Viele, und nicht nur im Westen, leben nach dem Glauben an eine einheitliche demokratische Weltordnung ohne Krieg und Konflikte. Das ist eigentlich die Grundidee des Brzezinskis Konzeptes der Zukunft, das eine Vorherrschaft Amerikas als einzige Supermacht voraussieht. Dieses Konzept steht im Widerspruch mit der Zukunftsvision eines anderen berühmten amerikanischen Politikwissenschaftlers, Huntington, der den Kampf der Zivilisationen oder, anders ausgedrückt, den Konflikt zwischen großen Kulturräumen voraussagte, der alle westlichen Versuche, einen einheitlichen Weltstaat zu schaffen, zu begraben droht.
Es entsteht noch einmal die Frage, die Schmitt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem Werk Der neue Nomos der Erde gestellt hat, nämlich: „Die planetarische Entwicklung hatte schon längst zu einem klaren Dilemma zwischen Universalismus und Pluralismus, zwischen Monopol und Polypol geführt, nämlich zu der Frage, ob der Planet reif ist für das globale Monopol einer einzigen Macht, oder ob ein Pluralismus in sich geordneter, koexistierender Großräume, Interventionssphären und Kulturkreise das neue Völkerrecht der Erde bestimmt.“ Alain de Benoist greift insbesondere diese Frage von Schmitt auf und stellt seine eigene: „Bewegen wir uns auf eine politische Vereinheitlichung der Welt zu? Ist eine solche Vereinheitlichung überhaupt möglich?“ (1)
Die Frage, was dann der Vision einer universellen Weltherrschaft ersetzen könnte, berührte Schmitt seit Langem, auch in der Nazi-Zeit. Ohne Zweifel, so Benoist, sah Schmitt in den Jahren 1941-1942 in Deutschland eine Großmacht, die imstande wäre, die Interessen des Landes gegen die angelsächsische Seemacht zu verteidigen. Benoist ergänzt: „Der Krieg, der zwischen Deutschland und der Sowjetunion ausgebrochen war, hatte dieses Schema aufgebrochen. Schmitt, der dem Molotow-Ribbentrop-Pakt vom September 1939 zugestimmt hatte, weil er Deutschland in der kontinentalen Logik verankerte und jeglichen Eingriff raumfremder Mächte in den beiden Ländern untersagte, schien die Invasion der Sowjetunion durch deutsche Truppen im Juni 1941 zu missbilligen. Hitler bewunderte die Engländer, verachtete jedoch die Russen. Schmitt sah darin den Beweis, dass ihn seine rassischen Obsessionen für geopolitische Frage blind gemacht hatten. Er schreibt Nicolaus Sombart (Soldat der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, der mit dem Schmitt korrespondierte, Anm. des Autors): „Die eigentlichen Konkurrenten sind jetzt Russland und die Vereinigten Staaten. Europa ist ausgeschaltet. Das hat Tocqueville schon vor 100 Jahren gesehen. Aber auch mit der Idee der universalen Weltherrschaft ist es zu Ende. Was sich da anbahnt, ist ein neuer Nomos der Erde, eine neue Raumordnung. Man muss planetarisch denken, in den Dimensionen einer planetarischen Raumrevolution. Was entsteht, ist eine Ordnung der Großräume.“ (2)
Ein „Großraum“, so Benoist weiter, sollte auf die Stelle der Territorialstaat kommen, der zur gleichen Zeit in die Krise geraten war. Schmitt fasste den „Großraum“ als mögliches Fundament eines neuen Nomos der Erde ins Auge. Dieses Konzept, betont Benoist, hatte natürlich nichts mit der „Lebensraum“-Ideologie des Dritten Reichs zu tun, was die nationalsozialistischen Theoretiker wohl bemerkten. Schmitt betrachtete den Zweiten Weltkrieg als „ersten Organisationskrieg des planetarischen Raumes“, also ein Schritt zur neuen Raumrevolution, wo Großraum „etwas anderes als ein vergrößerter Kleinraum“ ist. Schmitt verglich ihn mit Katechon, einem mythischen Helden, der die Ankunft des Antichristen bzw. der Endzeit verzögern oder anhalten soll. Benoist schreibt, gestützt auf Schmitts Überlegungen: „Räume sind nicht statische, sondern dynamische Felder. Die Alternative ist von nun an diese: entweder eine pluralistische und multipolare Welt, die sich aus autonomen und autarken Großräumen zusammensetzt oder eine unipolare Welt, die von einer einzigen Supermacht dominiert wird. Der Großraum scheint daher in Bezug auf die Globalisierung die Rolle eines Katechon zu spielen.“ (3)
Nach Schmitt können in der Geschichte sämtliche Mächte und Institutionen sich mit dem Katechon vergleichen. In Land und Meer legt er dafür zwei historische Beispiele. Das erste Beispiel heißt Byzanz. Nachdem Vandalen, Sarazenen, Wikinger und Normannen dem absinkenden Römischen Reich die Seeherrschaft aus der Hand geschlagen hatten, so Schmitt, eroberten die Araber, nach mehreren Rückschlägen, Karthago (698) und gründeten die Neuhauptstadt Tunis. Er schreibt: „Damit begann ihre jahrhundertelange Beherrschung des westlichen Mittelmeers. Das oströmische, von Konstantinopel aus regierte byzantinische Reich war ein Küstenreich. Es verfügte noch über eine starke Flotte und besaß ein geheimnisvolles Kampfmittel, das sogenannte griechische Feuer. Doch war es ganz in die Verteidigung gedrängt. Immerhin vermochte es als Seemacht etwas zu vollbringen, was das Reich Karls des Großen – eine reine Landmacht – nicht vermochte; es war ein wahrer „Aufhalter“, ein „Katechon“, wie man das auf Griechisch nennt; es hat trotz seiner Schwäche viele Jahrhunderte lang gegen den Islam „gehalten“ und dadurch verhindert, dass Araber ganz Italien eroberten. Sonst wäre, wie das damals mit Nordafrika geschehen ist, unter Ausrottung der antik-christlichen Kultur, Italien der islamischen Welt einverleibt worden. Emporgetragen durch die Kreuzzüge, ist dann im christlich-europäischen Bereich eine neue Seemacht entstanden: Venedig.“ (4)
Zweiten Beispiel heißt Kaiser Rudolf II (1552-1612). Er war seinerzeit „kein aktiver Held, sondern ein Aufhalter, ein Verzögerer“. Schmitt erklärt, warum: „Was könnte Rudolf in der damaligen Lage Deutschlands auch tun? Es war schon sehr viel, wenn er erkannte, dass die außerordentlichen Fronten Deutschland nichts angingen, und es war schon eine Leistung, wenn er wirklich den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges um Jahrzehnte aufgehalten und verzögert hat.“ (5)
Es ist logisch, dass Schmitt das Ende der Idee einer universellen Weltherrschaft und das Entstehen der neuen Raumordnung, die auf Großräumen basieren sein sollte, mit Russland in Verbindung bringt – als einzig gebliebenen, nach Ausschaltung Europas, Konkurrent der Vereinigten Staaten. Im Kampf zwischen Land und Meer ist Russland die wichtigste Figur: Der russische Bär ist groß genug, um gegen den mächtigen Leviathan zu kämpfen. Die Konfrontation zwischen eurasischen Landmacht Russlands und angelsächsischen Seemacht ist zum Gesetz der Geopolitik geworden. Dieses Gesetz hat noch am Anfang des 20. Jahrhunderts prominentesten geopolitischen Theoretiker Harold Mackinder formuliert: „Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel. Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“ Die Weltinsel ist Eurasien, während unter dem Herzland ist die eurasische Zentralregion gemeint, die ganz Sibirien und einen Großteil Zentralasiens und Osteuropa umfasst, also Russland.
Allein die Existenz eines unkontrollierbaren Riesen wie Russland bereitet den Europäern seit langem Sorgen. Ihren größten Wunsch wäre, diesen unbotmäßigen Nachbarn zu disziplinieren und in seiner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einflusszone einzugliedern. Dann wäre alles in Ordnung. Das war das Ziel des „Großen Spiels“ Briten gegen russisches Imperium, dann das Anliegen des Westens im Kampf gegen kommunistische UdSSR und nun, nach dem Zerfall der Sowjetunion, die Aufgabe Amerikas als Sieger im Kalten Krieg und selbsternannter Verantwortlicher für den Aufbau einer neuen Weltordnung.
Zweimal – nach der Februarrevolution 1917 und in den 1990er Jahren – wurde dieses Ziel fast erreicht. Aber jedes Mal scheiterte alle diese Bemühungen an Russlands Hartnäckigkeit: Zuerst Bolschewiki (ab 7. Oktober 1917), dann Stalins Regierung (nach erstem Test der Atombombe im Jahr 1949) und jetzt russischer Präsident Wladimir Putin (seit 1. Januar 2000) haben die westlichen Pläne zu Fall gebracht. Russland bleibt ein selbständiges, unkontrolliertes und ungehorsames Land. Es zeigt sich als ein ideeller „autarken Großraum“, der nach Bedarf alle Isolationen, Blockaden und Sanktionen überleben kann. Leviathan schafft es nie, den russischen Bären zu besiegen. Deshalb ist Amerika bis heute die einzige, aber nicht die absolute Weltmacht: Ihr fehlt die Kontrolle über dem Herz des Eurasiens, also über den riesigen Russland mit den riesigen Bodenschätzen.
Die Geschichte baut wieder einmal eine Intrige um den Katechon auf. Sie versetzt Russland in die Lage eines neuen „Aufhalters“, der auf der Grundlage des Status des größten Großraums der Welt das „Ende der Geschichte“ hinausschieben und den Übergang zu einem neuen Nomos der Erde vorbereiten soll. Dies klingt wie eine Bestätigung der weltgeschichtlichen Mission Russlands, die darin besteht, aufgrund seiner territorialen und militärischen Größe die Voraussetzungen für den Aufbau einer multipolaren Welt zu schaffen.
1. Benoist, Alain de: Carl Schmitts „Land und Meer“, S. 67-68.
2. Ebenda, S. 68-69, 60-61.
3. Ebenda, S. 61-62.
4. Schmitt, Carl: Land und Meer, S. 19.
5. Ebenda, S. 80.