschtschina“ führte – einem Echo der unruhigen Zeiten des frühen 15. Jahrhunderts. Die Armee und der militärisch-industrielle Komplex wurden abgebaut, und an den Rändern der ehemaligen Sowjetunion tobten weiterhin Bürgerkriege. Der politische Islam erhob sein Haupt und drohte, die Grundlage des russischen Staatssystems – seine territoriale Einheit – zu untergraben. Wer hätte damals schon mit diesem Koloss auf tönernen Füßen gerechnet? Es gab nur eine einzige Bedrohung durch Russland, und das war der Besitz von Atomwaffen.
Die weitere Schwächung Russlands, umgeben von stärkeren und dynamischeren Nachbarn, war die Grundlage von Brzezinskis Konzept. Aber die Geschichte hat wieder einmal eine Überraschung für die Welt vorbereitet, indem sie Russland mit dem Amtsantritt Putins auf den Weg des Wirtschaftswachstums brachte und seine politische Position in der Welt stärkte. Brzezinskis gesamte strategische Logik gegenüber Russland begann zu bröckeln. Es steht nicht mehr im Vorzimmer Amerikas und sucht dessen Anerkennung, sondern baut hartnäckig seine militärische und wirtschaftliche Souveränität auf, mit der Amerika einfach rechnen muss. Seine technische Unabhängigkeit vom Westen schmilzt vor unseren Augen dahin. Die Eurasische Wirtschaftsunion hat stattgefunden, die Integration in Europa ist nicht zu Russlands einziger geostrategischer Option geworden, die Beziehungen zu China und dem Iran werden immer enger, und die antiamerikanische Koalition gewinnt an Stärke. Endlich wurde Russland von der Schimäre einer möglichen Aufteilung in Kleinstaaten befreit.
Was Brzezinski am meisten befürchtet hat, ist Wirklichkeit geworden: Auf dem eurasischen Kontinent ist ein Rivale entstanden, der Amerikas Anspruch auf die Weltherrschaft in Frage stellen kann.
1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 114-116.
2. Ebenda, S. 122.
3. Ebenda, S. 115-116, 62-63.
4. Ebenda, S. 70, 109
5. Ebenda, S. 70-71.
6. Ebenda, S. 125, 127.
7. Ebenda, S. 128, 134.
8. Ebenda, S. 128-129.
9. Ebenda, S. 129.
10. Ebenda, S. 243, 245.
11. Ebenda, S. 244.
12. Ebenda, S. 126, 135.
13. Ebenda, S. 138-139.
14. Ebenda, S. 140-141.
15. Ebenda, S. 145-146.
16. Ebenda, S. 126, 146-147.
17. Ebenda, S. 147-148.
18. Ebenda, S. 149, 154.
19. Ebenda, S. 246-247.