Trump wird oft vorgeworfen, Machtinstitutionen einzureißen, die der Westen über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte aufgebaut hat. Dazu gehören die NATO und die EU, die CIA und die Fed, die Welthandelsorganisation und die Weltgesundheitsorganisation. Sogar die Arbeit der UNO ist von Trump ins Fadenkreuz genommen worden. Gibt es eine Logik hinter Trumps Handeln?
Der deutsche Historiker Gregor Schöllgen befasst sich in seinem Artikel für das Rotary-Magazin mit dem Titel „Ankunft in der Gegenwart“ (2017) mit diesem Thema aus einer historischen Perspektive. Er schreibt: „Denn Amerikas Präsident Donald Trump macht seinen Landsleuten und den Europäern unmissverständlich klar, dass die 1945 etablierte internationale Ordnung seit einem Vierteljahrhundert Geschichte ist.“ (1)
Die Vergangenheit ist für Schöllgen die Zeit des Kalten Krieges, in der der kalte Wind der Konfrontation zwischen Ost und West weht. Die NATO, die EU und andere westliche Institutionen wurden in diesem ideologischen Kampf geboren und gefestigt, der sich in erster Linie gegen ihren Hauptgegner, die UdSSR, richtete. Schöllgen schreibt: „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, eine Vorläuferin der heutigen Europäischen Union, und die NATO, um die wichtigsten zu nennen, waren von Geburt an Kinder des Kalten Krieges. Sie lebten vom Ost-West-Gegensatz.“
Die Atlantik-Charta vom 14. August 1941 wurde zu einer Art ideologischer Grundlage für die Konfrontation zwischen Ost und West, und das Atlantische Bündnis war ihre Frontlinie. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwand der Grund für die Konfrontation, aber die Institutionen blieben. Leider, so Schöllgen, haben sie es versäumt, auf die neue historische Realität adäquat zu reagieren. Er schreibt: „Keine dieser Gemeinschaften war 1991 auf den Abgang der Sowjetunion und damit auf das Ende des Kalten Krieges vorbereitet. Keine von ihnen hat es in den vergangenen 25 Jahren geschafft, sich den grundlegend geänderten Verhältnissen anzupassen. Das unterscheidet sie von den sowjetisch dominierten Gemeinschaften wie dem Warschauer Pakt. Sie traten mit ihrer Führungsmacht von der Weltbühne ab. Der Westen zog diese Konsequenz nicht, im Gegenteil: Unfähig oder unwillens zur Reform, aber auch überwältigt vom Andrang der jungen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, nahmen NATO und Europäische Union in Serie neue Mitglieder auf. Im Falle der EU führte das an den Rand des Infarkts.“
Was aber war falsch an der Osterweiterung von EU? Schöllgen kommentiert die sich daraus ergebenden Probleme wie folgt: „Das lag an der schieren Zahl der zwölf Neuankömmlinge, aber auch daran, dass die meisten von ihnen entweder, wie die baltischen Staaten, vormalige Sowjetrepubliken oder aber, wie Polen, ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes waren. Schon deshalb war ihnen die Gründungslogik der europäischen Gemeinschaften nicht geläufig. Tatsächlich wollten die sechs Gründungsmitglieder, unter ihnen die alte Bundesrepublik, schon in den fünfziger Jahren gemeinsam sicherstellen, dass sie als Wirtschafts- und Handelsmacht in der ersten Liga spielten. In dieser Hinsicht war die Schutzmacht USA für sie nicht nur Partner, sondern immer auch Konkurrent. Für die Neuen, die gerade den sowjetisch dominierten Zwangsverband hinter sich gelassen hatten, stellte sich das nach 1991 anders da.“
Es geht nicht nur um den Verlust von Qualität auf Kosten von Quantität, sondern auch um den Verlust der Einheitlichkeit der Interessen der Europäischen Union, ja sogar um den Verlust der westeuropäischen Identität, die die Grundlage für ihre Gründung war. Schöllgen schreibt: „Erschwerend kam hinzu, dass die Erwartungen der einzelnen Mitglieder an die Europäische Union beziehungsweise ihre Vorläuferorganisationen in einigen Punkten sehr heterogen waren. So suchten die Bewohner der politisch und militärisch nur eingeschränkt souveränen alten Bundesrepublik im integrierten Europa einen passenden Ersatz für jene nationale Identität, die ihnen – und nur ihnen – im Übrigen versagt war. Bis heute sehen die meisten Deutschen in Europa auch eine identitätsstiftende Einrichtung. Fast alle anderen sehen das anders.“
Dies gilt insbesondere für die Länder des ehemaligen Sowjetblocks, die natürlich nicht nur der EU, sondern auch der NATO beitreten wollten. Schöllgen schreibt: „Die baltischen Staaten, Polen und andere Neuankömmlinge sahen aber in der Atlantischen Allianz von Anfang an immer auch einen Rahmen für die Stiftung und Behauptung ihrer nationalen Identität – vor allem gegenüber Russland; also einem Land, das seinerseits nach mehr als 70 Jahren auf der Suche nach seiner nationalen Identität war.“ Auch deshalb, so Schöllgen, schlugen sämtliche Versuche fehl, „auf die weltpolitische Revolution der ausgehenden achtziger Jahre mit einer angemessenen Reform zu reagieren und der Gemeinschaft das fehlende gemeinsame politische und militärische Fundament zu verpassen.“
Die Ausweitung der NATO nach Osten unter aktivem Druck der USA auf Europa (europäische Politiker hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sogar die Illusion, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands zu schaffen, die aber schnell begraben wurde) hat ihre eigenen Probleme mit sich gebracht. Schöllgen schreibt über sie: „Selbstverständlich hatten die Staaten Ostmittel- und Osteuropas das unantastbare Recht, der Atlantischen Allianz beizutreten. Aber ebenso selbstverständlich mussten im Kreml die Alarmglocken schrillen. Während die Sowjetunion und ihr Militärpakt 1991 endgültig aus der Weltgeschichte verschwanden, blieb die NATO nicht nur bestehen, sondern rückte dank des Eintritts vormaliger Sowjetrepubliken und Warschauer Pakt-Staaten bis vor die Tore von St. Petersburg. Auch deshalb trifft die erklärtermaßen ausschließlich an den nationalen Interessen Russlands orientierte Politik des Präsidenten bei seinen Landsleuten auf breite Zustimmung.“
Entsprach die neue US-Militärpolitik in Europa den eigenen Interessen Europas, das sich gerade von der Konfrontation mit der Sowjetunion befreit hatte? Die Frage ist rhetorisch, aber auf jeden Fall ist Deutschland, wie auch das übrige Europa, nach dem Ende des Kalten Krieges nicht selbstständiger geworden. Dies stellte Schöllgen 2014 in einem Feuilleton für die Süddeutsche Zeitung fest, in dem er das Verhältnis zwischen amerikanischen Präsidenten und deutschen Bundeskanzlern in der Nachkriegszeit analysierte. Der Titel des Artikels lautet: „Besetzt, beschützt, bevormundet. Für die deutsch-amerikanische Freundschaft hat der Kalte Krieg nie aufgehört.“ Sein Hauptmotiv: „Die Amerikaner gaben immer die Richtung vor, die Deutschen folgten ohne Wenn und Aber.“ Der Glaube der deutschen Bundeskanzler, dass ihre amerikanischen Freunde die deutschen Interessen verstehen und anerkennen, führte jedes Mal zu Enttäuschungen. So schreibt Schöllgen über den „Kanzler der Einheit“: „Kohl war überzeugt, dass „unsere Freunde Verständnis für unsere Interessen“ haben. Ein Irrtum.“ (2)
Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der Sowjetunion bedeuteten also nicht das Ende der Konfrontation zwischen Ost und West. Nachdem Jelzin die Macht an Putin übergeben hatte, verschärfte sich diese Konfrontation noch. Als Wendepunkt in der Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem (kollektiven) Westen und Russland kann Putins Rede auf der Münchner Konferenz im Jahr 2007 angesehen werden, und der Auslöser für die Dämonisierung von Putins Russland war der Georgienkrieg 2008. (Mehr: Der Westen zieht sich in einer Zwickmühle)
Amerika und seine von den Demokraten geführten Satelliten haben ihre ganze Macht gegen Russland entfesselt und die NATO, die EU und andere Institutionen des Kalten Krieges dieser Aufgabe untergeordnet. Was geschehen ist, ist das, was Carl Schmitt die Kriminalisierung des Krieges genannt hat. Es geht nicht um besondere Methoden und Regeln der Kriegsführung, sondern um das Recht der Siegermächte zu entscheiden, welcher Krieg gerecht ist und welcher nicht, wer der Aggressor ist und wer als Kriegsverbrecher zu betrachten ist. Der Gegner wird diskriminiert, bis er in den Augen der internationalen Öffentlichkeit zum Verbrecher wird, gegen den nicht mehr ein Krieg im üblichen Sinne geführt wird, sondern eine Vernichtungsaktion, wie eine Polizeiaktion gegen Unruhestifter. (Mehr: Carl Schmitts Formel des Friedens)
Die Kriminalisierung des Krieges begann nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als Großbritannien und Frankreich Deutschland die volle Verantwortung für die Anzettelung des Krieges zuschrieben. Sie nahm jedoch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen konkrete Formen an, indem sie die Hauptprobleme des Krieges aus der Sphäre des Rechts in die Sphäre der Politik und der Moral verlagerte. Schmitt analysiert diesen Sinnwandel des Krieges am Beispiel des Völkerbundes, dem es nicht gelang, die Welt vor dem Ausbruch eines neuen Weltkrieges zu bewahren. Der Kalte Krieg hat die weitere Entwicklung der Kriminalisierung des Krieges gestoppt, aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sie wieder an Fahrt gewonnen und den Anspruch Amerikas, die einzige Supermacht zu sein, verwirklicht. Aber die Kriminalisierung des Krieges, da ist sich Schmitt sicher, führt unweigerlich zu einem neuen, nunmehr nuklearen Krieg, weil sie aufgrund der vollständigen Diskriminierung des Feindes dessen totale Vernichtung voraussetzt. Wie weit der Westen bei seiner Kriminalisierung des Krieges durch Diskriminierung von Putins Russland zu gehen bereit ist, wird heute in der Ukraine getestet. (Mehr: Ukraine-Krieg soll einen dritten Weltkrieg verhindern)
Aber wie auch immer: Der Plan eines schnellen geopolitischen Sieges über Putins Russland ist gescheitert. Und ganz allgemein: Ist es möglich, einen strategischen Sieg über eine Atommacht zu erringen, ohne die ganze Welt in einen Atomkrieg zu verwickeln? In den Jahren seiner Diskriminierung durch den Westen ist Russland nicht geschwächt, sondern im Gegenteil noch stärker geworden – militärisch und wirtschaftlich. Russlands Sonderoperation in der Ukraine, die die Militäroperationen der USA und ihrer Verbündeten in Jugoslawien, im Irak, in Syrien, Libyen und Afghanistan kopierte, eskalierte schnell zu einem Stellvertreterkrieg mit dem Westen, nun jedoch nach dem Muster des Kalten Krieges. Dies hat die Konsolidierung der russischen Gesellschaft – trotz aller Härten des militärischen Konflikts – um ihren Präsidenten weiter verstärkt.
Die Dämonisierung Russlands in den westlichen Medien als Aggressor und Alleinschuldiger am Konflikt in der Ukraine hat nicht zu seiner vollständigen internationalen Isolierung geführt. Eher im Gegenteil: Sie hat in den Ländern, die noch mit gesundem Menschenverstand ausgestattet sind, viele unbequeme Fragen aufgeworfen. Warum hat zum Beispiel Biden bei seinem Treffen mit Putin Ende 2021 den Friedensplan für die Ukraine aufgegeben und damit Trump zusätzlichen Grund zu der Annahme gegeben, dass dies unter ihm nicht geschehen wäre? Warum hat die Ukraine das sehr günstige Istanbuler Abkommen im April 2022 aufgegeben? Warum haben die westlichen Medien die von den Kiewer Behörden, d.h. einer der Konfliktparteien, theatralisch aufbereitete Geschichte über die Gräueltaten der russischen Soldaten in Butscha so bereitwillig übernommen? Und so weiter.
Die Entstehung einer neuen Konfiguration internationaler Kräfte ist eindeutig nicht zu Amerikas Gunsten. Die bestehenden Institutionen der Welt sind überfordert, und Amerika kann die Last, Weltpolizist zu sein, nicht mehr allein tragen. Indem sie sich an die Vergangenheit klammern, haben sich die USA, wie auch andere westliche Länder, selbst unter die kalte Dusche der harten Realität gestellt. Man könnte sagen, dass sich Amerika bei dem Versuch, sich als einzige globale Supermacht zu etablieren, bis auf die Knochen blamiert hat. Vor allem aber sind die zahlreichen Sanktionen gegen Russland ein Bumerang für die westlichen Länder selbst, da sie sich den Zugang zu den Ressourcen eines Landes versperren, das ein Drittel der Landfläche der gesamten Erde einnimmt. Und dies ist bereits ein echter Überlebenstest im globalen Wettbewerb.
Es ist dieses Erbe, mit dem Trump Amerika wieder groß machen will. Aber kann er sich auf die alten Institutionen des Westens verlassen? Ausgeschlossen, vor allem in Anbetracht des Widerstands, den sie ihm in seiner ersten Amtszeit entgegenbrachten. Trumps Offensive gegen die Institutionen des Kalten Krieges ist also mehr als logisch. Wie man so schön sagt, kann man sich nicht mit ihnen anlegen, vor allem, wenn die 1945 geschaffene internationale Ordnung zusammenbricht und an das neue Gleichgewicht der internationalen Kräfte angepasst werden muss.
Schon Trumps Versuch, ein Friedensabkommen für die Ukraine auszuhandeln, zeigt, dass Russland von einem internationalen Verbrecher, mit dem man nicht verhandeln kann, zu einem gerechten Feind geworden ist, mit dem man rechnen muss. Die Kriminalisierung des Krieges hat nicht ihr logisches Ende erreicht – die strategische Niederlage Russlands. Das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den beiden großen Atommächten wird wieder so hergestellt, wie es in der Zeit des Kalten Krieges war, was darauf hoffen lässt, dass es den Hitzköpfen auch heute nicht gelingen wird, die Welt in einen neuen Weltkrieg zu stürzen.
1. https://rotary.de/gesellschaft/ankunft-in-der-gegenwart-a-10371.html