Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb in der Welt nur eine einzige Supermacht – die USA. Es entstand gleich der Bedarf auf die Konzepte, die die Legitimität des amerikanischen Anspruchs auf die Weltherrschaft – als Sieger im Kalten Krieg – untermauern konnten. Es musste auch starke Argumente für die legitime Gewaltanwendung in dieser neuen Welt geben, in der die USA dominieren konnten: im Kampf gegen den Terrorismus, für die Demokratisierung noch nicht demokratischer Staaten und viele andere westliche Aufgaben auf dem Weg zum „Weltfrieden“.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Zbigniew Brzezinski gilt mit seinem Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ als der wichtigste Ideologe solcher Projekte. Seine Ideen inspirieren noch immer amerikanische Strategen, die davon träumen, eine neue Weltordnung auf dem von ihnen kontrollierten Planeten zu errichten. Der Einsatz militärischer Gewalt unter dem Deckmantel von Sonderoperationen, „soft power“, Regime change oder farbiger Revolutionen ist nur ein kleiner Teil der Technologien bei der Realisierung des normativen Projekts des Westens.
Doch auf dem Weg zur amerikanischen Weltherrschaft steht die Vereinten Nationen mit ihren alten Regeln und Praktiken aus dem Kalten Krieg, die in der UN-Charta ihren festen Wohnsitz gefunden haben. „Die Charta spricht ein allgemeines Gewaltverbot aus und etabliert eine dem Gewaltverbot entsprechende Friedenspflicht“, unterstreicht Brock und erläutert: „Die Charta der Vereinten Nationen verbietet die Anwendung von Gewalt (Art. 2/4). Das Gewaltverbot besagt, dass kein Staat nach eigenem Ermessen in den Beziehungen zu anderen Staaten Gewalt anwenden darf. Als einzige Ausnahme gilt die Selbstverteidigung. Aber auch hier ist das Moment der Willkür weit zurückgedrängt: Das Recht auf Selbstverteidigung wird zwar im Art. 51 der UN-Charta als „naturgegeben“ anerkannt, aber es kann nur im Falle eines bewaffneten Angriffs in Anspruch genommen werden und auch nur so lange, bis der Sicherheitsrat sich der Sache annimmt.“ (…) Nun kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass ein Gewaltverbot ausreicht, willkürliche Gewaltanwendung tatsächlich zu verhindern. Deshalb sieht die UN-Charta in Kapitel VII die Möglichkeit vor, notfalls mit militärischer Gewalt auf die Bedrohung oder den Bruch des internationalen Friedens zu reagieren – aber eben nur auf der Grundlage einer hierfür erforderlichen Entscheidung des UN-Sicherheitsrates. Die UN-Charta folgt hier im Grundsatz dem Prinzip, dass niemand in eigener Sache Richter sein soll.“ (1)
Das bedeutet, dass die USA gemäß der UN-Charta kein Recht hatten, nach eigenem Ermessen und ohne Zustimmung der UN militärische Gewalt anzuwenden, sei es bei der Bombardierung Jugoslawiens nach dem angeblichen Massenmord an Zivilisten in Srebrenica, beim Krieg im Irak nach der erneuten Behauptung, Saddam Hussein besitze Atomwaffen, bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus oder bei allen anderen „Harten Fakten“, die die USA zur Rechtfertigung ihrer großen Mission benötigen. Sogar die Selbstverteidigung als legitimes Argument für Gewaltanwendung „kann nur im Falle eines bewaffneten Angriffs in Anspruch genommen werden“. Doch welche Art von bewaffnetem Angriff könnte die mächtigste Militärmacht bedrohen? Kurz gesagt, die gesamte Reihe amerikanischer Spezialoperationen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die den Weltfrieden sichern sollten, ist eine direkte Verletzung des Völkerrechts.
Im Übrigen kommt dem UN-Sicherheitsrat im Falle eines Konflikts die Hauptrolle bei der Konfliktlösung zu: Er muss so schnell wie möglich in den Konflikt eingreifen, um zu verhindern, dass er sich in die Länge zieht. Natürlich sind die Vereinten Nationen verpflichtet, auf alle Arten von Bedrohungen oder Verstößen gegen die internationale Ordnung zu reagieren, aber auch hier nur auf der Grundlage eines Beschlusses des UN-Sicherheitsrats. Mit anderen Worten: Jede militärische Intervention in die Angelegenheiten eines anderen Staates erfordert nach der UN-Charta einen Beschluss des Sicherheitsrates. Es geht um den Grundsatz der kollektiven Verantwortung für die Erhaltung des Weltfriedens, wenn keine von Konfliktparteien (und diese Konfliktparteien ist seit dem Zweiten Weltkrieg im Sicherheitsrat konzentriert) das Recht hat, als Schiedsrichter aufzutreten, d.h. zu bestimmen, wer in einem bestimmten Konflikt Recht hat und wer nicht.
Das Thema des „Schiedsrichters“ ist ein zentrales Thema des internationalen Rechts. Brock widmet ihr besondere Aufmerksamkeit und zeigt am Beispiel einer der Legenden des alten Weisen Nazeredin Hodscha, wie komplex sie ist. Er schreibt: „Zu Nazeredin Hodscha, einem bekannten Weisen aus dem Morgenland, kam eines Tages ein Pächter, der sagte: „Mein Pachtherr verweigert mir die Nutzung des Bodens. So verweigere ich ihm die Zahlung der Pacht. Habe ich Recht?“ Der Hodscha antwortete: „Du hast Recht.“ Wenig später kam der Pachtherr zum Hodscha und sprach wie folgt. „Mein Pächter verweigert mir die Zahlung der Pacht. So verweigere ich ihm die Nutzung des Bodens. Habe ich Recht?“ Nazeredin Hodscha antwortete: „Du hast Recht.“ Als der Pachtherr gegangen war, sagte der Schüler des Weisen, der alles mit angehört hatte: „Du kannst doch nicht, weiser Lehrer, dem Pächter sagen: ‚Du hast Recht’, und dem Pachtherr ebenfalls sagen: ‚Du hast Recht!’“. Darauf antwortete der weise Hodscha: ‚Du hast Recht.’“
In der Sprache des Völkerrechts bedeutet dies, dass es in einem Konflikt immer Möglichkeiten für beide Seiten gibt, sich als Verteidiger und den Gegner als Angreifer darzustellen. Es kann sehr schwierig sein, festzustellen, wer Recht hat und wer nicht, besonders zu Beginn eines Konflikts. Zumindest das Recht auf Selbstverteidigung ist immer gegeben, sogar mit einem bekannten Satz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist.
Die UN-Charta sieht eine Lösung für dieses Problem durch kollektive Beteiligung an der Konfliktlösung (kollektive Friedenssicherung) vor, die auf dem Grundsatz beruht, dass „niemand in eigener Sache Richter sein soll“. Natürlich versuchen die USA, die nach dem Sieg im Kalten Krieg den Anspruch erheben, Schiedsrichter in den internationalen Beziehungen zu sein, dieses Problemzu umgehen. Brock erkennt einen solchen Versuch bereits in der Politik der Bush-Administration, die darauf abzielt, „das Recht auf Selbstverteidigung gegenüber Maßnahmen der kollektiven Friedenssicherung aufzuwerten, ohne sich dabei aber den Restriktionen zu unterwerfen, die Art. 51 der UN-Charta für die Praktizierung der Selbstverteidigung vorsieht“.
Die Gefahren einer solchen Politik sind für Brock offensichtlich. Er schreibt: „Nicht zufällig wurde das Recht auf Selbstverteidigung erst am Ende des Kapitels VII in die UN-Charta eingerückt. Das unterstreicht, dass es sich hier um eine Residualkategorie des alten Völkerrechts handelt und die intendierte Ordnung auf eine kollektive Friedenssicherung ausgerichtet ist. Gegen die Neigung Washingtons, es genau andersherum zu sehen und ein breit ausgelegtes Recht auf Selbstverteidigung in Verbindung mit ad hoc-Koalitionen kooperationswilliger Staaten in den Mittelpunkt der eigenen Weltordnungspolitik zu stellen, wäre, auf einem Ausbau kollektiver Friedenssicherung zu bestehen.“
Was Brock jedoch am meisten beunruhigt, ist der Versuch der Amerikaner, den Begriff des „gerechten Krieges“ wiederzubeleben. Er schreibt: „Willkürliche Gewaltanwendung heißt, dass die Konfliktparteien nach eigenem Ermessen über die Anwendung von Gewalt entscheiden. Auch der „gerechte Krieg“ beruht insofern auf Willkür, weil das Wesentliche des Krieges in ihm erhalten bleibt, nämlich die Inanspruchnahme eines souveränen Rechts, über die Anwendung kriegerischer Gewalt eigenständig zu entscheiden. Deshalb ist der (heute so populäre) Rückgriff auf die Lehre vom gerechten Krieg entschieden zurückzuweisen; es sei denn, dass die Kriterien des gerechten Krieges dazu dienen, die Anforderungen an zulässige kollektive Zwangsmaßnahmen im Rahmen von Kapitel VII der UN-Charta zu spezifizieren.“
Es liegt also auf der Hand, dass die UN-Charta und der Sicherheitsrat als Instrument der internationalen Friedenssicherung die USA auf ihrem Weg zum Aufbau ihrer eigenen Weltordnung nur behindern. Das Versagen der UNO, ihre Rolle als Garant des Weltfriedens zu erfüllen, ist der beste Grund für die USA, diese Funktion zu übernehmen. Deshalb versucht Amerika, die UNO auf jede erdenkliche Weise an den Rand zu drängen, und das mit einigem Erfolg: Die Rolle der UNO und des Sicherheitsrates bei der Lösung der Konflikte, die heute in der ganzen Welt toben, wurde auf fast nichts reduziert. Der langwierige Konflikt im Nahen Osten und der sich immer wieder neu zuspitzende Konflikt in der Ukraine sind ein direkter Beweis dafür. Der letzte Schritt zur Marginalisierung der UNO wäre eine Reform des Sicherheitsrates, zum Beispiel durch den Entzug seines Vetorechts.
1. Hier und weiter: https://www.jstor.org/stable/resrep14628