Eine amerikanische Geostrategie gegenüber Europa besteht darin, sie als demokratischen und geopolitischen Brückenkopf Amerikas an der Westflanke Eurasiens zu festigen.
Brzezinski sieht Europa nicht nur als demokratisches, sondern vor allem als unverzichtbarer geopolitischer Brückenkopf Amerikas auf dem eurasischen Kontinent. Er schreibt: „Die Alte Welt ist für die USA von enormem geostrategischem Interesse. Anders als die Bindungen an Japan verankert das atlantische Bündnis den politischen Einfluss und die militärische Macht Amerikas unmittelbar auf dem eurasischen Festland. Bei derzeitigem Stand der amerikanisch-europäischen Beziehungen, da die verbündeten europäischen Nationen immer noch stark auf den Sicherheitsschild der USA angewiesen sind, erweitert sich mit jeder Ausdehnung des europäischen Geltungsbereichs automatisch auch die direkte Einflusssphäre der Vereinigten Staaten. Umgekehrt wäre ohne diese engen transatlantischen Bindungen Amerikas Vormachtstellung in Eurasien schnell dahin.“ (1)
Das atlantische Bündnis und der Sicherheitsschild der USA machen also Europa zur wichtigsten geopolitischen Schachfigur auf dem eurasischen Schachbrett. Je größer und stärker ein solches Europa ist, desto näher kommt Amerika seinem Ziel. Dies erleichtert das Verständnis der amerikanischen Geostrategie gegenüber Europa. Brzezinski schreibt: „Amerikas zentrales geostrategisches Ziel in Europa lässt sich also ganz einfach zusammenfassen: durch eine glaubwürdigere transatlantische Partnerschaft muss der Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden, dass ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werden kann, von dem aus sich eine internationale Ordnung der Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten lässt.“ (2)
Dabei das Prinzip, „dass die politische Einheit und die Sicherheit Europas unteilbar sind“, ist für Brzezinski unumstößlich. Er schreibt: „Ein wirklich geeintes Europa ohne einen gemeinsamen Sicherheitspakt mit den USA ist in praxi schwer vorstellbar. Daraus folgt, dass Staaten, die Beitrittsgespräche mit der EU aufnehmen wollen, und dazu eingeladen werden, in Zukunft automatisch unter den Schutz der NATO gestellt werden sollten. Infolgedessen wird der Prozess der EU-Erweiterung und der Ausdehnung des transatlantischen Sicherheitssystems wahrscheinlich in wohlüberlegten Etappen voranschreiten.“ Brzezinski ist davon überzeugt, dass ein größeres Europa und eine erweiterte NATO voll und ganz mit den kurz- und langfristigen politischen Zielen der USA vereinbar sind. (3)
Doch der Verwirklichung dieser scheinbar einfachen und geradlinigen Geostrategie steht ein großes Hindernis im Weg, und zwar Europa selbst. Das Hauptproblem für Brzezinski besteht darin, dass es ein rein europäisches Europa noch nicht gibt. „Die europäische Einigung ist zunehmend ein Prozess und kein Faktum“, meint er und fügt hinzu: „Ein politisches Europa muss erst noch entstehen.“ Er hatte allen Grund, so zu denken. Vor allem geht es um Westeuropa, das bereits ein gemeinsamer Markt ist, aber weit davon entfernt, eine politische Einheit zu bilden. Brzezinski schreibt: „Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern. Dies ist kein gesunder Zustand, weder für Amerika noch für die europäischen Nationen.“ (4)
In mehreren europäischen Staaten, so Brzezinski weiter, lassen sich eine Vertrauenskrise und ein Verlust kreativen Schwungs feststellen. Nach ihm ist es nicht klar, ob die meisten Europäer überhaupt eine künftige Großmacht Europa wollen und ob sie bereit sind, das für ihr Zustandekommen Nötige zu tun. Auch der europäische, obwohl gegenwärtig schwache Antiamerikanismus ist für ihn merkwürdig zynisch: „Die Europäer beklagen die Hegemonie der USA, nehmen deren Schutz aber durchaus in Anspruch.“ Aber das größte Problem findet Brzezinski voraussichtlich in der Weise, mit der die Europäer ihrer politischen Einheit bilden. Er schreibt: „Der Antrieb zu einem geeinten Europa geht mehr und mehr von dem riesigen Behördenapparat aus, den die Europäische Gemeinschaft und ihre Nachfolgerin, die Europäische Union hervorgebracht hat. Der Gedanke der Einheit erfreut sich bei der Bevölkerung noch immer bemerkenswert breiter Unterstützung, aber er ist eher lau, es fehlt ihm an Begeisterung und Sendungsbewusstsein.“ (5)
Brzezinski schließt nicht die Möglichkeit einer großen europäischen Neuorientierung aus, die entweder eine deutsch-russische Absprache oder eine französisch-russische Entente zur Folge hätte. Für beide gibt es in der Geschichte eindeutige Präzedenzfälle, und zu einer von beiden könnte es kommen, wenn die europäische Einigung ins Stocken geriete und sich die Beziehungen zwischen Europa und Amerika ernsthaft verschlechtern sollten. Brzezinski schreibt: „Tatsächlich könnte man sich im letzteren Falle eine europa-russische Übereinkunft vorstellen, die Amerika vom Kontinent ausschlösse. … Zudem fühlen sich sowohl Frankreich als auch Deutschland dazu berufen, die europäischen Interessen in ihren Beziehungen mit Russland zu vertreten, und Deutschland hält wegen seiner geographischen Lage an der Option einer besonderen bilateralen Vereinbarung mit Russland fest.“ (6)
Brzezinski ist nicht weniger besorgt über russische Intrigen. Er schreibt: „Und schließlich hegten einige außenpolitische Experten Russlands weiterhin die Hoffnung, dass ein Stillstand des europäischen Einigungsprozesses einschließlich vielleicht westlicher Meinungsverschiedenheiten über die künftige Gestalt der NATO am Ende zumindest taktische Möglichkeiten für einen russisch-deutschen oder russisch-französischen Flirt zum Schaden des transatlantischen Verhältnisses zwischen Europa und den USA eröffnen könnten. Diese Perspektive war nicht gerade neu, denn während des gesamten Kalten Krieges versuchte Moskau immer wieder einmal die deutsche oder die französische Karte zu spielen.“ Das ist aber für Brzezinski eine rein taktischen russischen Option ohne Perspektive. Er schreibt: „Weder Frankreich noch Deutschland dürfte wohl so leicht die Verbindung zu den USA aufgeben. Ein gelegentlicher Flirt, vor allem mit den Franzosen, ist nicht auszuschließen, aber einer geopolitischen Richtungsänderung müsste schon ein massiver Umschwung in der Europapolitik vorausgehen, ein Scheitern der europäischen Einigung und ein Zusammenbruch der transatlantischen Bindungen. Und selbst dann wären die europäischen Staaten wohl kaum geneigt, sich geopolitisch auf ein desorientiertes Russland hin auszurichten.“ (7)
Die Entwicklung eines souveränen und von Amerika unabhängigen Europa ist Brzezinskis Albtraum. „Ein politisch klar definiertes Europa ist nicht zuletzt für die fortschreitende Einbindung Russlands in ein System globaler Zusammenarbeit unverzichtbar“, meint Brzezinski und fügt hinzu: „Ohne Europa wird es kein transeurasisches System geben.“ Es ist deshalb lebenswichtig, meint Brzezinski, dass Amerika sowohl mit Deutschland als auch mit Frankreich eng zusammenarbeitet, auf ein politisch lebensfähiges Europa hin, das gleichwohl mit den USA verbunden bleibt und den Geltungsbereich des internationalen Systems demokratischer Zusammenarbeit ausdehnt. Für ein souveränes, von Amerika unabhängiges Europa gibt es nur eine Option, die Brzezinski wie folgt beschreibt: „Wenn es der EU schließlich gelänge, die jahrhundertealten nationalstaatlichen Feindseligkeiten mit all ihren negativen Folgen für die Welt zu begraben, könnte Amerika dafür durchaus in Kauf nehmen, dass seine Schiedsrichterrolle in Eurasien nach und nach an Bedeutung verliert.“ (8)
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Doch das scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Die Erfolge der amerikanischen Geostrategie in Eurasien sind alles andere als eindeutig, einschließlich der Schaffung eines demokratischen und geopolitischen Brückenkopfs in Europa. Einerseits wächst das Gefühl, dass es Europa endlich gelungen ist, die politische Einheit zu erreichen, von der Brzezinski schrieb, als er von einem geopolitischen Vorposten an der linken Flanke Eurasiens träumte. Der Anstoß für die politische Einigung Europas kam von Putins Russland, das alle westlichen Pläne zur Einbindung Eurasiens in seinen sozioökonomischen Umsatz vereitelt hat. Russland wurde zum Feind des Westens und der westlichen Werte erklärt, zur Ausgeburt der Hölle, die die gesamte fortschrittliche Welt bedroht. Die Feindseligkeit gegenüber Russland erreichte ihren Höhepunkt nach dem Beginn der russischen Spezialoperation in der Ukraine und begrub jede Möglichkeit eines politischen Flirts mit Russland durch Frankreich oder Deutschland.
Es scheint, dass die Voraussetzungen für die Schaffung eines geopolitischen Brückenkopfes der USA in Europa endlich erfüllt sind: Das politische Europa ist geeinter denn je, die Europäische Union und die NATO sind weiter nach Osten vorgedrungen, die transatlantische Partnerschaft hat sich gefestigt, der amerikanische Sicherheitsschild wurde gerade noch stärker, und die Rolle Amerikas in den West-Ost-Beziehungen ist absolut geworden.
Aber ein auf Feindseligkeit aufgebauter Brückenkopf birgt ein Element der Selbstzerstörung. Die politische Einheit Europas ist nach wie vor nur die politische Einheit der Eliten, die noch der legitimen Bestätigung durch die europäische Bevölkerung bedarf. Aber ob die Europäer dieses Mal einen „Kreuzzug“ gegen Russland ausrufen wollen, wie sie es in der Vergangenheit getan haben, ist eine große Frage. Die Schwächen in Europa, über die Brzezinski schrieb, sind nicht mehr vorhanden: Die Vasallenstellung einer Reihe von Ländern in Ost- und Mitteleuropa, der Antiamerikanismus, die Vertrauenskrise und der Verlust an kreativen Impulsen unter den Europäern sowie die Ungewissheit, ob die Mehrheit der Europäer überhaupt bereit ist, sich an der Schaffung eines großen Europas zu beteiligen.
Die Situation erinnert ein wenig an die Schaffung der Europäischen Union mithilfe eines riesigen Behördenapparats, wie es Brzezinski beschreibt. Er betont, „der Gedanke der Einheit erfreut sich bei der Bevölkerung noch immer bemerkenswert breiter Unterstützung, aber er ist eher lau, es fehlt ihm an Begeisterung und Sendungsbewusstsein.“ Die Europäische Union, die als Prototyp einer Weltregierung in einer Weltdemokratie ohne nationale Grenzen konzipiert wurde, sieht sich nun mit der Manifestation nationaler Interessen einzelner Staaten konfrontiert, die im Widerspruch zur EU-Politik stehen. Es ist kein Zufall, dass Brzezinski von der politischen Einheit Europas träumte: Es ist viel einfacher, mit einem Entscheidungszentrum innerhalb eines hegemonialen Gleichgewichts-Systems zu verhandeln als mit zahlreichen nationalen Regierungen, die durch ihre nationalen Interessen verbunden sind.
Aber der bürokratische Apparat ist ein Apparat, der immer dann zum Diktat neigt, wenn ihm die stichhaltigen Argumente zur Durchsetzung seiner Politik ausgehen. Die EU macht da keine Ausnahme: Sie greift immer häufiger zu Methoden des Diktats und provoziert damit eine Antwort, nämlich Protest gegen das Diktat. Auch die politischen Eliten der europäischen Länder neigten immer mehr zu Verboten und anderen Methoden des Diktats: Es stellte sich heraus, dass es für sie einfacher ist, sich untereinander zu einigen als mit ihren eigenen Völkern. So bricht die amerikanische Geostrategie gegenüber Europa auf dem großen Schachbrett Eurasiens in die Häuser der Europäer ein und sät Proteste, Frustration und eine Vertrauenskrise. In Deutschland ist dies mehr als sichtbar.
Aber das sind bereits Fragen der demokratischen Entwicklung, bei denen der Westen erhebliche Verluste trägt. Wir können mit Sicherheit sagen, dass die Idee, einen demokratischen Brückenkopf in Europa zu schaffen und Eurasien nach westlichem Vorbild zu demokratisieren, gescheitert ist. In der Tat sprechen wir heute nicht so sehr vom Triumph der westlichen Demokratie, sondern von ihrer Krise, nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Ländern, die als Vorbilder der Demokratie gelten.
1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 79.
2. Ebenda, S. 111.
3. Ebenda, S. 107-108, 243.
4. Ebenda, S. 79, 81.
5. Ebenda, S. 80.
6. Ebenda, S. 60, 76.
7. Ebenda, S. 148-149.
8. Ebenda, S. 243-244.