Das zeigt Huntington auf dem Beispiel des Ostasien, welchen Aufstieg durch spektakuläre Raten des Wirtschaftswachstums angeheizt worden ist. Die wirtschaftliche Entwicklung Ostasiens, so Huntington, begann in den fünfziger Jahren in Japan, und eine Zeitlang galt Japan als die große Ausnahme eines nicht westlichen Landes, das sich erfolgreich modernisiert und wirtschaftlich entwickelt hatte. Der Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung sprang auf die vier Tiger (Hongkong, Taiwan, Südkorea, Singapur) und dann auf China, Malaysia, Thailand und Indonesien über und erfasst derzeit die Philippinen, Indien und Vietnam. Japan ist also nicht mehr die Ausnahme, sondern ganz Asien wird zur Ausnahme. (1)
Der Prozess der Modernisierung in Ostasien begann jedoch noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn der Westen sich China und Japan aufdrängte. Kleine intellektuelle Minderheiten in beiden Ländern befürworteten die totale Verwerfung ihrer traditionellen Kultur nebst gründlicher Verwestlichung. Doch dieser Kurs war weder zu rechtfertigen noch zu realisieren. Infolgedessen optierten in beiden Ländern die herrschenden Eliten für eine reformistische Strategie. Mit der Meiji-Restauration kam in Japan eine dynamische Gruppe von Reformen an die Macht, studierte und entlehnte westliche Techniken, Praktiken und Institutionen und setzte den Prozess der japanischen Modernisierung in Gang. Sie taten das jedoch auf eine Weise, die die westlichen Gehalte der traditionellen japanischen Kultur nicht antastete, was in vieler Hinsicht zur Modernisierung beitrug und was es Japan ermöglichte, seinen Imperialismus der dreißiger und vierziger Jahre unter Berufung auf die Elemente jener Kultur zu legitimieren. In China dagegen war die im Verfall begriffene Ching-Dynastie nicht imstande, sich dem Ansturm des Westens erfolgreich anzupassen. China wurde von Japan und den europäischen Mächten besiegt, ausgebeutet und gedemütigt. (2)
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten Japaner eine totale kulturelle Verwirrung. Der Verlust des Krieges war ein absoluter Schock für das System. Manche betrachteten alles, was mit dem Westen und insbesondere den siegreichen USA zusammenhing, als gut und wünschenswert. Japan unternahm also den Versuch, die USA nachzuahmen, so wie China die Sowjetunion nachahmte. In den Achtzigerjahren entfremdeten aber die Japaner ihre westlichen Vorbilder und überzeugten sie davon, dass die Quelle ihres Erfolges in ihrer eigenen Kultur liegen müsste. Auf dem Höhepunkt des japanischen Wirtschaftserfolges Ende der Achtzigerjahre wurden japanische Tugenden im Vergleich zu amerikanischen Untugenden gefeiert. Die Politik der Japaner zur Zeit ihrer kulturellen Renaissance Ende des 20. Jahrhunderts hieß: „Distanzierung von Amerika, Hinwendung zu Asien“. (3)
In China feierte am Ende des 20. Jahrhunderts in Konfuzianismus die Quelle des chinesischen Fortschritts. Der Konfuzianismus wurde auch das Steckenpferd Lee Kuan Yews, der in ihm eine Quelle für Erfolg Singapurs sah. Anfang der neunziger Jahre fand der asiatische Triumphalismus neuerlich Ausdruck in dem, was man nur die „Singapurer Kulturoffensive“ nennen kann. Von Lee Kuan Yew abwärts verkündeten führende Persönlichkeiten Singapurs den Aufstieg Asiens in Beziehung zum Westen und rühmten die Vorzüge der asiatischen, grundsätzlich konfuzianischen Kultur, denen dieser Erfolg zu verdanken war – Ordnung, Disziplin, Familienzusammenhalt, harte Arbeit, Kollektivismus, Enthaltsamkeit -, gegenüber Hemmungslosigkeit, Faulheit, Individualismus, Kriminalität, minderwertigen Bildung, Missachtung der Autorität und „geistiger Verknöcherung“, die für den Niedergang des Westens verantwortlich waren. Um mit dem Osten konkurrieren zu können, so heißt es, müssten die USA „die Grundvoraussetzungen ihrer sozialen und politischen Arrangements überdenken und bei dieser Gelegenheit das eine oder andere von asiatischen Gesellschaften lernen“. (4)
Asiaten sind also überzeugt, dass ihr wirtschaftlicher Erfolg in großen und ganzen ein Produkt asiatischer Kultur ist, die der des kulturell und sozial dekadenten Westens überlegen ist. Seinerseits erzeugt eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein bei jenen, die diese Entwicklung herbeiführen und von ihr profitieren. Wohlstand gilt, wie Macht, als Beweis von Tugend, als Demonstration moralischer und kultureller Überlegenheit. Je mehr sie wirtschaftlich erfolgreich waren, desto weniger haben Ostasiaten gezögert, die Besonderheit ihrer Kultur zu betonen und die Überlegenheit ihrer Werte und ihrer Lebensweise gegenüber denen des Westens und anderer Gesellschaften herauszustreichen. Eine kulturelle Renaissance, verstärkt durch den wirtschaftlichen Erfolg Asiens, äußert sich in der zunehmenden Betonung sowohl der besonderen kulturellen Identität einzelner asiatischer Länder als auch der Gemeinsamkeit, die asiatische Kulturen von der westlichen Kultur unterscheiden. (5)
1. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Wilhelm Goldmann Verlag, 2002, S. 156-157.
2. Ebenda, S. 159-160.
3. Ebenda, S. 159-163.
4. Ebenda, S. 159-165.
5. Ebenda, S. 157-158, 164.