Die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Popularisierung von Vorlesungen des bekannten Theologen Francisco de Vitoria weltberühmt. In dieser Zeit wurden zahlreiche Vorträge über das geistige Erbe von Vitoria veröffentlicht, vor allem durch den amerikanischen Juristen und Politikern, das dann in der sogenannten modernen Lehre des gerechten Krieges einen Ehrenplatz gefunden haben. Carl Schmitt stellt aber diese neue Version des gerechten Krieges als eine vielfache Verwertung der Vitorias Argumentation dar und bemüht sich, der Bild des bekannten Theologe „von falschen Übermalungen zu reinigen und seinen Wort ihren wahren Sinn zurückzugeben“. (1)
Dies war nicht umsonst. Die moderne Lehre des gerechten Krieges ist seit dem Ersten Weltkrieg zum wichtigsten Bestandteil der amerikanischen Politik geworden, die darauf bestand, den neuen Status quo der USA als Weltherrscher zu befestigen. Nach Schmitts Ansicht führt dies jedoch zu einer Kriminalisierung des Krieges, die durch eine Verbindung mit dem amerikanischen Ideal der Abschaffung des Krieges den Tür zu einem neuen vernichtenden Weltkrieg zu öffnen riskieren. Nach der Eskalation der Konflikte um die Ukraine und Taiwan ist das genau der Fall. Aus diesem Grund bekommt die Vitorias Argumentation erneut eine große Bedeutung bei dem Verständnis dessen, was heute in der Welt geschieht.
Zur weltgeschichtlichen Bedeutung von Vitorias Vorlesungen schreibt Schmitt: „Vierhundert Jahre lang, vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, ist die Struktur des europäischen Völkerrechts durch einen fundamentalen Vorgang, durch die Eroberung einer neuen Welt, bestimmt worden. Selbstverständlich haben damals wie später zahlreiche Diskussionen über naheliegende rechtliche und moralische Fragen stattgefunden. Auch gibt es zahlreiche einzelne Stellungnahmen zu dem Recht oder Unrecht der Conquista. Trotzdem darf man behaupten, dass das grundlegende Problem selbst, nämlich die Frage nach Ganzen, selten in systematischer Weise ex professo zum Gegensatz einer moralischen oder rechtlichen Fragestellung gemacht worden ist. Eigentlich gibt es nur eine einzige, in diesem Sinne systematische und zugleich monografische Behandlung, die das völkerrechtliche Problem offen ins Augen fasst, die grundsätzliche Frage nach den in Betracht kommenden Rechtstiteln der großen Landnahme direkt stellt und nach allen Regeln der scholastischen Methode beantwortet. Diese Darlegung stammt aus der ersten Zeit der Conquista selbst. Es sind die berühmte Vorlesungen des Francisco de Vitoria, die Relecciones „de Indis et iure belli“ (1538/9).“ (2)
Die Vitorias Thesen, wie es Schmitt unterstreicht, gehören zur spanischen Spätscholastik und erscheinen heute – dank ihren „ganz außergewöhnlichen Unparteilichkeit, Objektivität und Neutralität“ – nicht mehr mittelalterlich, sondern „modern“. Sie sind in sieben Titeln (tituli) als legitime und sieben Titeln als nicht legitime Rechtstitel der Republica Christiana bei der Landnahme der Neuen Welt erfasst, die bis heute den Eindruck völliger Objektivität und Neutralität liefern. Schmitt schreibt: „Dabei werden alle Rechtstitel des Papstes und des Kaisers, die sich aus einem Weltherrschaftsanspruch ableiten, mit voller Unbefangenheit als nicht geeignet und nicht legitim abgelehnt. Insbesondere wird stets betont, dass die Eingeborene Amerikas zwar Barbaren, aber trotzdem Menschen sind wie die europäische Landnehmer. Sie sind Menschen und keine Tiere. Damit wird, wenn auch ohne ausdrückliche Bezugnahme, eine bestimmte Art von Argumentation abgelehnt, die damals schon öfters vorgebracht wurde, insbesondere in verschiedenen Rechtfertigungen der Conquista durch den Historiographen Karls V. und Lehrer Philipps II., den Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda (1494-1573).“ (3)
Es handelt sich um einer damals weit verbreiteten und in manchen Fällen nicht unbegründeten Behauptung, dass die Indianer nur Kannibalen und Barbaren sind, um sie, auch unter Berufung auf Aristoteles (im ersten Buch der Politik schreibt Aristoteles, dass barbarische Völker „von Natur Sklaven“ sind) mit dieser Begründung rechtlos und ihr Land zum Objekt einer freien Landnahme zu machen. Es gibt auch einen berühmten Spruch, der dem Humanisten Sepúlveda zugeschrieben wird: „Die Spanier stehen über die Barbaren wie der Mensch über dem Affen.“ Noch einen Argument für die große Landnahme der Neuen Welt hat englischen Philosophen Francis Bacon geliefert. Er sagt, die Indianer seinen als Kannibalen „von der Natur selbst proskribiert“, also von der Natur geächtet sind. Sie stehen außerhalb der Menschheit und sind rechtlos. (4)
Alle diese Argumente wie auch die bekannte Formel „homo homini lupus“ werden von Vitoria als „heidnisch abgelehnt“. Ihnen stellt er ausdrücklich sein homo homini homo dagegen. Schmitt schreibt: „Dieses dreifache homo klingt etwas tautologisch und neutralisierend; es klingt schon erasmisch, ist aber noch christlich gemeint.“ Damit erinnert Schmitt, dass in der allgemeinen rechtlichen Argumentation des 16. und 17. Jahrhunderts die sogenannte inhuman-humanitäre Diskriminierung, also die Zwei-Seiten-Aspekt der Humanitätsidee, die nur im 18. Jahrhundert entstanden und dem Mensch als seinen spezifisch neuer Feind, den Unmensch, entgegengestellt hatte, tritt noch keineswegs als zentrale Argument hervor. „Biologisch argumentierende Diskriminierungen lagen der Zeit praktisch ganz fern“, behauptet Schmitt und schreibt: „Dafür war das 16. Jahrhundert noch zu tief christlich, erst recht bei den Spaniern mit ihrer Marien-Verehrung und ihrer Hingabe an das Bild der unbefleckten Jungfrau und Gottesmutter.“ So ist es an sich nicht wunderlich, so Schmitt, dass Vitoria von der christlichen Wahrheit ausgeht und hervorhebt, dass nicht-christliche Indianer nicht zugunsten christlicher Europäer entrechtet werden dürfen. (5)
Aber, betont Schmitt, die allgemeine Eigenschaft, Mensch zu sein, braucht noch nicht die sozialen, rechtlichen und politischen Unterscheidungen zu nivellieren, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte ergaben. Er schreibt. „Alle christlichen Theologen wussten, dass auch die Ungläubigen, Sarazenen und die Juden Menschen sind und doch beruhte das Völkerrecht der Republica Christiana, mit seinen tiefen Unterscheidungen verschiedener Arten der Feinde und infolgedessen auch des Krieges, auf tiefen Unterscheidungen zwischen den Menschen und auf einer großen Verschiedenheit ihres Status.“ Im Gegensatz zu anderen Theologen stellt Vitoria jedoch „in rechtlichen, wenigsten in völkerrechtlicher Hinsicht, Christen und Nicht-Christen einander gleich“. (6)
Daraus folgt die Vitorias Ablehnung des päpstlichen und kaiserlichen Rechtstitels auf Landbesitz in der Neuen Welt. Schmitt schreibt: „Weder der Papst, der nur geistliche Macht hat, noch der Kaiser, der keineswegs der Herr der Welt ist, noch irgendein christlicher Fürst kann über die nicht-christlichen Völker und ihren Boden verfügen. Die Fürsten jener barbarischen, nicht-christlichen Länder haben ebenso Herrschaftsgewalt (jurisdictio), und die eingeborenen Bewohner haben ebenso Eigentum am Boden (dominiim) wie die Fürsten und Völker christlicher Länder an ihrem Boden. Diese Auffassung setzt sich bei den spanischen und nicht-spanischen Autoren im 16. Jahrhundert allgemein durch. Dass die Spanier sich zum Christentum bekennen, gibt ihnen also kein unmittelbares Recht zur Landnahme des Bodens nicht-christlichen Fürsten und Völker.“ (7)
Deshalb ist für Vitoria die Entdeckung, die für die Bewusstseinslage des 16. bis 18. Jahrhunderts der eigentlichen Rechtstitel war, kein legitimer Erwerbstitel, sowie die Okkupation, weil für ihn der Boden Amerikas nicht frei und herrenlos ist. Auch die tiefgreifenden Unterscheidung innerhalb des Begriffes „Feind“, die in dem Völkerrecht des christlichen Mittelalters so stark hervorgetreten sind, scheint bei Vitoria in der allgemeinen Menschengleichheit unterzugehen. Schmitt schreibt: „Die Spanier sind und bleiben die Mitmenschen der Barbaren; deshalb besteht die christliche Pflicht zur Nächstenliebe auch hier; jeder Mensch ist unser „Nächster“. Daraus wird in concreto moralisch und juristisch gefolgert, dass alle Rechte der Spanier gegenüber den Barbaren auch umgekehrt gelten, reversibel sind als jura contraria, als Rechte der Barbaren gegen die Spanier, in unbedingten Reprozität und Umkehrbarkeit. Wenn Christen und Nicht-Christen, Europäer und Nicht-Europäer, Zivilisierte und Barbaren gleichberechtigt sind, müssen eben alle Begriffe reversibel werden. Infolgedessen heißt es zu dem Rechtstitel der Entdeckung und der Okkupation: ein solcher Rechtstitel nützt den Spaniern nicht mehr, als wenn umgekehrt die Indianer uns entdeckt hätten.“ (8)
Nach Schmitts Ansicht wäre es jedoch ein großer Fehler zu glauben, dass Vitoria die große spanische Conquista für ein Unrecht erklärt hat. In Wirklichkeit kommt Vitoria trotz seiner Ablehnung von sieben Rechtstiteln doch zu einem für die spanische Conquista „durchauspositiven Ergebnis“. Vor allem ist die weitgehend vollzogene Christianisierung für ihn keineswegs unbeachtlich. Schmitt schreibt: „Als Theologe stellt Vitoria die Frage nach dem „Recht“ der Conquista und nach der justa causa belli (gerechter Grund zur Kriegsführung, Anm. d. Autors) unter durchaus moraltheologischen Gesichtspunkten, nicht einer, wenigsten aus den ersten Blick ganz unpolitischen Objektivität und Neutralität. … Wir müssen uns nicht nur allgemein davor hüten, den großen Theologen in den leeren Raum einer in modernen Sinne neutralen Objektivität zu versetzen, wir müssen auch den spanischen Dominikaner in seiner geschichtlichen Situation und in seiner ganzen Existenz, in seinen ganz konkreten Denken als ein Organ der römisch-katholischen Kirche, d. h. als ein Organ der konkreten völkerrechtlichen Autorität sehen, von der die Krone von Kastilien den Missionsauftrag für die Neue Welt, also den Rechtstitel der großen Landnahme empfangen hatte.“ (9)
„Der päpstliche Missionsauftrag war in der Tat die rechtliche Grundlage der Conquista“, betont Schmitt und ergänzt: „Das hat nicht etwa nur der Papst behauptet. Auch die katholischen Könige Spanien selbst haben die rechtliche Verbindlichkeit des Missionsauftrages stets anerkannt. In vielen Instruktionen und Erlassen an ihren Admiral Christoph Columbus und an ihre Gouverneure und Beamten betonen sie am erster Stelle die Pflicht zur Mission.“ Alle diese Regelungen, die Schmitt nur als Beispiele erwähnt hat, können nur nach dem Völkerrecht des christlichen Mittelalters beurteilt werden, nicht nach dem heutigen internationalen oder zwischenstaatlichen Recht. Es ist auch zu beachten, dass Orden der Dominikaner, dem Vitoria angehörte, und die anderen in der Mission der Indianer tätigen geistlichen Orden die Hüter und Vollstrecker des geistlichen Missionsauftrages waren, aus dem sich der legitime Titel für eine weltliche Conquista entwickeln lässt. (10)
Nun geht Schmitt zu einer prinzipiell wichtigen These: „Das Recht zur Landnahme entsteht nach Vitoria nur mittelbar, und zwar auf dem Wege über die Argumentation des gerechten Krieges.“ Dabei betont Schmitt, dass solches positive Ergebnis der Conquista nur in allgemeinen Begriffen und mit Hilfe hypothetischer Argumentation auf dem Wege über die Konstruktion eines gerechten Krieges genommen wird. Er schreibt: „Der neutral-allgemeine und zugleich hypothetische Charakter der Argumentation ist hier besonders ausfallend. Wenn die Barbaren sich dem Gastrecht und der freien Mission, dem liberum commercium und der freien Propaganda widersetzen, dann verletzen sie die nach jus gentium (Recht der Völker, Anm. d. Autors) bestehende Rechte der Spanier, und wenn dann das friedliche Zureden der Spanier nicht nützt, dann haben diese einen Grund zu einem gerechten Krieg. Der gerechte Krieg wiederum liefert den völkerrechtlichen Titel für die Okkupation und Annexion amerikanischen Bodens und die Unterwerfung amerikanischen Völkern. Dazu kommen weitere Gründe für einen gerechten Krieg der Spanier gegen Amerikaner, Gründe, die man in moderner Sprechweise für typisch „humanitäre Interventionen“ geltend machen würde und die zu Okkupations- und Interventionsrechten der Spanier führen, wenn diese für Menschen eintreten, die von Barbaren in deren Land ungerechterweise unterdrückt werden. Insbesondere gilt dieses Interventionsrecht der Spanier zugunsten derjenigen Indianer, die sich bereits zum Christentum bekehrt haben. An der Hand solcher genereller Sätze und Argumentationen lässt sich die spanische Conquista im Ganzen durchaus rechtfertigen.“ (11)
„Aber das wäre dann vor allem eine Tat- und Situationsfrage, die der Scholastiker offen lässt und nicht beantwortet“, bemerkt Schmitt und ergänzt: „Eine konkrete Erörterung müsste zu einer Prüfung von Fall zu Fall führen. Die Lage könnte z. B. hinsichtlich Mexiko und für Cortez (einer der berühmtesten spanischen Konquistador, dem es gelang, das Aztekenreich zu erobern, Anm. d. Autors) eine ganz andere sein als hinsichtlich Perus und für Pizarro (ein spanischer Konquistador, der das Reich der Inka eroberte, Anm. d. Autors), so dass der Krieg in Mexiko sich möglicherweise als ein gerechter, der Krieg in Peru dagegen als ein ungerechter Krieg herausstellen würde.“ (12)
Einerseits lehnt also Vitoria alle Rechtsansprüche der Europäer auf die Landnahme des Bodens nicht-christlichen Fürsten und Völker ab, anderseits, unter den bestimmten Bedienungen des gerechten Krieges, rechtfertigt er die spanische Conquista. „Wie sollen wir uns nun diese in der Tat erstaunliche Objektivität und Neutralität erklären?“, fordert Schmitt sich selbst heraus und stellt fest: „Wir müssen uns ihren existenziellen Standort klarmachen und dürfen sie nicht mit moderner Voraussetzungslosigkeit oder der Standortlosigkeit einer frei schwebenden Intelligenz verwechseln.“ Die Vorlesungen des großen Dominikaners, so Schmitt, sind kein juristischen Traktat nach Art völkerrechtlichen Schriften der folgenden Jahrhunderte. Vitoria ist Theologe, er will kein Jurist sein, und noch weniger will er im zwischenstaatlichen Streit der staatlichen Regierungen Argumente liefern. Er ist keinen Vertreter der absoluten Humanität im Still des 18. und 19. Jahrhunderts, kein Voltairianer, Rousseauist, Freidenker oder Sozialist. Am allerwenigsten darf man Vitoria mit bewusst untheologischen Juristen des modernen, zwischenstaatlichen Völkerrechts auf eine geistige Ebene gestellt werden. (13)
Für Schmitt war es also wichtig, die Vitorias Argumentation von den modernen Vorstellungen frei zu machen und dadurch Vitorias Lehre des gerechten Krieges vom Missverstand und von der Missdeutung zu schützen. Umso offensichtlicher wurden für Schmitt die juristischen und politischen Versuche, Vitorias Vorlesungen zu verwerten. So wurde die Vitorias Argumentation des liberum commercium und der Missionsfreiheit, die der Dominikanermönch für die katholischen Spanier gegenüber den heidnischen Indianer geltend gemacht hatte, weniger Jahrzehnte später von dem polemisierten Juristen als das liberale Prinzip des freien Welthandels und der freien Wirtschaft im Sinne der „offenen“ Tür des 20. Jahrhunderts für den Propagandakampf europäischer Handelskriege gegen Spanien benutzt. (14)
Nach Schmitt, fast dreihundert Jahre später wurden die Argumente des spanischen Dominikaners in einer noch erstaunlicheren Weise in ein ihm fremdes Gedankensystem eingefügt. Er schreibt: „Nach dem Ersten Weltkrieg 1914/18 setze eine „Renaissance“ Vitorias und der spanischen Spätscholastik ein. Sie ist ein besonderes interessantes Phänomen der Geschichte des Völkerrechts. Die großen spanischen Theologen waren nicht etwa gänzlich in Vergessenheit geraten. … Aber jetzt, nach 1919, wurde der Name plötzlich in der großen Öffentlichkeit weltbekannt und weltberühmt.“ Schmitt weist unter anderem auf einem bedeutenden belgischen Völkerrechtsjurist des 19.Jahrhunderts, Ernest Nys, der in seinen rechtsgeschichtlichen Untersuchungen über das Völkerrechts des Mittelalters und des 16. Jahrhunderts immer wieder auf Vitorias hingewiesen. Schmitt schreibt: „Nys hat mit seinen Arbeiten die Bahn gebrochen und jene Vitoria-Renaissance fundiert, die nach dem Ersten Weltkrieg hervortrat und heute bereits eine unübersehbare Literatur aufzuweisen hat.“ (15)
Es begann das neueste und modernste Kapitel in der Geschichte der Verwertung Vitorias, in dem der weltbekannte amerikanische Völkerrechtler James Brown Scott (1866 – 1943) eine besondere Rolle spielte. Als Gründer und Präsident des American Institut of International Lab und der Amerikanischen Gesellschaft für Völkerrecht, Sekretär des Carnegie Endowment für International Peace und Direktor der Division of International Lab hat er in den Dienst seiner Aufgabe gestellt, die Vitorias Lehre weltbekannt zu machen. Der Eifer des einflussreichen Völkerrechtlers ist nicht unbelohnt geblieben: Zu den Anhängern der Lehre des gerechten Krieges gehörte u.a. der amerikanische Präsident Wilson. (16)
Es beginnt ein neues Stadium der Verwertung Vitorias, der nach Schmitt „jetzt bis zur politischen Mythenbildung steigert“. Er schreibt: „Sogar in amtlichen und halbamtlichen Erklärungen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein `Rückkehr zu älteren und gesünderen Auffassung des Krieges´ proklamiert worden, womit vor allem die Lehre Vitorias vom freien Verkehr (liberum commercium), von der freien Propaganda und vom gerechten Krieg gemeint ist. Der Krieg soll aufhören, ein rechtlich anerkannter oder auch nur indifferenter Vorgang zu sein; es soll wieder ein gerechter Krieg werden, indem der Angreifer, der aggressor, als solcher zum Verbrecher im vollen, kriminellen Sinne des Wortes erklärt wird“. (17)
Doch für Schmitt war die von den USA proklamierte moderne Lehre des gerechten Krieges keinen Rückgang zur mittelalterlichen Lehre des gerechten Krieges, sondern eine fundamentalen Wandel der im Mittelalter vorausgesetzten Begriffe von Feind, von Krieg und von Gerechtigkeit. Im Gegensatz zur modernen Ächtung und Vernichtung des Krieges als solche hebt die mittelalterliche Lehre den Kriegsbegriff nicht auf. Für die scholastischen Theologen bleibt auch der ungerechte Krieg ein Krieg. Schmitt schreibt: „Die mittelalterliche Lehre des gerechten Krieges stand, trotz vieler internen Abweichungen, doch ebenfalls auf dem Boden und in dem Rahmen einer Republica Christiana. Sie unterschied unter diesem Gesichtspunkt verschiedene Arten von Fehden und Kriegen. Auf der anderen Seite erkannte sie sowohl das feudale Fehderecht wie das ständige Widerstandsrecht als vollgültiges Recht an. Sie musste Fehden und Kriege, die zwischen christlichen, d. h. der Autorität der Kirche unterworfenen Gegnern geführt wurden, von anderen Kriegen unterscheiden.“ (18)
Der mittelalterliche gerechte Krieg kennt sogar einen gerechten Angriffskrieg. Schmitt schreibt: „Von der Kirche autorisierte Kreuzzuge und Missionskriege waren ohne Unterschied von Angriff oder Verteidigung eo ipso gerechte Kriege; Fürsten und Völker, die sich der Autorität der Kirche hartnäckig entzogen, wie Juden und Sarazenen, waren es ipso hostes perpetui (lat. zeitlich unbegrenzte Feinde, Anm. d. Autors). Alles das setzte die völkerrechtlichen Autorität der Kirche abstrahiert werden, am wenigsten dann, wenn ein christlicher Fürst an dem Krieg beteiligt ist.“ In der stabilisierten Autorität der Kirche liegt also, nach Schmitt, der Halt eine Bestimmung des gerechten Krieges von formaler Seite her. Er schreibt: “In der Sache, materiell rechtlich, ist der gerechte Krieg ein Krieg, der ex justa causa, d. h. zur Durchführung von rechtlichen Forderungen geführt wird, ohne Rücksicht darauf, ob er taktisch oder strategisch Angriffs- oder Verteidigungskrieg ist.“ (19)
Die moderne Lehre des gerechten Krieges war im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin nie in der Lage, die komplexe Frage der justa causa zu formalisieren. Auch die formale Grundlage für die Bestimmung des gerechten Krieges im europäischen Völkerrecht, Jus Publicum Europaeum, nämlich die Gleichheit der europäischen Staaten, stand nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zur Verfügung: Er löste sich zusammen mit der Auflösung des Jus Publicum Europaeum. Man braucht, bemerkt Schmitt, nur einmal Vitorias Vorlesungen aufmerksam zu überdenken, um zu verstehen, dass der große Vorschritt des zwischenstaatlichen Europäischen Völkerrechts darin bestand, die Lehre von der justa causa durch die Lehre von der juristischen Gleichheit der beiderseitig justi hostis zu ersetzten. Es ist doch nicht so leicht, betont Schmitt, nach dem mehrhundertjährigen Rationalisierungs-Prozess zwischenstaatlichen Denkens zu einer vor-staatlichen Doktrin zurückzukehren. (20)
Dadurch scheiterte der Völkerbund mit seinen Versuchen, das Problem der justa causa zu lösen. Schmitt schreibt: „Die Maßgeblichkeit der justa causa schließt es aus, dass der rein juristische Besitzschutz, auf dem z. B. das Genfer Protokoll von 1924 beruht, allein über Recht oder Unrecht eines Krieges entscheidet. Definitionen des Angreifers, wie sie dem Genfer Protokoll von 1924 oder der Abrüstungskonferenz von 1932/34 zugrunde liegen, sollen ja gerade die Bezugnahme auf die Kriegsursachen und auf die eigentliche justa oder injusta causa verhindern, um eine uferlose und aussichtslose Diskussion außenpolitischer Schuldfrage zu vermeiden.“ (21)
Der Begriff des Feindes ist noch ein wichtiger Wendepunkt in der Lehre des gerechten Krieges. Schmitt weist immer wieder darauf hin, dass Francisco Vitoria bei aller Neutralität, Objektivität und Humanität noch dem christlichen Mittelalter und nicht der Zeit des modernen Völkerrechts angehört. Er wurde in seiner geistigen Existenz kein Jurist, sondern „blieb und bleiben wolle“ als Theologe. Er blieb es nicht nur deshalb, weil er z. B. die Juden und Sarazenen als ewige Feinde bezeichnet oder weil er in den Vorlesungen betont, dass ein zum Schaden der Christenheit unternommener Krieg ein ungerechter Krieg ist. Schmitt schreibt dazu: „Entscheidend ist, dass er von dem Problem der justa causa nicht zu einer grundsätzlichen Erörterung der Frage des justus hostis vordringt. Er scheint zwar auf diesem Weg zu sein, denn es kommt ihm darauf an, dass die Indianer, obwohl sie keine Christen sind und sich vielleicht manche Verbrechen zuschulden kommen lassen, doch nicht als Verbrecher, sondern als Kriegsgegner behandelt werden müssen, mit denen die christlichen Europäer wie mit christlich-europäischen Feinden zu verfahren haben. Vitoria gewinnt sein Ergebnis, die mögliche Rechtfertigung der spanischen Conquista, aus allgemeinen Argumentation des Kriegsrechts, ohne Diskriminierung der Barbaren oder Nicht-Christen als solcher. Dadurch nähert er sich dem nicht-diskriminierenden Kriegsbegriff des neuen, zwischenstaatlichen Völkerrechts. Aber er baut diese Position nicht juristisch, … sondern begründet die Nicht-Diskriminierung nur mit den allgemeinen Erwägungen der christlichen Moraltheologie des Mittelalters über das bellum justum (lat. gerechter Krieg, Anm. d. Autors).“ (22)
„Dagegen, schreibt Schmitt weiter, erstrebt die heutige Theorie des gerechten Krieges gerade die Diskriminierung des Gegners, der den ungerechten Krieg führt. Der Krieg selbst wird zum Verbrechen in der kriminellen Bedeutung des Wortes. Der Aggressor wird zum Verbrecher im äußersten kriminellen Sinn des Wortes erklärt; er wird outlaw gestellt wie ein Pirat. Doch soll das Unrecht der Aggression und des Aggressor nicht in einer materiell und sachlich festzustellenden Schuld am Kriege im Sinne der Kriegsursache liegen, sondern … in der Aggression als solche. Wer den ersten Schuss abgibt oder einen der anderen, entsprechenden Tatbestände verwirklicht, ist der Verbrecher dieses neuen Delikts. Das Problem der justa causa bleibt außerhalb der Begriffsbestimmung. Schon aus diesem Grunde fehlt der modernen Unterscheidung von gerechtem und ungerechtem Krieg die innere Beziehung zu der mittelalterlich-scholastischen Lehre und zu Vitoria.“ (23)
Schmitt verbindet die Verwertung der Vitoria Lehre, die in der modernen Lehre des gerechten Krieges einen Ehrenplatz eingenommen hat, mit der Sinnwandel und Kriminalisierung des Krieges. Beide begannen ihren Fahrt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, sind für Beginn des Zweiten Weltkrieges mitverantwortlich, aber auch heute, einhundert Jahre danach, stellen eine große Gefahr für die Existenz unseres Planeten dar. (Mehr in „Kriminalisierung des Krieges“ ist die größte Hürde auf dem Weg zum Weltfrieden).
Auch die Vitorias Vorlesungen zum Recht oder Unrecht der Conquista als solche ist heute von größter Bedeutung. Sie lässt sich nach dem Recht und Unrecht des Neukolonialismus fragen, wenn unter diesem Begriff die weitgehende Erschöpfung der Entwicklungswelt durch die westliche Welt zu verstehen mag. Die moralische und rechtliche Seite der Rechtfertigung des Neukolonialismus hat sich seit Conquista nicht viel geändert. Nun geht es heute nicht um Christianisierung, sondern um Demokratisierung, sondern um die Demokratisierung, die zu einem Modell für den Aufbau einer neuen Weltordnung nach westlichem Vorbild werden soll; nicht um Kolonialismus, sondern um Postkolonialismus, der davon ausgeht, dass die Überlegenheit des Westens in Rüstung, Wirtschaft und moderner Technologie seine ewige Führungsrolle garantiert; nicht um päpstlichen Missionsauftrag, sondern um missionarischem Anspruch Amerikas, zur einzigen Weltmacht zu werden; nicht um gerechtem Krieg der mittelalterlichen Europa gegen Barbaren und Nicht-Christen, sondern um modernen „gerechten“ Krieg des Westens gegen neuen Feinden und Verbrechern der west-liberalen Demokratie, gestützt auf Strafaktionen und Polizeimaßnahmen.
Dabei sollte man, seitens Westens, die notwendige Argumentation gefunden werden, um die kriegerischen und humanitären Interventionen zu rechtfertigen. Solche Argumentation liefert gern wiederum das christliche Reich, das sich als Katechon gedacht wurde. Nach Schmitt hatte die Einheit der Republica Christiana ihre sichtbaren Träger in Kaiser und Papst. Er schreibt: „Die Geschichte des Mittelalters ist infolgedessen die Geschichte eines Kampfes um Rom, nicht die eines Kampfes gegen Rom. Die Heeresverfassung des Römerzuges ist die Verfassung des deutschen Königtums. In der konkreten Ortung auf Rom, nicht in Normen und allgemeinen Ideen, liegt die Kontinuität, die das mittelalterliche Völkerrecht mit dem Römischen Reich verbindet. Diesem christlichen Reich ist es wesentlich, dass es kein ewiges Reich ist, sondern sein eigenes Ende und das Ende der gegenwärtigen Äon (griechisch „Ewigkeit“, Anm. d. Autors) im Auge behält und trotzdem einer geschichtlichen Macht fähig ist. Der entscheidende geschichtsmächtige Begriff seiner Kontinuität ist der des Aufhalters, des Katechon. „Reich“ bedeutet hier die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichristen und das Ende des gegenwärtigen Äon aufzuhalten vermag.“ (24)
Schmitt glaubt nicht, „dass für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Katechon überhaupt möglich ist“. Er schreibt: „Das Glaube, dass ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt.“ Die Autorität von Kirchenvätern und damaligen Schriftsteller als auch die christliche Weissagungen vereinigten sich in der Überzeugung, „dass nur das Imperium Romanum und seine christliche Fortsetzung den Bestand des Äön erklären und ihn gegen die überwältigende Macht des Böses erhalten“. (25)
Ähnlich behauptet sich heute ein sogenannter kollektiver Westen, wenn man die Parallele zu ziehen gelassen wäre. Päpstlicher Rom wird zu Washington, Kaiser zur amerikanischen Regierung und Papsttum zur amerikanischen Demokratie. In der konkreten Ortung auf Washington, nicht in Normen und allgemeinen Ideen, liegt die Kontinuität, die die amerikanische Macht mit modernem Völkerrecht verbinden sollte. Der entscheidende geschichtsmächtige Begriff dieser Kontinuität ist die USA als Katechon. „Supermacht Amerikas“ bedeutet hier die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichristen und das Ende des gegenwärtigen Äons aufzuhalten vermag. Der Glaube, dass ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, liegt in der Überzeugung, dass nur das Imperium Americana und seine demokratische Fortsetzung den Bestand des Äons erklären und ihn gegen die überwältigende Macht des Bösen erhalten. Die Achse des Bösen bekommt dabei ihre konkreten Namen: Russland, China und andere autoritären Regime. Doch hier, ähnlich wie im christlichen Mittelalter, gibt das Kennzeichen einer geschichtlichen Periode: Das Reich „dauert so lange, wie der Gedanke des Katechons lebendig ist“. (26)
1. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Duncker&Humbolt GmbH, Berlin, 5. Auflage 201, S. 96.
2. Ebenda, S. 69-70.
3. Ebenda, S. 70-71.
4. Ebenda, S. 71-72.
5. Ebenda, S. 71-73.
6. Ebenda, S. 73-74.
7. Ebenda, S. 74.
8. Ebenda, S. 75-76, 81.
9. Ebenda, S. 77-78, 80.
10. Ebenda, S. 80, 82.
11. Ebenda, S. 74, 78.
12. Ebenda, S. 78-79.
13. Ebenda, S. 79, 83.
14. Ebenda, S. 83-84, 86.
15. Ebenda, S. 87-88.
16. Ebenda, S. 89, 242.
17. Ebenda, S. 89.
18. Ebenda, 90, 93.
19. Ebenda, 90-91.
20. Ebenda, 93.
21. Ebenda, 91.
22. Ebenda, 92.
23. Ebenda, 92-93.
24. Ebenda, S. 28-29.
25. Ebenda, S. 29-30.
26. Ebenda, S. 29.