Der planetarische Wendepunkt im 16. Jahrhundert war kein Zufall. Eine besondere nautische Leistung, so Schmitt, war die Vervollkommnung des Kompasses zu seiner modernen Form. Jetzt erst können die entferntesten Gelände aller Ozeane miteinander in Berührung treten, so dass der Erdkreis sich auftut. Aber die entscheidende Rolle spielte die neue Seetechnik und die neuen Segelschifftypen, die das Ruder überwanden und eine den Maßen der neuentdeckten Weltozeane entsprechende Schifffahrt und Navigation ermöglichten. Ein neuer Schifftyp, also ein Boot mit Rahsegeln, tritt in Nordholland um 1595, das nicht wie das alte Segel einfach mit rückwärtigem Winde, sondern seitwärts am Winde segelte und den Wind ganz anders auszunützen wusste als das herkömmliche Segel. Durch diese technische Leistung wurden die Holländer die „Fuhrleute“ aller europäischen Länder. Sogar die Weltmacht Spanien musste holländische Schiffe mieten, um ihren überseeischen Verkehr aufrechterhalten zu können. Wie es Schmitt unterstreicht: „Hier liegt der eigentliche Wendepunkt in der Geschichte des Verhältnisses von Land und Meer.“ (1)
Auch Benoist betont: „Es war die Entdeckung der Neuen Welt, die alles verändert hat. In der Antike und im Mittelalter konnten die Flotten nur die Küstengebiete kontrollieren. Aber gegen Ende des 15. Jahrhunderts ermöglichte die Entwicklung hochseetauglicher Segelschiffe große Ozeanexpeditionen im Atlantik, die das abendländische Bewusstsein der Europäer zu einem globalen Bewusstsein erweiterten und sie die Welt als grenzenlosen Raum wahrnehmen ließen.“ (2)
Schmitt erzählt seiner Tochter Anima nicht nur über die faszinierten technischen Entdeckungen, die das Leben der Europäer grundsätzlich geändert haben, sondern auch über nicht wenige faszinierte Entdeckungen des Weltraums, die das Selbstbewusstsein der Menschen tief veränderten. Dass die Erde eine Kugel sein sollte, so Schmitt, erscheint einem mittelalterlichen Menschen, aber auch noch Martin Luther, als eine lächerliche, nicht ernst zu nehmende Fantasterei. Nur im Zeitalter der Entdeckung Amerikas und der ersten Umseglung der Erde bekam der Mensch in seine Hand den wirklichen, ganzen Erdball wie eine Kugel.
Aber selbst das war noch nicht die eigentliche, tiefste Raumveränderung, die nunmehr eintrat. Entscheidend war die Erweiterung in den Kosmos hinein und die Vorstellung eines unendlichen leeren Raumes. Kopernikus hat als erster wissenschaftlich dargelegt, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Damit hat er zwar unser Sonnensystem verändert, aber er hielt doch noch daran fest, dass das Weltall ein begrenzter Raum ist. Wenige Jahrzehnte später fielen aber die Grenzen: In dem philosophischen System Giordano Brunos ist das Sonnensystem, in dem die Erde sich als ein Planet um die Sonne bewegt, nur noch eines von vielen Sonnensystemen des unendlichen Sternenhimmels. Infolge der wissenschaftlichen Experimente Galileis wurden solche philosophischen Spekulationen zu einer mathematisch beweisbaren Wahrheit. Kepler berechnete die Bahnen der Planeten, und mit der Lehre Newtons stand für das ganze aufgeklärte Europa die neue Raumvorstellung fest: Gestirne, Massen von Materie, bewegen sich nach Gravitationsgesetzen in einem unendlichen, leeren Raum. Früher hatten die Menschen Angst vor dem Leeren. Jetzt vergessen sie ihre Angst und finden schließlich nichts mehr dabei, dass sie und ihre Welt im Leeren existieren. (3)
Die Bedeutung des technischen Fortschrittes für die neue Raumrevolution bzw. für den neuen Nomos der Erde ist für Schmitt eine selbstverständige Sache. Er schreibt: „Die industrielle Entwicklung und die neue Technik ließen sich nicht auf dem Stande des 19. Jahrhunderts festhalten. Sie blieben nicht beim Dampfschiff und der Eisenbahn stehen. Schneller, als selbst die maschinengläubigsten Propheten es geahnt hatten, änderte sich die Welt und trat in das Zeitalter der Elektrotechnik und Elektrodynamik ein. Elektrizität, Flug- und Funkwesen bewirkten eine solche Umwälzung aller Raumvorstellungen, dass offensichtlich ein neues Stadium der ersten planetarischen Raumrevolution, wenn nicht gar eine zweite neue Raumrevolution eingesetzt hatte.“ (4)
Nach Land und Meer kommt also Luft als dritte Dimension, die der Mensch erobert hat, um eine neue Raumrevolution anzukündigen. Es gibt aber noch ein, viertes Element der menschlichen Aktivität, das Feuer, das nach der Erforschung der atomaren Energie vielleicht die entscheidende Rolle bei der Etablierung des neuen Nomos der Erde spielt. Solcher Gedanke darf nicht vorbeikommen nach den Bemühungen vieler Staaten, ihren atomaren Status quo nach dem Zerfall der bipolaren Welt noch mehr zu sichern. Die Entdeckung von neuen, nie gewesenen Waffen, wie zum Beispiel Hyperschallrakete, ändert sich nicht nur die moderne Kriegsführung, sondern selbst den Raumbegriff, also die Vorbedienungen des neuen Nomos der Erde.
1. Schmitt, Carl: Land und Meer, S. 25, 36-37.
2. Benoist, Alain de: Carl Schmitts „Land und Meer“, S. 43-35.
3. Schmitt, Carl: Land und Meer, S. 64-66.
4. Ebenda, S. 103-104.