Die Hoffnung, dass wir nach dem Ende des Kalten Krieges endlich in Frieden leben würden, war unheimlich groß. Brock schreibt: „Zu Beginn der 1980er Jahre sah die Welt von Europa aus gesehen ziemlich bedrohlich aus. (…) Zehn Jahre später war das Bild völlig verwandelt. Ost und West hatten sich in dramatischen Schritten angenähert. Die atomare Apokalypse war abgesagt. Die Aufrüstung wurde nicht nur gestoppt, über alle Erwartungen der Friedensbewegung hinaus wurde abgerüstet. Die Charta von Paris, in der Ost und West 1990 die Grundsätze für ein friedliches Zusammenleben der Völker niederlegten, las sich wie das schönste Friedensbrevier seit Erasmus von Rotterdam. Und nicht nur innerhalb Europas tat sich etwas. In Afghanistan, zwischen Irak und Iran, im südlichen Afrika, in Zentralamerika schwiegen die Waffen oder gab es berechtigte Gründe für die Erwartung, dass sie dies bald tun würden.“ (1)
Es gab jedoch auch Warnungen, dass der Wettlauf um den Frieden nach dem Kalten Krieg in sein Gegenteil umschlagen könnte – „in einen Wettlauf um die brutalsten Formen kollektiver Gewalt“. Brock schreibt: „Einige Autoren wie Hans Magnus Enzensberger in Deutschland oder Robert Kaplan in den USA prophezeiten den Beginn eines Weltbürgerkrieges, und Samuel Huntington orakelte über einen „Clash of Civilizations“, während Realisten wie der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer die Zukunft eher in der Vergangenheit wähnten, in einer Welt rivalisierender und sich notfalls bekriegender Nationalstaaten.“
„Aber gottlob war da noch die Globalisierung“, gibt Brock die Hoffnung nicht auf. Er schreibt: „Da der Ost-West-Konflikt friedlich überwunden worden war, schien es nicht unbillig zu hoffen, dass es auch möglich wäre, die Weltverhältnisse insgesamt friedlicher zu gestalten als sie es bis dahin gewesen waren. Diese Sichtweise der Entwicklung wurde stimmungsmäßig durch die großen Weltkonferenzen der 1990er Jahre gestützt. Auf diesen Konferenzen sollte der Weltpolitik eine neue Richtung gegeben werden.“
Die gesamte westliche Welt hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf den Trümmern des sozialistischen Lagers eine neue Weltordnung zu errichten: Welthandelsorganisationen, Weltbank, Internationaler Währungsfonds und Nichtregierungsorganisationen, „die aus den sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre hervorgegangen sind“. Dabei wurde den NGOs eine besondere Rolle bei der Schaffung einer neuen Welt zugewiesen. Brock schreibt: „Die Weltkonferenzen boten den Nichtregierungsorganisationen ein Forum zur wirkungsvollen Selbstdarstellung und ansatzweise sogar ein Einfallstor zur Teilhabe an der Weltpolitik. Die alte Dritte-Welt-Szene erlebte in diesem Zusammenhang ihre Wiedergeburt als Netzwerk für zivile Konfliktbearbeitung und als Teil einer sich allmählich herausbildenden internationalen Zivilgesellschaft, die sich aktiv und lautstark in die Politik der Staaten einmischte. Sie machte es sich unter anderem zur Aufgabe, die Konfliktfähigkeit marginaler Gruppen und kleinerer Entwicklungs-und Transformationsländer in internationalen Verhandlungen zu stärken und Alternativen zu dem in der Wirtschaftspolitik vorherrschenden Neoliberalismus zu entwickeln.“
So musste die wirtschaftliche Globalisierung, die niemand je in Frage gestellt oder bestritten hat, von der sozialen und politischen Transformation der Drittländer in die zivilisierte Welt der westlichen Demokratien begleitet werden, vor allem mit Hilfe von NGO. Die Logik der Globalisierung erforderte also eine rasche liberale Demokratisierung der Welt. In der Tat war es eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten, aber damals schien sie ganz natürlich und notwendig. Ein Beispiel dafür ist die Debatte über Globalisierung und Global Governance, also „über die bereits erwähnte weltweite Verflechtung aller Lebenszusammenhänge und neue Formen des Regierens jenseits traditioneller Staatlichkeit“. Brock schreibt: „Global Governance wurde in Verbindung mit der Globalisierung und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Europäischen Einigung zu einem Thema der Sozialwissenschaften, in dem sich ein breites Spektrum von Wandlungsprozessen bündeln ließ: die Entgrenzung der Staatenwelt und der Übergang zu einer „postnationalen Konstellation“ (Habermas), der Wandel von Staatlichkeit und die Herausbildung von Netzwerkgesellschaften, die Internationalisierung des Staates und deren Implikationen für die Demokratie, die Globalisierung des Rechts und die Transformation sozialer Bewegungen in eine globale Zivilgesellschaft.“
Auf der Seite der Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten stand auch die Erwartung einer weiteren Demokratisierungswelle im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Brock schreibt: „Entwicklung verband sich mit Transformation. Und wenn die Dinge auch von Land zu Land sehr unterschiedlich verliefen, so schien es doch möglich, den Niedergang des Realsozialismus durch eine Ausweitung des Geltungsbereichs der liberalen Demokratie vollenden zu können. Dies lag anscheinend in der Logik der Globalisierung, konnten Weltbank und Weltwährungsfonds doch mit Daten aufwarten, denen zufolge diejenigen Entwicklungs- und Transformationsländer die größten Fortschritte machten, die ihre Wirtschaft konsequent öffneten, sich einer verantwortlichen Regierungsführung befleißigten und die Menschenrechte achteten.“
Ist es da verwunderlich, dass selbst in der UNO der Gedanke aufkam, die Grenzen der Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten zu erweitern? Brock schreibt: „Während die Weltkonferenzen das normative Fundament der Politik in der Weltgesellschaft erweiterten, lieferte die „Agenda für Frieden“, die der Generalsekretär der UNO, Boutros Boutros-Ghali 1992 im Auftrage des Sicherheitsrates ausarbeitete, ein konkretes Programm für eine Ausweitung der kollektiven Handlungsfähigkeit der UNO im Umgang mit Konflikten. Das Konzept umfasste neben der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung auch die aktive Konfliktintervention und Friedenserzwingung und sah hierfür eine Aufwertung der sicherheitspolitischen Autorität der UNO vor. Dazu gehörte auch eine indirekte Ausweitung der Zuständigkeiten des Sicherheitsrates.“
Eine stärkere Einmischung der UN in interne Konflikte würde jedoch eine grundlegende Änderung der UN-Charta bedeuten, die grundsätzlich jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten ablehnt. Dennoch sieht Brock darin eher einen Trend in den internationalen Beziehungen als ein Problem. Er schreibt: „Nach der UN-Charta kann der Sicherheitsrat nur auf den Plan treten, wenn der internationale Friede gefährdet oder gebrochen wird. Demgegenüber ist es seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu einer relativen Verlagerung des Kriegsgeschehens von der internationalen auf die innerstaatliche Ebene gekommen. Der Sicherheitsrat füllte die sich daraus ergebende Lücke zwischen seinen Kompetenzen und dem realen Konfliktgeschehen dadurch, dass er die systematische Missachtung der Rechte von Minderheiten (Irak), die grobe Missachtung von Menschenrechten (Bosnien), den Zusammenbruch der innerstaatlichen Ordnung (Somalia) und schließlich sogar den gewaltsamen Widerstand gegen Demokratisierung (Haiti) zu einer Bedrohung des internationalen Friedens erklärte. Damit eröffnete er die Möglichkeit, kollektive Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta auch bei innerstaatlichen Konflikten zu ergreifen. Diese Möglichkeit hatte der Sicherheitsrat zuvor auch schon im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika genutzt – offensichtlich mit Erfolg.“
Das erfolgreiche Ende des Kampfes gegen die Apartheid im Jahr 1992 wurde von einer Welle der Euphorie begleitet, die mit dem Ende des Kalten Krieges einherging. Doch die Euphorie kann bekanntlich nicht ewig anhalten. Sie lebt nach dem Gesetz: je stärker der Rausch, desto schwerer der Kater. Vor dieser Situation stand die Welt kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Anstatt seine Autorität zu stärken, haben der Sicherheitsrat und die Vereinten Nationen insgesamt eine beispiellose Schwächung ihrer Befugnisse erfahren. Und dies, obwohl die Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von einer Welle von Bürgerkriegen und zwischenstaatlichen Konflikten heimgesucht wurde, die mehr denn je eine Stärkung der kollektiven Handlungsfähigkeit der UNO erforderten. Was ist also passiert? Brock versucht, dieser Frage auf den Grund zu gehen.
1. Hier und weiter: https://www.jstor.org/stable/resrep14628