Eine historische Chance für den Weltfrieden nach dem Kalten Krieg wurde von den Vereinigten Staaten von Amerika begraben

Das Ende der Euphorie der 1990er Jahre kam sehr schnell. Brock schreibt: „Die Schrecken von Somalia und der Völkermord in Ruanda standen noch allen lebhaft vor Augen, als die Ereignisse in Srebrenica das Grauen noch steigerten, weil es sich in Europa und in Gegenwart von UN-Blauhelmen vollzog.“ (1) Aber nicht nur in Afrika und Mitteleuropa brachen Bürgerkriege aus: Sie erfassten praktisch alle Kontinente, auch Asien entlang der Grenzen des ehemaligen Sowjetimperiums. Diejenigen, die nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks eine Zunahme von Gewalt und Bürgerkriegen in der ganzen Welt vorhersagten, waren der Wahrheit näher als die Prediger des „Endes der Geschichte“ und des Triumphs der liberalen Demokratie.

Die UNO musste ihre Hilflosigkeit anerkennen. Brock schreibt: „Die Handlungsfähigkeit der UNO erwies sich trotz Agenda für den Frieden und der Ausweitung des Aktionsradius kollektiver Friedenssicherung als unzureichend.“ Dabei macht er keinen Hehl daraus, wer eigentlich die Hoffnung der gesamten Menschheit auf ein friedliches Zusammenleben nach dem Ende des Kalten Krieges begraben hat. Er schreibt: „Aber statt die UNO im Geiste der Agenda für Frieden zu stärken, nutzten die NATO-Staaten das Debakel auf dem Balkan, um die Sicherheitspolitik im Bündnis auf Kosten der kollektiven Friedenssicherung im Rahmen der UNO aufzuwerten. So geriet die UNO von Seiten der NATO und insbesondere der USA unter Marginalisierungsdruck.“

Als Sieger im Kalten Krieg fühlte sich Amerika nicht mehr an die internationalen Regeln gebunden, die die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten. Der Kosovo-Konflikt und der Irak-Krieg waren der Beweis dafür. Brock schreibt: „1999 im Kosovo-Konflikt wurde aus dem eigenständigen Handeln der NATO im Rahmen der UNO dann ein eigenmächtiges Handeln unter Umgehung des Sicherheitsrates. Zur gleichen Zeit nahmen die USA und Großbritannien mit Blick auf den Irak für sich das Recht in Anspruch, ohne weitere Rückkoppelung mit dem Sicherheitsrat darüber zu befinden, ob der Irak die einschlägigen UN-Resolutionen von 1991 einhielt oder nicht. Auf der Grundlage einer solchen eigenmächtigen Entscheidung wurde im Dezember 1998 die Bombardierung der „Flugverbotszonen“ im Irak wieder aufgenommen. Die Bombardierung wurde dann im März 2003 – wiederum unter Berufung auf die Nichterfüllung von UNO-Auflagen – zum Krieg gegen den Irak erweitert, der nachträglich auch als Teil des von den USA nach dem 11. September 2001 ausgerufenen Krieges gegen den Terror interpretiert wurde.“

Brock bezeichnet die Missachtung der seit dem Ende des Kalten Krieges geltenden internationalen Regeln, die 1945 auf der Konferenz von Jalta festgelegt wurden, als Instrumentalisierung – bis hin zur Manipulation – des Rechts. Dies geschieht, wenn Politik versucht, das Recht nach Maßgabe ihrer Interessen umzudeuten oder zu instrumentalisieren. Ein Beispiel für solche Instrumentalisierung findet sich bereits im Editorial zum Brocks Standpunkt 2004. Es ging um die systematische Folterung und körperliche Misshandlung von Gefangenen in Guantanamo durch den US-Auslandsgeheimdienst CIA. Und das trotz eines Urteils des Obersten Gerichtshofs der USA, das besagt, „dass die Gefangenen ein Anrecht auf eine gerichtliche Anhörung haben und den US-Rechtsweg bemühen können.“ Doch die amerikanische Administration behauptete, „dass der ‚Kampf gegen den Terror‘ und ‚harte Tatsachen‘ der internationalen Politik die „besonderen Maßnahmen“ rechtfertigten.“ Mit anderen Worten: Das Völkerrecht war für die USA im Fall der Guantanamo-Häftlinge nicht bindend.

Besonders zynisch findet Brock die Instrumentalisierung des bestehenden Völkerrechts im Namen der Terrorismusbekämpfung. Einerseits haben sich die USA das Recht angemaßt, Präventivmaßnahmen gegen den Terrorismus zu ergreifen und sich dabei auf die Geschichte des Völkerrechts zu berufen. Er schreibt: „In ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom September 2002 nehmen die Vereinigten Staaten für sich in Anspruch, das Recht auf eine vorbeugende Kriegführung (preemptive strike) zu haben. Die Begründung hierfür läuft darauf hinaus, unter Berufung auf „jahrhundertealte“ Völkerrechtstraditionen die Ausdifferenzierung und den Wandel des Völkerrechts in den vergangenen hundert Jahren (d.h. seit den Haager Friedenskonferenzen von 1897 und 1907) vom Tisch zu fegen.“

Auf der anderen Seite präsentieren sich die USA und ihre Verbündeten als Verfechter des geltenden Völkerrechts und sind sogar bereit, es zu verteidigen, wenn es nicht eingehalten wird. Solche Logik der Gewaltanwendung zeigt Brock auf dem Beispiel des Irak-Krieges. Er schreibt: „Aber die Entscheidung zum Krieg gegen den Irak wurde nicht im Rückgriff auf die Argumentation der Nationalen Sicherheitsstrategie begründet. Vielmehr berief sich die amerikanische Regierung zusammen mit der britischen (und der australischen) auf die einschlägigen Resolutionen des Sicherheitsrates (Res. 678, 687 und 1441) und argumentierte, dass deren Nichterfüllung durch den Irak einen Rechtsgrund für militärische Zwangsmaßnahmen lieferte. Wie erwähnt, war genau dieses Verhalten bereits bei der Wiederaufnahme der Bombardements im Dezember 1998 praktiziert worden. Entscheidend war hierbei, dass die USA und Großbritannien sowohl 1998 wie auch im Vorfeld des Irakkrieges von 2003 das Recht für sich in Anspruch nahmen, eigenmächtig darüber zu befinden, inwieweit ein „material breach“ der UN-Resolutionen durch den Irak vorlag. Die USA stellten sich aber nicht außerhalb des Völkerrechts, sondern beriefen sich auf UN-Resolutionen. Man mag das als zynischen Versuch zur Manipulation des Rechts sehen.“

Aber was Jupiter kann, kann der Stier nicht. Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch eine Reihe westlicher Länder und der Krieg im Irak waren bekanntlich Beispiele für grobe Verstöße gegen das geltende Völkerrecht. Dies waren jedoch Präzedenzfälle für eine einseitige Nutzung: Sie gelten nicht für andere Länder. Russland wurde bereits zu Beginn des Konflikts in der Ukraine darauf aufmerksam gemacht: im Falle des Anschlusses der Krim an Russland nach dem Vorbild der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo und bei der Präventivaktion im Donbass, die nach dem Vorbild Amerikas und seiner Satelliten als Sonderoperation bezeichnet wurde. Es sei daran erinnert, dass die USA alle ihre „Präventivmaßnahmen“ als Sonderoperationen mit schillernden Namen bezeichnet haben: Allied Force in Jugoslawien 1999, Iraqi Freedom in Irak 2003 und Odyssey Dawn in Libyen 2011.

Im Übrigen haben die Haager Konferenzen, auf die sich die USA zur Rechtfertigung ihres Vorgehens berufen, dem Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten besondere Bedeutung beigemessen. Wozu Amerikas Kampf gegen den Terrorismus geführt hat, ist allen bekannt: Die Zahl der zivilen Opfer bei amerikanischen Spezialoperationen geht nicht in die Hunderte oder gar Tausende, sondern in die Zehntausende. Der massenhafte Tod von Zivilisten im Namen der Terrorismusbekämpfung wurde als Kollateralschaden bezeichnet. „Im Zeichen des Krieges gegen den Terror ist der Terror eskaliert“, äußerte Brock allgemeine Skepsis über die amerikanischen Erfahrungen beim Kampf gegen Terrorismus.

Er nannte auch den Hauptgrund für das Scheitern der USA nicht nur im Kampf gegen den Terrorismus, sondern auch bei der Lösung anderer globaler Probleme der Menschheit, nämlich dass sich Amerika das Recht anmaßt, entgegen dem geltenden Völkerrecht zu entscheiden, mit wem und wie es die Weltordnung gestalten will. Brock schreibt: „Beim Streit um das Völkerrecht ist allerdings zu berücksichtigen, dass die gegenwärtige Machtposition der USA und die Politik der Bush-Administration nur die eine Seite des Problems darstellen. Die andere besteht in den Herausforderungen, mit denen sich jeder Versuch einer rechtlichen Einhegung der Gewalt heute unabhängig von der US-Position auseinandersetzen muss. Zu diesen Herausforderungen gehören innerstaatliche Kriege, Staatenzerfall und transnationaler Terrorismus. Es geht also um mehr als um die Einhegung US-amerikanischer Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Gerade weil es erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der Frage gibt, wie mit diesen Herausforderungen umzugehen ist, besteht die Gefahr erratischer einseitiger Maßnahmen von Seiten der USA. Diese wiederum können zur Verschärfung der Probleme führen, die gelöst werden sollen.“

In diesem Sinne kann Israel nur als vorbildlicher Schüler der Vereinigten Staaten im Kampf gegen die Hamas betrachtet werden. Die Netanjahu-Regierung ist bereit, auf denselben Zug aufzuspringen wie seinerzeit die Bush-Regierung: das Hamas-Problem allein zu lösen, ohne die Beteiligung und Unterstützung der gesamten Weltgemeinschaft.

Im Jahr 2004 wagte es Brock sogar, die allgemeine – im Grunde zynische – Logik der amerikanischen Politik am Beispiel des Irak-Krieges aufzuzeigen. Er schreibt: „Betrachtet man die Irak-Politik im Rahmen der Gesamtpolitik der USA, so ergibt sich folgendes Bild. Die Bush-Administration scheint darauf abzuzielen,

  • sich zwar auf das Völkerrecht zu berufen, den Selbstbindungseffekt an das Völkerrecht aber so gering wie möglich zu halten,
  • in diesem Sinne zwar einschlägige UNO-Resolutionen mitzutragen, für sich aber das Recht auf eine eigenständige Interpretation ihrer Folgewirkungen in Anspruch zu nehmen;
  • das Recht auf Selbstverteidigung gegenüber Maßnahmen der kollektiven Friedenssicherung aufzuwerten, ohne sich dabei aber den Restriktionen zu unterwerfen, die Art. 51 der UN-Charta für die Praktizierung der Selbstverteidigung vorsieht; und schließlich
  • unter Berufung auf die besondere Verantwortung als einzig verbliebene Supermacht in der Tendenz für sich eine Sonderposition im Völkerrecht anzustreben, gleichzeitig aber als Hüter des Völkerrechts anerkannt zu werden.“

Der letzte Punkt der amerikanischen Politik ist entscheidend: Er untermauert den Anspruch der USA auf die Weltherrschaft.

1. Hier und weiter: https://www.jstor.org/stable/resrep14628