Hans-Dietrich Genscher schreibt in seinem Vorwort zum Brzezinskis Buch: „Nicht das Streben nach globaler Monopolstellung, sondern die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und Staatengruppen im Interesse globaler Stabilität entspricht nach Zbigniew Brzezinski dem Selbstverständnis Amerikas als einer demokratischen Macht.“ Die einhergehende Stabilität, so Vision, gewänne schließlich, vielleicht Anfang des nächsten Jahrhunderts, eingebettet in ein transeurasisches Sicherheitssystem (TESS), an Festigkeit. Ein solches Sicherheitsabkommen sollte – neben einer erweiterten NATO, die mit Russland durch eine Kooperations-Charta verbunden wird, – auch China und Japan umfassen.
Aber dazu muss die NATO zuerst erweitert und gleichzeitig Russland in eine größere Struktur regionaler Sicherheitszusammenarbeit eingebunden werden. Amerika, Europa, China, Japan, eine russische Konföderation, Indien und vielleicht noch einige Länder könnten gemeinsam den Kern eines solchen stärker gegliederten transkontinentalen Systems bilden. Brzezinski schreibt: „Käme das TESS eines Tages zustande, wäre Amerika nach und nach einiger seiner Lasten ledig, auch wenn es weiterhin als stabilisierende Kraft und als Schiedsrichter in eurasischen Belangen eine maßgebliche Rolle spielen würde. … Daher ist Amerika nicht nur die erste und die einzige echte Supermacht, sondern wahrscheinlich auch die letzte“. (1)
Am wichtigsten ist für Brzezinski die Methode, mit der Amerika auf dem eurasischen Schachbrett spielen sollte. Zunächst einmal muss die territoriale Größe Eurasiens berücksichtigt werden. Brzezinski schreibt: „Dieser Megakontinent ist einfach zu groß, zu bevölkerungsreich, kulturell zu vielfältig und besteht aus zu vielen von jeher ehrgeizigen und politisch aktiven Staaten, um einer globalen Macht, und sei es wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch gewichtigsten, zu willfahren. Eine solche Sachlage verlangt geostrategisches Geschick, den vorsichtigen, sorgfältig ausgewählten und sehr besonnenen Einsatz amerikanischer Ressourcen auf dem riesigen eurasischen Schachbrett.“ (2)
Andererseits muss man bedenken, dass Amerika ein demokratisches Land ist. Brzezinski schreibt: „Da Amerika im eigenen Land strikt auf Demokratie hält, kann es sich im Ausland nicht autokratisch gebärden. Dies setzt der Anwendung von Gewalt von vornherein Grenzen, besonders seiner Fähigkeit zu militärischer Einschüchterung.“ Brzezinski stellt fest: „Die Staatsform Demokratie ist einer imperialen Mobilmachung abträglich.“ Der dritte Punkt betrifft die Atomwaffen. Brzezinski schreibt: „Angesichts der Atomwaffen hat der Krieg als Mittel der Politik oder auch nur als Drohung dramatisch an Sinn eingebüßt. Die wachsende wirtschaftliche Verflechtung der einzelnen Staaten untereinander nimmt wirtschaftlichen Sanktionen ihre politische Wirksamkeit. Somit sind politisches Taktieren, Diplomatie, Koalitionsbildung, Mitbestimmung und der wohlerwogene Einsatz eigener politischer Aktivposten zu wesentlichen Kriterien einer erfolgreichen Geostrategie auf dem eurasischen Schachbrett geworden.“ (3)
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So gut wie erwünscht. Aber es dauerte nur ein paar Jahre, bis Brzezinskis gute Absichten vollständig begraben waren. Der Wendepunkt war der Krieg in Jugoslawien im Jahr 1999. Seitdem liegt der Schwerpunkt der amerikanischen Politik nicht mehr auf dem vorsichtigen, sorgfältig ausgewählten und sehr besonnenen Einsatz amerikanischer Ressourcen, sondern auf dem gezielten Einsatz von Sanktionen und militärischen Macht als politisches Instrument.
Es gibt genug Überlegungen und Expertisen zu Frage, warum die schöne Brzezinskis Vision so schnell gescheitert ist. Natürlich können wir uns an das alte Sprichwort erinnern: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“. Wir können uns daran erinnern, dass ein freundlicher, aber strenger Vater nur so lange freundlich bleibt, wie man ihm gehorcht. Nicht nur Russland, sondern auch andere Länder waren schnell genug, um zu erkennen, was die guten Absichten der neuen Weltsupermacht bedeuten könnten. Und die einfachste Formel für den Aufstieg und Untergang eines Imperiums zeigt, dass die Anziehungskraft des american way of life und die amerikanische Idee des Weltfriedens nicht lange unveränderlich waren. Diese Anziehungskraft selbst, die beim Zusammenbruch des sozialistischen Blocks eine entscheidende Rolle gespielt hat, funktioniert nicht mehr; sie muss zunehmend erzwungen werden.
Es ist ein guter Zeitpunkt, um an die schwierige Beziehung zwischen der Logik der westlichen Werte und der Logik der westlichen Macht zu erinnern, die beispielsweise von dem berühmten Experten für die westliche Demokratie, dem deutschen Historiker Heinrich August Winkler, diskutiert werden. Die Geschichte des modernen Westens ist für Winkler „eine Geschichte der Widersprüche und der Ungleichzeitigkeiten“. Er erklärt: „Zu keiner Zeit gibt es einen völligen Gleichklang von Projekt und Praxis. Die Geschichte des modernen Westens ist vielmehr von Anfang an immer auch eine Geschichte brutaler Verstöße gegen die Ende des 18. Jahrhunderts proklamierten Prinzipien, eine Abfolge von Konflikten zwischen Normen und Interessen, ein Ausdruck des unaufhebbaren Spannungsverhältnisses zwischen der Logik der Werte und der Logik der Macht.“ (4)
So bringt Winkler im Diskurs zur Entwicklung des Westens die Logik der Werte und die Logik der Macht, die sich zu keiner Zeit im völligen Gleichklang befand. Auf Seite der Logik der Werte stehen unveräußerliche Menschenrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität und viele andere Leistungen der Demokratie. Die Logik der Macht erinnert uns dagegen an die europäischen Kolonialherrschaft unterworfenen Völkern, Zwangsimport der afrikanischen Sklaven nach Amerika, Bürger- und Weltkriege, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und viele andere, meist schreckliche Seiten der Weltgeschichte.
Aber für Winkler ist die Geschichte des modernen Westens auch „eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen“, die aus dem normativen Projekt des Westens einen normativen Prozess gemacht hat. Hier liegt ein großer Winklers Optimismus und sein Vertrauen auf der inneren Kraft der Logik der westlichen Werte, die die Willkür der Logik der Macht immer heilen und korrigieren kann. Nach Winkler ist der 20. Jahrhundert ein Beispiel dafür: Das normative Projekt des Westens wurde von zwei radikalen Seiten – einer linken und einer rechten – in Frage gestellt, aber die beiden Angriffe überstanden und seine Fähigkeit, von Geschichte zu lernen, beweist.
Auch 21. Jahrhundert, so Winkler, muss für Westen eine Geschichte von Lernprozess werden. Das heißt, der Westen als Sieger im Kalten Krieg lernen soll, die Praxis seiner Macht im Gleichklang mit den Grundprinzipien seines normativen Projektes zu bringen, also seine demokratischen Werte für die neue gebaute Welt gelten lassen. Sonst verliert sein Projekt den Status des progressiven Prozesses. Das ist ganz neue, nie gewesene Aufgabe für Westen: Er sollte auf die Ruinen den großen Kämpfen des 20. Jahrhundert eine noch mehr freie, friedliche und menschenwürdige Weltordnung aufbauen. In den 1990er Jahren, direkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, war die Euphorie wirklich groß. Es schien so, dass alle ideologische, politische und ökonomische Kämpfe in der Welt vorbei sind: Liberalismus hat seinen beiden Rivalen – Faschismus und Bolschewismus – überwinden; das neoliberalen Modell der freien Marktwirtschaft hat seine Effektivität gegenüber der sozialistischen Planwirtschaft bestätigt; die west-liberale Demokratie wurde zum besten und alternativlosen politischen System gekrönt.
Ob dem Westen gelingt, im 21. Jahrhundert aus seinem normativen Projekt ein normativen Prozess zu machen, ist eigentlich die Kernfrage der Gegenwart. Der Konflikt zwischen der Logik der Werte und der Logik der Macht flammt wieder auf, ist aber von dem geopolitischen Streit zwischen zwei Visionen der Zukunft – unter der Vorherrschaft der einzigen Supermacht Amerikas und unter der Machtbalance der schnell wachsenden neuen Weltmächten – überschattet. Dies ist das Dilemma der Zukunft: ob die Welt unipolar oder multipolar sein wird. Brzezinskis Hauptgegner in diesem Dilemma war sein Kollege Samuel Huntington, der in seinem Buch The Clash of Civilisations (1996) einen globalen Kampf der Kulturen vorhersagte und damit Brzezinskis Vision zu einer bloßen Illusion machte.
Aber es gibt noch einen weiteren, nun internen Konflikt in Brzezinskis Zukunftsvision, der zu Carl Schmitts Überlegungen über das System des hegemonialen Gleichgewichts führt. Bei der Realisierung der Idee einer stabilen, friedlichen und demokratischen Weltordnung unter der Vorherrschaft Amerikas stützt sich Brzezinski grundsätzlich auf dem Aufbau von internationalen Instituten und Partnerschafstrukturen unter der Schirmherrschaft von Vereinigten Staaten. Das ist eine längerfristige Zielsetzung, „die dem weltweiten Engagement Amerikas zugrunde liegt: nämlich, ein dauerhaftes Rahmenwerk globaler geopolitischer Zusammenarbeit zu schmieden“. Die Schaffung eines transerasischen Sicherheitssystems (TESS) gehört auch dazu. Brzezinski fügt hinzu: „Dieses von multinationalen Kooperationen, Organisationen (regierungsunabhängig und oft transnationalen Charakters) geknüpfte Netz schafft bereits ein informelles Weltsystem, das an sich schon einer institutionalisierteren und engeren globalen Zusammenarbeit entgegenkommt.“ (5)
Ein gut funktionierendes globales Rahmenwerk unter amerikanischer Dominanz kann jedoch nur auf der Grundlage eines hegemonialen Gleichgewichts-Systems aufgebaut werden. Nur im Rahmen dieses Systems ist es noch möglich, für eine einzige Supermacht Amerikas in den neuen, von ihm geförderten internationalen Instituten seine imperiale Vorherrschaft durchzusetzen. Ein Gleichgewichts-System nach dem Vorbild des Jus Publicum Europaeum oder eine bipolare Weltordnung berauben Amerika dieser Möglichkeit. Ganz zu schweigen von einer multipolaren Welt. Es geht also um das Schicksal des Konzepts, um die Aufrechterhaltung des Status quo Amerikas als Supermacht. In einer solchen Situation zu erwarten, dass Amerika sich wie ein Gentleman verhalten wird, wäre einfach naiv. Und genau das hat Amerika in letzter Zeit beweisen.
Jetzt ist auch mehr klar, warum die USA die UNO reformieren will: Die Vetomacht bewahrt immer noch die Reste der bipolaren Weltordnung und verhindert, dass Amerika endgültig zu einem System des hegemonialen Gleichgewichts übergeht und „zum geopolitischen Zentrum der gemeinsamen Verantwortung für eine friedliche Weltherrschaft“ entwickeln wird. Brzezinski schreibt: „Eine von Amerika sowohl angeregte als auch vermittelte längere Phase allmählich sich ausdehnender Kooperation mit wichtigen eurasischen Partnern kann außerdem helfen, die Voraussetzungen für eine Aufwertung der bestehenden und zunehmend veralteten UN-Strukturen zu verbessern. Eine neue Verteilung von Verantwortung und Privilegien kann dann den veränderten Realitäten von Weltmacht Rechnung tragen, die sich von jenen des Jahres 1945 so drastisch unterscheiden.“ (6)
Ein hegemoniales Gleichgewichts-System ist jedoch auch ein System, das theoretisch Stabilität und Frieden in der Welt bringen kann. Es hängt aber davon aus, wie ernst und glaubhaft die Bemühungen Amerikas sind, insbesondere angesichts des Kampfes der westlichen Werte gegenüber der Willkür der westlichen Macht. Die Weltöffentlichkeit muss von den guten Absichten der USA überzeugt werden. Leider haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in dieser Hinsicht bisher schlecht abgeschnitten. Auf jeden Fall haben sie Russland bereits verloren: Nach dem Schock der neunziger Jahre wird es nicht möglich sein, das Vertrauen der Russen in die guten Wünsche des Westens wiederherzustellen.
1. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Kopp Verlag, 6. Auflage März 2019, S. 10, 16, 254-255.
2. Ebenda, S. 52.
3. Ebenda, S. 52, 53.
4. https://www.cicero.de/kultur/heinrich-august-winkler-westen-usa-europa-fluechtlingspolitik
5. Brzezinski, Zbigniew: Die einzige Weltmacht, S. 260, 262.
6. Ebenda, S. 261.