Die kollektive Friedenssicherung als Grundlage des modernen Völkerrechts ist nicht mit den imperialen Ansprüchen der USA vereinbar

Die kollektive Friedenssicherung in der internationalen Politik ist ein zentrales Thema in Brocks Forschung. Er verknüpft dieses Thema mit der Idee des Friedens durch Recht und blickt zurück auf das Zeitalter der Aufklärung, als Europa den Krieg als solchen nicht ablehnte, sondern nach Möglichkeiten suchte, ihn einzudämmen. Er schreibt: „Die Idee des Friedens ist Bestandteil der Geschichte des Krieges. Quer durch die Geschichte ist der Friede stets Zwischenkriegszeit geblieben. Das Projekt der Aufklärung besteht darin, diese Verknüpfung von Krieg und Frieden zu überwinden und in einer globalen Rechtsordnung aufzuheben. Den Frieden aus den Fesseln des Krieges zu befreien, das bedeutet aus aufklärerischer Sicht, die Gewalt an das Recht zu binden. Es geht also um die Einhegung der Gewalt in einem Rechtsfrieden, nicht um die Abschaffung jeglicher Zwangsgewalt.“ (1)

Nach Brock geht es bei der kollektiven Friedenssicherung zuerst darum, Konflikte und Kriege einzudämmen. Er schreibt: „Die Idee des Friedens durch Recht, wie sie hier verstanden wird, schließt die Anwendung von Gewalt nicht aus. Im Vordergrund steht vielmehr deren rechtliche Einhegung (kollektive Friedenssicherung).“ Solche Fähigkeit, Kriege und Konflikte einzuhegen, besaß das europäische Völkerrecht, das Jus Publicum Europaeum, das Brock als klassisches Völkerrecht bezeichnet. Es geht auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurück und hat Europa bis zum Ersten Weltkrieg gute Dienste geleistet. Sein Hauptverdienst besteht darin, dass er den blutigen Bürger- und Religionskriegen des Mittelalters ein Ende setzen konnte und den europäischen Kontinent vier Jahrhunderte lang vor verheerenden Vernichtungskriegen bewahrte.

Da Kriege in Kontinentaleuropa nicht verboten waren, stellte sich nicht die Frage, welcher Krieg gerecht ist und welcher nicht, was die Ursache des Krieges ist, wer der Aggressor ist und wer sich gegen den Aggressor verteidigen sollte usw. Kurzum, die unlösbare Frage der justa causa löste sich von selbst, und Europa konnte sich darauf konzentrieren, Instrumente für Einhegung der Kriege und Regeln für die Kriegsführung zu entwickeln. Brock schreibt: „Die Gewalt an das Recht zu binden hat zwar das klassische Völkerrecht auch schon versucht. Es beschränkte sich jedoch weitgehend auf die Regulierung der Gewalt im Krieg. Wie Hugo Grotius, einer der Väter des Völkerrechts, in seinem grundlegenden Werk über das Recht des Krieges und des Friedens (1625) schrieb, ging es darum, „die laxen Sitten und Freiheiten, die in der Kriegführung eingerissen sind, auf das von Natur erlaubte Maß zurückzuführen und auf das Bessere innerhalb dieser Grenzen hinzuweisen.“

Es geht also nicht um ein formales Verbot von Krieg oder Gewalt, sondern um einen langen und schwierigen Prozess zur Erreichung des Friedens, der den Kern des Friedens durch Recht ausmacht. Kontinentaleuropa hat sich dieser Herausforderung im Rahmen des Jus Publicum Europaeum erfolgreich gestellt, indem es sich auf die Beschlüsse zahlreicher Konferenzen und Mechanismen zur friedlichen Beilegung von Konflikten, d.h. auf die Grundlage der kollektiven Friedenssicherung, stützte. Erst mit dem Ersten Weltkrieg, der als rein europäischer Konflikt begann, aber als erster militärischer Weltkonflikt (nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten) endete, hörte das europäische öffentliche Recht auf zu existieren und machte Platz einem neuen internationalen Recht unter dem Völkerbund. Eines der Grundprinzipien der neuen Weltordnung im Völkerbund wurde von der amerikanischen Delegation formuliert, die die Abschaffung des Krieges betonte – als ein auf dem amerikanischen Kontinent verkündetes Ideal von Freiheit und Frieden.

Die kollektive Friedenssicherung konnte vergessen werden: Deutschland war ebenso wie Sowjetrussland von der Teilnahme am Friedensprozess ausgeschlossen. Die wichtigsten Entscheidungen auf der Pariser Friedenskonferenz wurden von den Siegern im Ersten Krieg, d.h. von England und Frankreich, getroffen. Eine Vielzahl von Gesetzen wurde verabschiedet, um den Frieden zu bewahren, aber der Völkerbund konnte den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht verhindern. War es ein Zufall? Über die Ursachen des Scheiterns des Völkerbundes als Friedensstifter wurde viel geschrieben. So führte Carl Schmitt das Scheitern des Völkerbundes darauf zurück, dass es ihm nicht gelungen sei, das Hauptproblem des Völkerrechts – das Problem der justa causa – zu lösen. Aber auch die Ablehnung des Prinzips der kollektiven Friedenssicherung zugunsten der Interessen der Sieger ist nicht von der Hand zu weisen

Die Architekten der neuen Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchten, die Fehler des Völkerbundes zu vermeiden, zumal die Welt über eine Waffe mit beispielloser Zerstörungskraft verfügte – die Atombombe. Auf jeden Fall lehnte das Gewaltverbot in der UN-Charta die Möglichkeit eines militärischen Konflikts ursprünglich nicht ab: Die Abschaffung des Krieges nach amerikanischem Vorbild machte in der Zeit des Kalten Krieges keinen Sinn, als sich zwei Systeme und zwei Weltmächte in totaler Konfrontation befanden. Militärische Konflikte seien unvermeidlich, aber es sei gerade die Aufgabe des Sicherheitsrates, sie so schnell wie möglich zu beseitigen. Bis zum Ende des Kalten Krieges wurde eine Reihe von Friedensverträgen geschlossen, die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft machten.

Es sei darauf hingewiesen, dass die kollektive Friedensstiftung nicht nur bei der Überwindung der militärischen Konfrontation zwischen dem Westen und der UdSSR eine Rolle spielte, sondern sich auch bei der Lösung gemeinsamer Weltprobleme bewährte. Brock schreibt über den erfolgreichen Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Ebenso wichtig war aber auch der Kampf gegen die Krankheit des Jahrhunderts – die Pocken.

Die Ausrottung der Pocken, die der Menschheit hunderte Millionen Leben kostete, war die Erfolgsgeschichte nicht allein der WHO, sondern der Weltpolitik in der Zeit der scharfen Konfrontation von zwei Weltmächten. Im Jahr 1967 hat offiziell ein WHO-Programm gestartet: Die kreativen Berater aus etwa 70 verschiedenen Ländern sowie der Minister und der Mitarbeiter des Gesundheitsprogramms wurden überzeugt, zusammen zu arbeiten; die 2,4 Milliarden Impfdosen wurden verabreichen, mehr als 200.000 Helfer gefunden, die den ganzen Globus durchqueren – mit Auto, Eseln, Fischerbooten oder zu Fuß in den von großen Überschwemmungen, Hungersnöten, Bürgerkriegen und Flüchtlingsbewegung geprägten Teilen Afrikas und Asiens. Solche epochale Maßnahme brauchte ein Verständnis, dass nur gemeinsam, ohne politischen Ambitionen, die gefährlichste Infektionskrankheit bekämpft werden könnte. Der Westen trug die Verantwortung für die Impfungskampagne in den Ländern seiner Einflusszone, die UdSSR in ihrer. Heute erscheint eine solche Zusammenarbeit sehr problematisch, wie der Kampf gegen das Coronavirus gezeigt hat.

Mit dem Kalten Krieg kam das Ende der kollektiven Friedenssicherung. Die Verlierer des Kalten Krieges, allen voran Russland, wurden aus dem Prozess der Gestaltung der neuen Welt herausgeworfen. Die Geschichte hat sich wiederholt: Heute wie vor hundert Jahren wird das Schicksal der Welt nicht von der gesamten Weltgemeinschaft entschieden (der Westen ist noch nicht die gesamte Weltgemeinschaft), sondern von dem siegreichen Clan. Man kann getrost von einem Countdown sprechen, einer Rückkehr in die Zwischenkriegszeit (1918-1939), als das Europäische Öffentliche Recht zerstört wurde und das neue noch nicht in Kraft getreten war. Eine solche Wende in der Weltpolitik ist mit enormen Risiken verbunden, bis hin zum Ausbruch eines neuen, nunmehr atomaren Krieges, der in der Tat das ist, was die ganze Welt heute beunruhigt. Die Bush-Regierung hat in ihrem Kampf gegen den Terrorismus nur die ersten Schritte unternommen, um die bestehende Weltordnung zu zerstören. Heute ist dieser Prozess in vollem Gange. Wer glaubt heute noch an die Fähigkeit der UNO, Konflikte in der Welt zu lösen – in der Ukraine, im Nahen Osten, ganz zu schweigen von der Bewältigung globaler Herausforderungen?

Brock, der die Gefahr einer solchen Entwicklung sah, versuchte, Argumente zu finden, um der amerikanischen Willkür Einhalt zu gebieten und den Aufbau einer neuen Weltordnung der Logik des Rechts zu unterwerfen, um so die Idee des Friedens durch Recht zu retten. Die Schlüsselfrage ist hier, was stärker ist: die Logik der Macht oder die Logik des Rechts? Ihrer inneren Logik folgend (Machterhalt um jeden Preis) versucht die Macht stets, das Recht in ihrem eigenen Interesse zu nutzen, d. h. zu manipulieren. Dazu trägt auch die Tatsache bei, dass die formale Gleichheit des Rechts in einem Rechtsstaat keine Gleichheit des Zugriffs auf das Recht (weder hinsichtlich seiner Formulierung noch seiner Anwendung) garantiert. Das bedeutet, dass die Machthaber immer ein Schlupfloch haben, um das Gesetz zu umgehen. Brock schreibt: „Politische Akteure sind also versucht, sich etwas verfügbar zu machen, dessen Wert für sie in seiner Unverfügbarkeit besteht.“

Dennoch glaubt Brock an Kraft des Rechts und schreibt: „Aber der Manipulation des Rechts sind Grenzen gesetzt, die in der Natur des Rechts selbst liegen; denn das Spezifikum des Rechts besteht darin, dass es sich der vollständigen Einvernahme für partikulare Zwecke entzieht, andernfalls wäre es kein Recht (und könnte als solches nicht mehr für die Verrechtlichung von Sachverhalten genutzt werden). Wer sich der Sprache des Rechts bedient, unterwirft sich der Logik des Rechts, weil andernfalls der Bezug auf das Recht politisch wirkungslos bliebe. Jeder Bezug auf das Recht ist insofern ein Akt der Selbstbindung an das Recht.“

Die Logik des Rechts in einem Rechtsstaat sieht also die Logik der Selbstbindung an das Recht voraus, sonst ist das kein Rechtsstaat. In den internationalen Beziehungen spielt die Selbstbildung an das Recht noch größere Bedeutung. Brock schreibt: „Auch für das Völkerrecht gilt, dass seiner Manipulation und Korrumpierung Grenzen gesetzt sind, die in der Natur des Völkerrechts als Recht liegen. Auch wer sich auf die Sprache des Völkerrechts einlässt, unterwirft sich den Regeln, die mit dem Sprechen in Kategorien des Rechts einhergehen, und vollzieht dementsprechend einen Akt der Selbstbindung. Da es auf internationaler Ebene kein Gewaltmonopol gibt, kommt der Selbstbindung besondere Bedeutung zu. Denn hier schlagen ungleiche Entwicklung und ungleiche Machtverteilung noch viel stärker durch als auf die Handhabung des Rechts im innerstaatlichen Rahmen.“

Aber hier steht Brock vor einer sehr schwierigen Frage: Wer sollte das Prinzip der Selbstbindung an das Völkerrecht befolgen? Eigentlich alle, ohne Ausnahme, wie im Fall des berühmten Paradoxons, auf das sich Brock bezieht: Die Freiheit des Einzelnen kann nur dann gelebt werden, wenn dies als Anerkennung der Freiheit aller geschieht. Brock ist der Ansicht, dass dies sowohl für die Mächtigen als auch für die Schwachen von Vorteil ist. Er schreibt: „Die Regelungen der UN-Charta unterwerfen alle Mitgliedstaaten der Pflicht, sich in ihrem Verhalten auf eben diese Regeln zu beziehen. Da es Staaten waren, die dies beschlossen haben, handelt es sich um eine Selbstverpflichtung. Diese Selbstverpflichtung wird von der Einsicht getragen, dass durch die Bindung der Politik an das Völkerrecht eine Erwartungssicherheit geschaffen wird, die in einem dezentralen Machtsystem der Wahrnehmung der eigenen Interessen zugute kommt. Das betrifft ebenso die Interessen der Starken wie der Schwachen. Die Starken sind darauf aus, über die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen Kosten bei der Durchsetzung ihrer Interessen einzusparen; die Schwachen sind an der Verrechtlichung interessiert, weil sie hoffen, das Recht gegen unbillige Ansprüche der Starken in Stellung bringen zu können und gleichzeitig eigene Ansprüche gegenüber den Stärkeren dadurch Nachdruck zu verleihen, dass sie diese zum Gegenstand eines Rechtsdiskurses machen.“

Aber was ist, wenn selbst die Mächtigsten, in diesem Fall Amerika, das Prinzip der Selbstbindung an das geltende Völkerrecht eklatant verletzen? Brock sieht dies als die Ambivalenz des internationalen Rechts in einer Weltordnung, in der ein dezentrales Machtsystem vorherrscht, wie es heute der Fall ist. Er schreibt: „In diesem Sinne wären auch Autonomiestreben und Selbstbindung auf der Ebene der internationalen Politik als die zwei Seiten einer Sache zu sehen, also der Selbstbehauptung in einer dezentralen Machtordnung. Die Einheit von Autonomiestreben und Selbstbindung soll hier aus politologischer Sicht als Ambivalenz des Rechts gefasst werden.“

In dieser dialektischen Einheit von Autonomiestreben der Staaten und der Notwendigkeit, internationales Recht zu befolgen, versucht Brock, rechtliche Mechanismen zu finden, um Willkür auf beiden Seiten zu vermeiden: zu viel Unabhängigkeit auf der einen Seite und zu viel Durchsetzung auf der anderen. Besondere Bedeutung misst er dem sogenannten Standard der Angemessenheit bei, also den Rechtsnormen, die das Verhalten der Rechtssubjekte beeinflussen. Er schreibt: „Das Völkerrecht ist eben nicht nur insoweit wirksam, wie ihm durch eine unmittelbar wirksame Kostenkalkulation oder eine kollektive Sanktionsgewalt (nach Kapitel VII UN-Charta) Nachdruck verliehen wird. Vielmehr beruht seine Wirkung in erster Linie darauf, dass es als angemessen internalisiert wird.“ Zur Klarstellung: Kapitel VII der UN-Charta bezieht sich auf kollektive Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen.

So ist für Brock die Angemessenheit in der internationalen Politik genau der Mechanismus, der die dialektische Entwicklung des internationalen Rechts steuern sollte, die natürlich immer in Bewegung ist. Brocks Glaube an den Standard der Angemessenheit ist so groß, dass er in der Marginalisierung der UNO durch die USA nicht die Marginalisierung des bestehenden Völkerrechts selbst sieht. Er schreibt: „Die Politik bindet sich zwar selbst an die Regeln, die sie sich gibt, aber die Regeln werden durch die politische Praxis auch ständig verändert. So gesehen erleben wir heute keineswegs eine fortschreitende Marginalisierung des Völkerrechts, sondern eine Intensivierung des Kampfes darum, was im Sinne dieses Rechts als angemessen gilt.“

Brock befasst sich nicht mit dem Wunsch der Länder nach Souveränität, sondern mit den Versuchen, diese Souveränität einzuschränken, insbesondere in Form von Menschenrechtskämpfen oder humanitären Interventionen. Er schreibt: „In diesem Licht ist auch die Debatte über das Recht oder die Pflicht zur humanitären Intervention zu sehen. In ihr spiegelt sich ein wachsendes Spannungsverhältnis zwischen der Ausdifferenzierung substanzieller Rechtsnormen auf internationaler Ebene (Menschenrechte) und der Beibehaltung prozeduraler Normen, die durch das Streben der Staaten nach möglichst großer Handlungsautonomie bestimmt sind (Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat). Aus der Sicht der westlichen Demokratien gilt es als angemessen, die Menschenrechte international zu schützen; aber auch und gerade unter diesen Demokratien ist höchst umstritten, inwieweit der internationale Schutz der Menschenrechte die Selbstbindung an einen starken Multilateralismus voraussetzt. Aber gerade in diesem Sachbereich zeigt sich die Stärke der Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden als Unterscheidung zwischen der Anwendung willkürlicher und rechtlich gehegter Gewalt. Es gibt bisher keinen Fall einer „humanitären Intervention“, bei dem die Inanspruchnahme humanitärer Motive unstrittig gewesen wäre. Da hier der Ermessensspielraum besonders groß ist, ist es besonders wichtig, die Regeln kollektiver Friedenssicherung einzuhalten. Nur so kann dem Eindruck entgegengetreten werden, dass humanitäre Motive nur vorgeschoben werden, um andere Interventionszwecke zu kaschieren.“

Besonders wichtig ist Brocks Erwähnung der kollektiven Friedenssicherung, die das willkürliche Verhalten der Mächtigen, in diesem Fall der USA, eindämmt. Von ihr hängt nicht nur die weitere Entwicklung der Weltordnung, sondern auch das Schicksal der Idee des Friedens durch Recht ab. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt man, wenn man die abschließende Zusammenfassung von Brocks Studie liest. Er schreibt: „Aus politologischer Sicht ist das Recht eine Ressource der Macht; es kann aber als solche nur wirksam werden, solange es von den Adressaten als Recht anerkannt wird. Jeder Bezug der Politik auf das Recht stellt insofern immer eine Form der Instrumentalisierung des Rechts und zugleich der Bindung an das Recht dar. Anders ausgedrückt, die Berufung auf das Recht beschränkt sich nie auf seine Anwendung, sondern ist immer auch ein Akt der Rechtspolitik. Das entwertet das Recht nicht, sondern unterstreicht, dass es nicht ganz aussichtslos ist, über den Bezug auf das Recht neue Standards der Angemessenheit im Umgang mit den jeweiligen Fragen der Weltpolitik zu entwickeln. In diesem Sinne gilt es, die im Rahmen der Vereinten Nationen bestehenden Ansätze zur Etablierung einer Weltrechtsordnung zu stärken und weiterzuentwickeln. Ob das gelingt, ist ungewiss.“

Im Jahr 2004 hofft Brock immer noch, dass es der UNO gelingen wird, eine Weltrechtsordnung zu schaffen, obwohl er daran zweifelt. Im Jahr 2022, nach dem Beginn des russischen Sondereinsatzes in der Ukraine, klingt seine Forderung nach entschlossenem Festhalten an den Grundsätzen der UN-Charta bereits wie eine Verzweiflungstat. Er schreibt: „Recht ist immer umkämpft. Entscheidend ist, ob seine Geltung oder seine Anwendung Gegenstand des Streites ist. In diesem Streit wird heute mehr denn je allen Staaten abverlangt, die Grundsätze der UN-Charta entschieden zu verteidigen. Bei den sich bereits vollziehenden globalen Machtverschiebungen wird sich das als überlebenswichtig erweisen.“ (2)

Doch wie sollen die Grundsätze der UNO gewahrt werden, wenn selbst in einer so wichtigen Frage wie der rechtlichen Bewertung des Konflikts in der Ukraine keine völlige Einigkeit innerhalb der UNO herrscht? Russland rechtfertigt sein Vorgehen mit der seit dem Ende des Kalten Krieges etablierten internationalen Praxis. Für sie ist die Anerkennung der Unabhängigkeit der Krim und der Donbass-Republiken gleichbedeutend mit der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, und das Beispiel für Spezialoperationen in der Ukraine wurde durch zahlreiche NATO- und US-Spezialoperationen gesetzt. Brock schreibt: „Selbst Putin sieht sich verpflichtet, seinen Krieg gegen die Ukraine unter Verweis auf das Völkerrecht zu rechtfertigen. Auch wenn es sich um sehr unterschiedliche Konflikte gehandelt hat, kommt ihm dabei zumindest gegenüber einem nicht-westlichen Publikum zupass, dass der Westen im ‚Krieg gegen den Terror‘ und bei Eingriffen in innerstaatliche Konflikte (Kosovo 1999, Irak 2003) seinerseits die Anwendung von Gewalt mit völkerrechtlich fragwürdigen Argumenten gerechtfertigt hat.“ (3)

Putins Argumente finden in der ganzen Welt viele Anhänger und spalten die Weltgemeinschaft in zwei Fronten. Anfang März 2022 verurteilten 141 Staaten Russland in der UN-Generalversammlung, während sich fünfzig Staaten, darunter Indien, Südafrika, Brasilien und Mexiko, aber auch China, der Sanktionspolitik des Westens gegen Russland nicht anschlossen. Das Prinzip der kollektiven Friedenssicherung ist gescheitert, die UNO hat einmal mehr ihre Hilflosigkeit bei der Eindämmung von Konflikten gezeigt. Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Rolle der UNO bei der Etablierung einer Weltrechtsordnung, wie Brock 2004 schrieb, in den letzten 10 Jahren nicht nur nicht gestärkt, sondern weiter geschwächt wurde. Warum eigentlich?

Im Jahr 2004, lange vor dem Konflikt in der Ukraine, gab Brock selbst die Antwort auf diese Frage. In seiner Argumentation stellt er eine These auf, die wie ein Axiom klingt: „Das herrschende Recht ist stets Recht der Herrschenden, aber zugleich und ebenso notwendig auch herrschendes Recht.“ Kurz gesagt: Wer die Welt beherrscht, bestimmt das herrschende Recht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Völkerrecht bekanntlich von den Siegermächten dieses Krieges, d. h. den Vereinigten Staaten, England, Frankreich, Russland und China, bestimmt. Die UN-Charta und der Sicherheitsrat sind zwei der wichtigsten Instrumente der Weltordnung der Nachkriegszeit. Nach dem Ende des Kalten Krieges änderte sich die Situation grundlegend: Die Weltherrschaft ging an die Vereinigten Staaten. Das heißt, die USA, so das Axiom, sollten heute das herrschende Recht bestimmen, das möglicherweise nicht immer mit den Grundsätzen der UN-Charta übereinstimmt. Mit anderen Worten: Das alte Völkerrecht sollte durch ein neues ersetzt werden, das – entsprechend dem neuen Gleichgewicht der internationalen Kräfte – die Oberhand gewinnen sollte.

Die Entwicklung des internationalen Rechts ist ein natürlicher Prozess. Brock erinnert uns daran, indem er Immanuel Kant zitiert: „Er konzipierte einen dauerhaften internationalen Rechtsfrieden nicht als Zustand, sondern als einen historischen Prozess, der immer wieder Rückschläge erfahren würde, ohne damit aber zum Erliegen zu kommen.“ (4) Die Frage ist eine andere: Was können die USA als neue Weltordnung anbieten, nachdem sie den Kalten Krieg gewonnen und die einzige Supermacht geworden sind? Natürlich nur in einem Weltsystem, in dem alle wichtigen Entscheidungen von einem Zentrum, d.h. Washington, ausgehen. Eine solche Weltordnung ist ein zentralisiertes Machtsystem oder – noch einfacher – ein planetarisches Imperium, das auf der Grundlage der amerikanischen Ideale von Freiheit und Friedenssicherung für den Frieden und den Wohlstand aller Völker des Planeten sorgen soll.

Dies ist jedoch keineswegs die dezentralisierte Welt, über die Brock 2004 schrieb und die seit dem Ende des Kalten Krieges Gestalt angenommen hat. Elemente einer solchen Welt, die auf einem dezentralen Machtsystem beruht, finden sich in der UN-Charta wieder: kollektive Friedenssicherung, Selbstbindung unter die bestehenden Regeln und Normen der Kriegsführung, die Hauptrolle des Sicherheitsrats bei der Einhegung von Kriegen und die Einhaltung des Standards der Angemessenheit. In den letzten zwanzig Jahren hat Amerika trotz aller Warnungen von Brock alle diese Grundlagen des nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen dezentralen Machtsystems zerstört.

Das ist verständlich: Jedes Imperium hat seine eigene Entwicklungslogik. Kollektive Friedenssicherung? Russland wurde lange vor 2022 aus dem Prozess der Bildung einer neuen Weltordnung ausgeschlossen. Einhegung von Kriegen durch UN-Mechanismen? Sie sind durch die Bombardierung Jugoslawiens und den Irak-Krieg längst unterminiert worden. Selbstbindung an die geltenden Regeln und Vorschriften des bestehenden Völkerrechts? Die Amerikaner haben sie lange ignoriert, wie Brock zum Beispiel im Fall der Gefangenen in Guantanamo feststellt. Die Einhaltung des Standards der Angemessenheit? Das klingt heute lächerlich im Kontext des totalen Sanktionsdrucks seitens der USA. Indem die UNO marginalisiert wird, übernimmt Amerika zunehmend ihre Aufgaben.

In seinem Interview „Überlegungen zu Krieg und Frieden in Geschichte und Gegenwart. Lothar Brock im Gespräch“ (2019), also noch vor dem russischen Sondereinsatz in der Ukraine, musste Brock zugeben, dass die Kunst, Kriege zu beenden, endgültig verloren gegangen ist. Er beruft sich auf die Maxime von Immanuel Kant, die besagt, dass kein Friedensschluss den Stoff für neue Kriege liefern sollte“ und nennt als Beispiel den Vertrag von Versailles (1919), der nicht zum Frieden in Europa, sondern zum Nationalsozialismus, zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust führte. (5)

Auch die westliche Demokratie ist auf einer imperialen Grundlage aufgebaut: Die Wirtschaftspolitik des Westens wird in New York bestimmt, während die Politik in Washington festgelegt wird. Der Westen hat einfach keine andere Erfahrung. Deshalb bekämpfen sich die westlichen Demokratien auch nicht untereinander, weil sie durch eine zentralisierte Macht zusammengehalten werden. Wenn irgendwo im Westen der Wunsch nach Autonomie auftaucht, wird er sofort unterdrückt. Beispiele hierfür sind Frankreich unter Charles de Gaulle oder Deutschland in der Zeit des Widerstands gegen die Pläne der USA, Russland zu isolieren und die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen. Die Besuche westlicher Staatsoberhäupter in Washington ähneln heute den Reisen russischer Fürsten zu den Herrschern des Mongolenreichs, um ein Herrschaftssiegel zu erhalten. Das ging so lange, bis die russischen Fürstentümer stark genug waren, um dem tatarisch-mongolischen Joch zu widerstehen.

Im geopolitischen Diskurs wird die Konfrontation zwischen zentralisierten und dezentralisierten Machtsystemen als Kampf zwischen den Konzepten der unipolaren und multipolaren Welt bezeichnet. Die BRICS-Staaten nehmen ihre Rolle beim Aufbau einer multipolaren Welt zunehmend wahr. Die Stimme dieser Organisation bei der Lösung der Probleme in der Welt wird immer lauter. Das Gleiche gilt für die Grundlagen der Weltordnung in einer dezentralisierten Welt, einschließlich der kollektiven Friedenssicherung: Diese finden zunehmend eine dauerhafte Heimat in den BRICS und mobilisieren Staaten, die sich der weiteren Marginalisierung der UNO widersetzen.

1. Hier und weiter: https://www.jstor.org/stable/resrep14628

2. https://www.fr.de/politik/ist-das-voelkerrecht-am-ende-91943915.html

3. Ebenda

4. Ebenda

5. https://blog.prif.org/2019/02/11/ueberlegungen-zu-krieg-und-frieden-in-geschichte-und-gegenwart-lothar-brock-im-gespraech/