Schmitts Überlegungen zu Krieg und Frieden hätten den ihnen gebührenden Platz im Diskurs über Frieden durch Recht einnehmen können, wenn die deutsche Rechtswissenschaft nicht so sehr von der offiziellen Politik abhängig gewesen wäre. Für Schmitt war zum Beispiel das Aufkommen der Flugzeuge bereits Anlass genug, sein Verständnis des Charakters der Kriegsführung im Allgemeinen zu überdenken. Seitdem ist viel Zeit vergangen, und es sind neue Mittel der Kriegsführung entstanden, darunter Drohnen und Hyperschallraketen. Auch die Art der Kriegsführung hat sich grundlegend verändert, insbesondere in jüngster Zeit: Der Krieg ist hybrid und vielschichtig geworden, mit Internet, Weltraumkommunikation, künstlicher Intelligenz, digitalen Technologien, modernen Methoden der Militärpropaganda und vielen anderen Dingen, die die Kriege des letzten Jahrhunderts nicht kannten. Dennoch ist die militärische Terminologie weitgehend so geblieben, wie sie in der Zeit des Kalten Krieges war.
Das Fehlen eines umfassenden Diskurses über Krieg und Frieden führt dazu, dass nicht Fachleute für Staats- oder Völkerrecht, sondern Politiker darüber entscheiden, wer Aggressor und Kriegsverbrecher ist, wer das Völkerrecht verletzt und wer vor Gericht gestellt werden sollte. Dies wird besonders deutlich vor dem Hintergrund der totalen Politisierung des Ukraine-Konflikts, wenn alle Versuche, die rechtlichen Konzepte des Krieges zu verstehen, in der allgemeinen Ächtung Russlands als Aggressor untergehen. So zum Beispiel der Artikel von Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, in der FAZ mit dem Titel „Die kühle Ironie der Geschichte“, erschienen am 8. April 2014, also unmittelbar nach der Abspaltung der Krim von der Ukraine. Merkel schreibt: „Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts)“ (1)
So einfach und leicht verständlich aus rechtlicher Sicht. Dennoch wurde Merkels Versuch, den von Politikern so gern verwendeten Begriffen eine echte rechtliche Bedeutung zu geben, in Deutschland nicht beachtet. Bis heute spricht jeder von der Angliederung der Halbinsel Krim an Russland nicht anders als von der Annexion. Das Gleiche gilt für viele andere Rechtsbegriffe, die die westliche Politik zu ihrem Vorteil nutzt, indem sie (in Brocks Worten) das Völkerrecht manipuliert, im Rahmen von Schmitts Lehre von Krieg und Frieden ist eine solche Manipulation schlichtweg unmöglich.
Schmitt widmete bekanntlich der Bedeutung jedes Begriffs und der Logik seiner Entwicklung auf der Grundlage der sich herausbildenden geistesgeschichtlichen Situation seiner Zeit besondere Aufmerksamkeit. Für ihn beispielsweise unterscheidet sich ein Akt der Aggression grundlegend von einem Angriffskrieg. Seiner Ansicht nach, jeder Krieg, auch der Angriffskrieg, ist als Krieg normalerweise ein zweitrangiger Vorgang, ein Kampf auf beiden Seiten. Der Angriff dagegen ist ein einseitiger Akt. Die Frage nach dem Recht oder Unrecht des Krieges, auch eines Angriffskriegs, im Ganzen bedeutet etwas völlig anderes als die Frage nach dem Recht oder Unrecht eines bestimmten Angriffsaktes, mag dieser Angriffsakt nun zu einem Krieg führen oder noch rechtzeitig gestoppt werden. Angriff und Verteidigung sind nicht absolute, moralische Begriffe, sondern situationsbestimmte Vorgänge. Jemand, der heute als Aggressor gilt, kann morgen zum Opfer einer Aggression werden und umgekehrt (ein Beispiel ist der Konflikt im Nahen Osten).
Das heißt, dass die Erklärung des Angriffskrieges zum Verbrechen ganz anders ist als die Reaktion auf einen Angriffsakt, bei dem, zum Beispiel, den ersten Schuss abgegeben wurde. Im ersten Fall bleiben die Urheber, Verursacher oder Schuldige des Krieges ungeklärt, wie es die Lehre des justa causa zeigt, während im zweiten Fall bleibt die Hoffnung, den bevorstehenden Aggressionskrieg zu hegen. Die Beschränkung auf den Angriffsakt, betont Schmitt, ist also zweckmäßig und sogar notwendig, gerade um die schwierige Frage nach der justa causa, d. h. nach dem in der Sache gerechten Krieg und der Schuld am Kriege zu vermeiden. Der äußere und formale Charakter dieser Methode der Konfliktlösung wird im Kauf genommen, um den Angriffsakt und die Gewaltanwendung so schnell wie möglich zu stoppen, um zu verhindern, dass der Angriffsakt in einen Angriffskrieg übergeht.
Ist das nicht die höchste Kunst, Kriege zu beenden, deren Fehlen Lothar Brock heute beklagt?
Schmitt schätzte bekanntlich die Errungenschaften des europäischen Völkerrechts, des Jus publicum Europaeum, dem es gerade gelungen war, das schwierige Problem der justa causa (Kriegsursache) zu lösen. Der Krieg als solcher war nicht verboten, alle europäischen Länder, die sich im Krieg befanden, galten als justus hostis (gerechte Feinde), so dass sich für sie die schwierige Frage des jus ad bellum (Recht auf Krieg) nicht stellte. Der Schwerpunkt lag dabei auf Fragen des jus ad bellum (Regeln der Kriegsführung). Dank der Diplomatie, zahlreicher Friedenskonferenzen und der dort verabschiedeten Protokolle zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen gelang es den Europäern vor dem Ersten Weltkrieg, die Messlatte in der Kunst der Hegung des Krieges und seiner Humanisierung hoch zu legen.
Juristen spielten in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Schmitt schreibt: „Der Wandel vom konfessionellen, internationalen Bürgerkrieg des 16. und 17. Jahrhunderts zum ‚Kriege im Form‘, d. h. zum Staatenkrieg des europäischen Völkerrechts, hatte das Wunder gewirkt. Aus den Bluthochzeiten der religiösen Parteienkriege war der europäische Staat und mit ihm die Hegung des europäischen Landeskrieges zum reinen Staatenkrieg als ein Kunstwerk menschlicher Vernunft hervorgegangen. Dazu bedurfte es freilich einer mühseligen juristischen Arbeit.“ (2)
Darüber hinaus bestätigte Schmitt am Beispiel Kontinentaleuropas eine ziemlich offensichtliche These, die Brock viele Jahre später formulierte, als er den Anspruch der USA, der Schiedsrichter der Welt zu sein, zurückwies, nämlich dass die Ordnung in der Welt nur durch kollektives Handeln erreicht werden kann. Schmitt schreibt: „In der Geschichte des europäischen zwischenstaatlichen Völkerrechts sind alle großen Gebietsänderungen, Neubildungen von Staaten, Unabhängigkeits- und Neutralitätserklärungen als Kollektivverträge auf europäischen Konferenzen zustandegekommen oder wenigstens sanktioniert worden. Dauerende Neutralisierung von Staaten – der Schweiz 1815 und Belgien 1831/39 – sind vor allem Angelegenheiten von Kollektivverträgen der europäischen Großmächte, weil dadurch bestimmte Staatsgebiete einen besonderen völkerrechtlichen Bodenstatus erhalten, in dem sie aufhören, Kriegsschauplatz zu sein. Die Kollektivverträge der großen europäischen Friedenskonferenzen – 1648, 1713, 1814/15, 1856, 1878, 1885 (Kongo-Konferenz) – bestimmen die einzelnen Abschnitte der Entwicklung dieses Völkerrechts als einer Raumordnung.“ (3)
Was ist das, wenn nicht die praktische Verwirklichung der Idee des Friedens durch Recht?
Die Amerikaner, die nach dem Ersten Weltkrieg von den Europäern die führende Rolle bei der Gestaltung der neuen Weltordnung übernommen hatten, wollten den Krieg als solchen abschaffen, und zwar auf der Grundlage ihres Ideals von Freiheit und Frieden – im Gegensatz zu Europa, das ihrer Meinung nach in Krieg und Korruption versunken war. Der Völkerbund, der nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Ziel gegründet wurde, um die internationalen Konflikte schiedsgerichtlich beizulegen und die kollektive Sicherheit dauerhaft zu sichern, sollte dieses Ideal erfüllen. Das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges sollte zur neuen Rechtsgrundlage des Weltfriedens werden, zum einen Ideal eines globalen Westens, wo das Recht und der Frieden herrschen. Aber vergeblich! Auf der Grundlage seiner Analyse des Übergangs vom Jus Publicum Europaeum zur neuen Weltordnung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zieht Schmitt seine vielleicht wichtigste Schlussfolgerung: Garantie des Friedens ist keine Abschaffung, sondern Hegung des Krieges.
Im Grunde des Scheiterns des Völkerbundes mit seinem Ideal der Abschaffung des Krieges lag, nach Schmitt, das Dilemma zwischen einer juristisch-formalen Behandlung des Kriegsverbotes und einer politisch-moralisch-sachlichen Lösung der großen Probleme der Kriegsursachen, wie Aufrüstung und Sicherheit. All diese objektiven Probleme, zu denen Schmitt auch den Pazifismus als friedliche Lösung des Krieges zählt, sind nicht nur ein Bereich der Justiz, sondern auch der Politik und der Moral, wo sich nicht nur Juristen, sondern auch die öffentliche Meinung breiter Kreise und großer Massen beschäftigt. Doch viele Menschen empfinden die juristischen Begriffe als ein künstlicher Formalismus, unter anderem die juristische Abstrahierung von der justa causa. Unter den Verdacht der Abstrahierung geraten auch die andere Kriegsbegriffe, etwa justus hostis, also der gerechte Feind, der möglicherweise Recht hat, sich zu verteidigen, oder Angreifer, oder der alte Satz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist.
Der Völkerbund ist mit diesem Dilemma nie fertig geworden. Schmitt zufolge gab es zwischen 1920 und 1924 zahlreiche Versuche und Vorschläge, um das Kriegsverhütungs-System im Völkerbund zu stärken, doch es wurde zu keiner Vereinbarung gekommen, was ein Angriff, Angriffskrieg und insbesondere was ein mit Strafe bedrohtes internationales Verbrechen sein soll. Das Genfer Protokoll vom 2. Oktober 1924 enthält zwar den Satz, „dass der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen ist“, aber keine Entwürfe des Protokolls waren perfekt. Auch selbst Genfer Protokoll ist nicht in Kraft getreten: Es ist infolge des englischen Wiederstandes gescheitert, aufgrund von Gedanken, dass formale Definitionen des Angreifers nicht unterschieden werden können, ob militärische Aktion einem Verteidigungszweck dient oder nicht. (4)
Die absichtliche Vermeidung, die wichtigen Kriegsbegriffe und insbesondere die Kriegsschuldfrage deutlich zu klären, wurde also zum Schicksal des Völkerbundes. Nach Schmitt, das Verbot des Krieges und die Erklärung des Krieges zum Verbrechen, die damals an schwierige juristische Vorbehalte geknüpft waren, bedeuteten aber nicht die elementar einfache Beseitigung der Kriegsgefahr selbst. Das war die bittere Erfahrung, die alle europäischen Völker in der chaotischen Zeit von 1919 bis 1939 gemacht haben.
Die Leichtigkeit, mit der heute die öffentliche Meinung im Westen der Schuld für die Ukraine-Krise und allgemein für die Weltkrise allein auf Russland schiebt, zeigt deutlich, dass das alte Dilemma zwischen den rechtlichen Grundlagen des Krieges und ihrer politischen Auslegung noch nicht überwinden ist. Die Abschaffung des Krieges als neues Modell der Weltordnung stellt Politik und Moral über die Justiz und verhindert so, auch bewusst, eine öffentliche Diskussion über die Grundprobleme des Krieges. Die Kriegsfragen werden jetzt aus dem Bereich der Justiz in den Bereich der Bildung der öffentlichen Meinung verlagert, wo die Medien eine besondere Rolle spielen. Für die Siegermächte ist diese Rolle der Medien besonders wichtig, weil sie dazu beiträgt, ihre Glaubwürdigkeit in Fragen des Krieges herzustellen, insbesondere in der Frage, welcher Krieg als gerecht anzusehen ist und welcher nicht. Die traurige Erfahrung der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939 scheint heute völlig vergessen zu sein.
Wie der Völkerbund hat es auch die UNO in ihren zahlreichen Dokumenten nie geschafft, sich bei der Definition der wichtigsten Begriffe des Völkerrechts, einschließlich eines so zentralen Begriffs wie Aggression, vom Formalismus zu befreien. Ein Beleg dafür ist die Resolution der UN-Generalversammlung vom 14. Dezember 1974, in der es heißt: „Aggression ist die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist, wie in dieser Definition ausgeführt.“ (5)
Eine solche Definition von Aggression geht an der Hauptfrage vorbei, über die der Völkerbund seinerzeit gestolpert ist: Ob militärische Aktion einem Verteidigungszweck dient, oder nicht? Natürlich sollten die UN-Mitglieder auf die Anwendung militärischer Gewalt verzichten; dies ist der wichtigste Grundsatz der rechtlichen Regelung der internationalen Beziehungen. Aber ohne Berücksichtigung der justa causa sind alle Argumente über die Verletzung des geltenden Völkerrechts bedeutungslos. Jede der Parteien kann sich auf das Völkerrecht berufen, um ihre Position zu rechtfertigen: für die einen ist es das Prinzip des „ersten Schusses“, für die anderen das Recht auf Selbstverteidigung, wenn Selbstverteidigung als reale Bedrohung der Existenz des Staates verstanden wird, und nicht das formale Prinzip des ersten Schusses.
Der Krieg in der Ukraine ist ein deutliches Beispiel dafür. Im Westen wurde die russische Spezialoperation in der Ukraine als „völkerrechtswidrig“ bezeichnet, oft ohne Bezugnahme auf die militärischen Spezialoperationen der Vereinigten Staaten und der NATO in Jugoslawien, Irak, Libyen und Afghanistan. Aus der Sicht des Westens handelt es sich um eine Aggression, aus der Sicht Russlands um Selbstverteidigung, die ihre eigene Vorgeschichte und ihre eigenen Fakten hat, die die Notwendigkeit von Präventivmaßnahmen gegen die Ukraine belegen. Das von den Machthabern der Ukraine unter der Schirmherrschaft des Westens geschürte Projekt „Anti-Russland“, die aktive, auf den Osten gerichtete Militarisierung des Landes, die Truppenkonzentration im Donbass bis Anfang 2022, die Absichten Selenskyjs, die Ukraine wieder zur Atommacht zu machen, und sein Plan „B“ zur Lösung der Krim-Frage: Diese und viele andere Faktoren haben Russland keine andere Wahl gelassen, als direkt in den Bürgerkrieg in der Ostukraine einzugreifen, um einen noch blutigeren Krieg zu vermeiden.
Bereits zu Beginn des militärischen Konflikts gab es eine Möglichkeit, ihn zu beenden (Istanbuler Gespräche im März 2022). Mit anderen Worten, die höchste Kunst der Diplomatie zu demonstrieren und zu verhindern, dass der Konflikt zu einem vollwertigen Angriffskrieg eskaliert. Doch das Schicksal des Konflikts wurde nicht in den Sitzungen des Sicherheitsrats entschieden, wie es die UN-Charta vorsieht, sondern hinter den verschlossenen Türen der westlichen Regierungen. Der Konflikt entwickelte sich zu einem Stellvertreterkrieg, d. h. zu einer militärischen Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, bei der die Menschen in der Ukraine im Regen stehen gelassen wurden. Westen und Russland verfügen über genügend militärische Mittel, um sich gegenseitig zu bekämpfen, bis hin zu Atomwaffen. Die einzigen begrenzten Ressourcen sind die Humanressourcen, d.h. die Soldaten, bei denen Russland einen klaren Vorteil hat. Indem der Westen versucht, Russland eine strategische Niederlage beizubringen und Waffen in die Ukraine zu pumpen, bringt er das ukrainische Volk selbst an den Rand des Überlebens. (S. auch „Der Westen zieht sich in einer Zwickmühle“)
Eines der größten Missverständnisse, das westliche Politiker und Medien bereitwillig unterstützen, ist, dass Russland kein Recht hatte, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen, weil dies durch die UN-Charta verboten ist. Die Charta selbst verbietet jedoch keine militärischen Maßnahmen. Das ist jedem Juristen klar, auch Brock, der schreibt: „Die Charta spricht ein allgemeines Gewaltverbot aus und etabliert eine dem Gewaltverbot entsprechende Friedenspflicht.“ Ein Verbot von Gewalt auszusprechen oder sie zu verbieten, sind zwei verschiedene Dinge. Die UN-Charta verbietet die Anwendung militärischer Gewalt nicht: Sie ist zur Selbstverteidigung zulässig, d.h. sie ist als solche zulässig. Dies ist in Artikel 51 der UN-Charta festgelegt: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“
Formaler Grund für die Selbstverteidigung, d.h. für die legitime Anwendung militärischer Gewalt nach der UN-Charta, ist also ein bewaffneter Angriff des Gegners, der durch den ersten abgefeuerten Schuss belegt wird. Aber um die Anwendung von Gewalt als Selbstverteidigung formell zu rechtfertigen, kann auch eine Provokation organisiert werden, um die Gegenpartei zu beschuldigen, den ersten Schuss abgegeben zu haben. Hier liegt das Problem: Die UNO stützt sich auf das Prinzip des ersten Schusses, um zu bestimmen, wer ein Angreifer ist, obwohl dieses Prinzip keine Antwort darauf gibt, ob es sich um einen Angriff oder um Selbstverteidigung handelt. Eine gut geplante militärische Provokation reicht aus, um dem Feind einen umfassenden Krieg zu erklären. Ein klassisches Beispiel ist der Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939. Anlass für die Kriegserklärung war ein inszenierter polnischer Überfall auf den Sender Gleiwitz am 31. August 1939. Es ist aber auch möglich, keine Provokation zu planen, sondern die Öffentlichkeit einfach in die Irre zu führen, wie es die US-Regierung zum Beispiel 1964 tat, als sie den Tonkin-Zwischenfall (angeblich schossen nordvietnamesische Schnellboote im Golf von Tonkin vor der Küste Nordvietnams zwei US-amerikanische Kriegsschiffe mehrmals ohne Anlass) nutzte, um direkt in einen Krieg mit dem kommunistischen Vietnam einzutreten. Und so weiter.
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Rolle von Provokationen zur Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt nur noch zugenommen – vor allem durch die Ausweitung des Geltungsbereichs der „humanitären Intervention“ im Kampf gegen das globale „Böse“. Der Weg wird durch eine Praxis geebnet, die in letzter Zeit im Westen üblich geworden ist, nämlich den Grundsatz der Unschuldsvermutung völlig zu ignorieren. Der Straftäter wird im Voraus bekannt gegeben, d.h. bevor die Ermittlungen beginnen, was bedeutet, dass die Bekämpfung gegen ihn mit Sicherheit für legitim erklärt werden kann, insbesondere unter den Bedingungen einer vollständigen Kontrolle über die Medien. Spätere Zweifel am Wahrheitsgehalt der Vorfälle, die als Grundlage für den Kampf gegen das „Böse“ dienten, oder gar deren vollständige Widerlegung spielen keine Rolle mehr: Der Bösewicht ist benannt und muss bestraft werden. Die Liste solcher Strafen ohne Beweise ist recht umfangreich: der Vorfall in Račak 1999, der Anlass für die Bombardierung Jugoslawiens war; Colin Powells Reagenzglas als Rechtfertigung für den Krieg gegen den Irak; Beschuldigung der syrischen Regierung, chemische Waffen eingesetzt zu haben, um eine militärische Intervention zu rechtfertigen; eine ganze Reihe von Anschuldigungen gegen Russland wegen der schlimmsten Sünden, von der Vergiftung der Skripals und Nawalnys bis zum Vorfall in Butscha, die vorschnell und einseitig erhoben wurden.
Als die russische Regierung am 24. Februar 2022 den Beginn einer speziellen Militäroperation in der Ukraine ankündigte, berief sie sich nicht auf das Prinzip des „ersten Schusses“, obwohl sie genügend Gründe dazu hatte. So beschoss die ukrainische Armee 2014 mehrfach russische Grenzsoldaten, was eine Rechtfertigung für die nach der UN-Charta legitime Einführung russischer Truppen in das Gebiet des Donbass sein könnte. Für die USA würde dies beispielsweise ausreichen, um die Aggression eines Nachbarlandes mit weitreichenden Folgen zu erklären. Natürlich beeilten sich die ukrainischen Behörden sofort zu behaupten, es handele sich um russische Provokationen, aber was spielte das für eine Rolle, wenn der Grundsatz der Unschuldsvermutung in den internationalen Beziehungen nicht mehr galt. Russland könnte, ohne Ermittlungen abzuwarten, der Ukraine auf der Grundlage seines legitimen Rechts auf Selbstverteidigung ganz rechtmäßig den Krieg erklären.
Dies würde jedoch nichts an dem vom Westen eingeschlagenen Kurs ändern, Russland zu diskriminieren, wie der Georgienkrieg von 2008 gezeigt hat. Damals forderte Georgien, das den von ihm begonnenen Krieg verloren hatte, dass Russland als Aggressor verurteilt werden sollte. Der Internationale Gerichtshof wies diese Klage jedoch in einer Entscheidung vom 15. Oktober 2008 zurück und bestätigte damit, dass Russland im Rahmen des geltenden Völkerrechts gehandelt hatte. Doch in der westlichen Wahrnehmung, dank der Medien, bleibt Russland bis heute im Georgien-Krieg ein Aggressor, während Georgien die Opferrolle zugeschrieben wurde. Auch im Ukraine-Konflikt war die Reaktion des Westens auf jede Aktion Russlands vorherbestimmt: Es wäre in jedem Fall zum Aggressor erklärt worden.
Auch der Verweis auf sogenannte Präzedenzfälle in der internationalen Politik bewahrte Russland nicht vor dem Vorwurf der Aggression. Der Beitritt der Krim zu Russland stützte sich insbesondere auf den Präzedenzfall im Kosovo, als einige westliche Länder entgegen dem Völkerrecht die Unabhängigkeit der Republik Kosovo anerkannten. Doch während der Westen die Unabhängigkeit der Kosovaren anerkannte, sprach er den Krimbewohnern dieses Recht kategorisch ab. Die russische Spezialoperation in der Ukraine ist – aus Sicht der formalen Definition von Aggression – völkerrechtswidrig, ebenso wie die Spezialoperationen der USA und ihrer Satelliten in Jugoslawien, Irak, Libyen und Afghanistan. Aber nur Russland bleibt in den Augen des Westens der Aggressor.
Das Schicksal des Völkerbundes, der es nicht geschafft hat, das Problem der justa causa zu lösen, hätte auch die UNO ereilen können, wenn der Sicherheitsrat nicht das Vetorecht gehabt hätte. Die Anwesenheit von zwei Konfliktparteien im Sicherheitsrat verhinderte, dass sich Konflikte in der Zeit des Kalten Krieges zu langwierigen Angriffskriegen ausweiteten, die zu einem neuen Weltkrieg hätten führen können. Während des Kalten Krieges wurde das Problem der justa causa durch das militärische Gleichgewicht der beiden Weltmächte gelöst. Es war die Zeit der Stellvertreterkriege (Korea, Vietnam, Afghanistan), in denen die beiden Mächte ihre Beziehungen untereinander auf dem Territorium anderer Staaten, d.h. als innerstaatliche Kriege, regelten, ohne formell in eine direkte Konfrontation einzutreten (die Lektion der Kubakrise war ihnen lange Zeit genug).
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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekam das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges einen zweiten Atemzug und fand seine Verkörperung in der Umsetzung des Plans zum Aufbau einer unipolaren Welt. Ausgehend von der Annahme, dass Demokratien sich nicht untereinander bekämpfen, versucht der Westen – natürlich nach seinem eigenen Modell – die ganze Welt zu demokratisieren, in der Hoffnung, dass in dieser neuen Welt kein Platz für Kriege und Konflikte sein wird. Aber während sich die westliche Demokratie früher ihren eigenen Weg bahnen konnte (es gibt drei Demokratisierungswellen), stößt sie heute auf eine taube Wand der Konfrontation, die der Westen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchbrechen muss, oft zum Nachteil der Gesetze und Regeln, die sich in den letzten hundert Jahren entwickelt haben. Schmitt hatte also Recht, als er warnte, dass eine Abschaffung des Krieges ohne echte Hegung nur neue, wahrscheinlich schlimmere Arten des Krieges, Rückfälle in den Bürgerkrieg und andere Arten des Vernichtungskrieges zur Folge hat. Und genau das ist es, was wir heute erleben. (Siehe „Heute, einhundert Jahre danach“)
Doch die tiefgreifende Veränderung der Probleme im Zusammenhang mit Krieg und Frieden war zumindest in Deutschland noch nicht Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte geworden. Und dies, obwohl die Rolle neuer Formen der Kriegsführung, einschließlich der Informations- und hybriden Kriegsführung, eine Bedeutung erlangt hat, die das Wesen und den Charakter des Krieges selbst weitgehend bestimmt. Für Carl Schmitt wäre dies ein Anlass gewesen, die Probleme von Krieg und Frieden gründlich zu überdenken, nicht aber für die westlichen Juristen. Auch die UNO schweigt. So haben beispielsweise Begriffe wie „soft power“ und „regime change“ längst Eingang in das Lexikon der internationalen Beziehungen gefunden, aber sie haben noch keine rechtliche Auslegung in UN-Dokumenten gefunden, obwohl sie der UN-Charta widersprechen. Schließlich bedeuten soft power und regime change, wenn nicht eine direkte, so doch eine indirekte Bedrohung der politischen Unabhängigkeit eines Staates, d.h. eine politische Aggression, die gegen die wichtigste Rechtsgrundlage der Charta verstößt, in der es heißt: „Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.“ (6)
Amerika und seine Satelliten nutzten die Schwäche Russlands aus, um die Errungenschaften des Völkerrechts, die während des Kalten Krieges erzielt wurden, auszuhebeln. Die UNO hat nicht mehr die Glaubwürdigkeit, die sie einmal hatte. Und welche Autorität kann eine Organisation, die für die Einhaltung des Völkerrechts verantwortlich ist, haben, wenn sie mit Politikern nicht in ihrer eigenen Sprache, sondern in der Sprache der Politiker spricht und es beispielsweise vermeidet, den Konflikten in der Ukraine oder im Nahen Osten ihre rechtliche und nicht ihre politische Bedeutung zu geben.
Es gibt auch immer wieder Versuche, die Rolle des Sicherheitsrates, der laut UN-Charta die Hauptverantwortung für die Beilegung internationaler Konflikte trägt, zu untergraben. Im Jahr 1999 übernahm die NATO die Aufgabe, den Bürgerkrieg in Jugoslawien ohne Beteiligung des Sicherheitsrats zu bewältigen. In der Zeit des Kalten Krieges wäre dies undenkbar gewesen und hätte die Welt schlimmstenfalls in einen weiteren Stellvertreterkrieg geführt. Das Gleiche taten die USA 2003, als sie den Irak angriffen. Seitdem hat sich das Zentrum der Entscheidungsfindung über die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit von der Vereinten Nationen in die Büros der US-Regierung verlagert. Die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten sind ein klarer Beweis dafür.
Der Georgienkrieg 2008 war der erste zwischenstaatliche Konflikt, in dem Russland zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch der UdSSR seine Bereitschaft erklärte, seine Interessen militärisch zu verteidigen. Es war der erste Stellvertreterkrieg seit dem Ende des Kalten Krieges – mit aktiver Unterstützung der USA für die Regierung Saakaschwili. Der größte Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland ist jedoch der Konflikt in der Ukraine. Diese Tatsache bringt die Welt zurück in die historische Situation vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion und lässt hoffen, dass das globale Gleichgewicht der Kräfte, das die Welt während der Zeit des Kalten Krieges vor einer nuklearen Katastrophe bewahrt hat, endlich wiederhergestellt ist. (S. auch „Ukraine-Krieg soll einen dritten Weltkrieg verhindern“)
So trägt die russische Militäroperation in der Ukraine dazu bei, dass das bestehende Völkerrecht, wie es vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestand, seine verlorene Kraft zurückgewinnt. Damit hat die UNO wieder die Chance, ihre eigentliche Rolle als Schiedsrichter in den internationalen Beziehungen zurückzuerobern, die ihr die USA – mit der Begründung, dass die UNO mit dieser Rolle nicht gut zurechtkomme – versuchen zu nehmen. Dies ist vielleicht noch wichtiger als die Aufgaben, die sich Russland in der Ukraine gestellt hat: Entmilitarisierung und Entnazifizierung des Landes bei gleichzeitiger Weigerung, der NATO beizutreten.
Eine noch größere Aufgabe besteht darin, ein künftiges Rechtssystem für die internationalen Beziehungen zu schaffen, das den Abstieg der Welt in die totale Konfrontation verhindert. In der Geopolitik wird dies als Kampf zwischen zwei Konzepten zum Aufbau einer neuen Weltordnung bezeichnet: unipolare und multipolare Welten. Was die Rechtsphilosophie betrifft, so steckt dieser Kampf noch in den Kinderschuhen. Aber es ist leicht zu erraten, dass das amerikanische Ideal der Abschaffung des Krieges genau die Idee ist, die hinter dem Konzept des „kontrollierten Chaos“ steht: Nur so kann Amerika seine planetarische Hegemonie sichern. Eine Alternative zu diesem Ideal wäre daher das Konzept der Hegung des Krieges, das Carl Schmitt am Beispiel des Jus publicum Europaeum eingehend untersucht hat.
Dieses Konzept kann durchaus die Rechtsgrundlage für eine multipolare Welt werden. Erstens stützt sie sich auf die bereits erwähnte philosophische Schule des Völkerrechts, deren Vertreter die großen Denker der Renaissance waren, darunter Rousseau, Kant und Hegel. Zweitens enthält es die Grundsätze der internationalen Beziehungen, die der Westen in jüngster Zeit auf der Suche nach seinem Ideal zu zerstören versucht hat. (Siehe „Carl Schmitts Formel des Friedens“)
Eine Weltordnung im 21. Jahrhundert, die auf den Prinzipien des Jus Publicum Europaeum beruht, ist durchaus möglich, wenn wir anstelle der souveränen Staaten des alten Europa, die das Fundament der europäischen Ordnung bildeten, die von Carl Schmitt definierten Großräume zu Grunde legen. Der berühmte amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington schrieb ebenfalls über große Kulturräume und vertrat die Ansicht, dass die Konflikte der Zukunft Konflikte zwischen solchen großen Räumen sind.
Das bedeutet, dass Konflikte und sogar Kriege in Zukunft nicht vermieden werden, aber sie werden nicht von Amerika allein, sondern von den Weltmächten – als anerkannte justus hostis und gleichberechtigte Akteure in der Weltpolitik – beigelegt werden. Der Krieg selbst wäre nicht mehr illegal, sondern müsste Regeln und Methoden unterworfen werden, die auf der Gleichheit aller Parteien beruhen. Die Weltmächte werden dafür sorgen, dass jegliche Aggression nicht zu einem totalen Angriffskrieg eskalieren kann und dass die Hegemonie in all ihren Formen aufhört zu existieren.
In der Tat hat dieser Prozess bereits begonnen und nimmt konkrete Formen an. Die russische Sonderoperation in der Ukraine gibt Russland den verlorenen Status des justus hostis zurück: Nach der völligen Weigerung, sich auf die Interessen Russlands einzulassen, begreift der Westen allmählich, dass er weiterhin mit Moskau verhandeln muss. China, Indien, Russland und andere Länder sind zunehmend mit der Beilegung internationaler Konflikte befasst: in Syrien und Berg-Karabach, an der Grenze zwischen Kirgisistan und Usbekistan, zwischen Afghanistan und Tadschikistan, zwischen China und Indien und schließlich zwischen Russland und der Ukraine. Die BRICS-Staaten werden zur Lokomotive bei der Verwirklichung des Konzepts einer multipolaren Welt und ziehen immer mehr Länder aus allen Kontinenten an. Die Gleichheit der großen Staaten, die ihre Souveränität in der Konfrontation mit dem Westen verteidigt haben, ist eine Garantie dafür, dass der Grundsatz der Gleichheit und Souveränität auf alle anderen Länder ausgedehnt wird. Was in der heutigen, auf westlicher Hegemonie aufgebauten Welt einfach unvorstellbar ist.
Hinter der Idee des Friedens durch Recht, die Lothar Brock so sehr am Herzen liegt, steckt also eine Zukunft. Diese Idee, die voll und ganz mit dem Konzept der Hegung des Krieges übereinstimmt, hat Europa vier Jahrhunderte lang vor Vernichtungskriegen bewahrt und wird heute als Rechtsgrundlage für den Aufbau einer multipolaren Welt nützlich sein. Die großen Ideen sterben zum Glück nicht, sondern kommen immer wieder, wenn auch in einem anderen Gewand.
2. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Duncker&Humbolt GmbH, Berlin, 5. Auflage 2011, S. 123.
3. Ebenda, S. 162.
4. Ebenda, S. 245-246.
5. https://www.un.org/depts/german/gv-early/ar3314_neu.pdf
6. UN-Charta, Art. 2.