In seinem Buch Land und Meer stellt Schmitt den Calvinismus wie folgt dar: „Der Calvinismus war die kämpferische neue Religion; ihn ergriff der elementare Aufbruch auf das Meer als dem ihm gemäßen Glauben. Er wurde der Glaube französischer Hugenotten, holländischer Freiheitshelden und englischer Puritaner. Er war auch die religiöse Überzeugung des Großen Kurfürsten von Brandenburg, eines der wenigen deutschen Fürsten, die einen Sinn für die Seemacht und Kolonien hatten.“ (1)
Der Calvinismus begann seine Karriere jedoch nicht unmittelbar nach der Entdeckung Amerikas: Seinem Siegeszug ging die große Aufteilung der Länder der Neuen Welt durch katholische Mächte unter der Autorität des Papstes voraus. Schmitt schreibt: „Solange Portugal und Spanien, zwei katholische Mächte, unter sich waren, konnte der Papst in Rom als Schöpfer von Rechtstiteln, als Ordner der neuen Landnahme und als Schiedsrichter zwischen den landnehmenden Mächten auftreten. Schon im Jahre 1493, also kaum ein Jahr nach der Entdeckung Amerikas, haben die Spanier ein Edikt des damaligen Papstes Alexander VI. erwirkt, in welchem der Papst, kraft seiner apostolischen Autorität, dem König von Kastilien und Leon und seinen Erben die neue entdeckten westindischen Länder als ein weltliches Lehen der Kirche schenkte. In dem Edikt wurde eine Linie bestimmt, die durch den Atlantischen Ozean lief. … So beginnt sofort die Teilung der ganzen neuen Welt im größten Stil, obwohl Columbus damals erst einige Inseln und Küstenpunkte entdeckt hatte.“ (2)
Die seit 1493 rasch begonnene Verteilung der Erde bezeichnet Schmitt als „Anfang des Kampfes um die neue Grundordnung, um den neuen Nomos der Erde.“ Die päpstlichen Autorität spielte dabei die entscheidende Rolle. Schmitt schreibt: „Über 100 Jahre lang haben sich die Spanier und Portugiesen auf die päpstlichen Verleihungen berufen, um die Ansprüche der nachrückenden Franzosen, Holländer und Engländer abzuweichen.“ Dies hätte noch lange so weitergehen können, wäre da nicht die Reformation gewesen, die die Autorität der katholischen Kirche in Frage stellte. Schmitt schreibt: „Durch die Reformation haben sich dann die Völker, die protestantisch wurden, offen jeder Autorität des römischen Papstes entzogen. So wurde der Kampf um die Landname der neuen Erde ein Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation, zwischen dem Weltkatholizismus der Spanier und dem Weltprotestantismus der Hugenotten, Niederländer und Engländer. (3)
Es wäre jedoch zu einfach, den Kampf um eine neue Grundordnung auf einen „Weltkampf zwischen Katholizismus und Protestantismus“ zu reduzieren. Schmitt schreibt: „In dieser Bezeichnung und mit diesen Fronten erscheint er als ein Religionskrieg, und das war er auch. Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Sein wahres und volles Licht erhält er erst, wenn wir auch hier auf den Gegensatz der Elemente und auf die damals beginnende Trennung der Welt des freien Meers und des festen Landes achten.“ (4)
Eine Verlagerung der weltgeschichtlichen Existenz vom festen Lande auf das Meer verbindet Schmitt mit dem Aufbrechen den maritimen Energien Europas, die eine „weltgeschichtliche Brüderschaft“ von Calvinisten zur weltpolitischen Phänomen machte. Er schreibt: „Als die elementaren Energien der See im 16. Jahrhundert aufbrachen, war ihr Erfolg so groß, dass sie schnell in den Bereich der politischen Weltgeschichte eintraten. In diesem Augenblick mussten sie auch in die geistige Sprache ihrer Zeit eintreten. Sie konnten nicht einfach Waljäger, Segler und Seeschäumer bleiben. Sie mussten sich ihren geistigen Verbündeten, den kühnsten und radikalsten Verbündeten, suchen, denjenigen, der mit den Bildern der früheren Zeit am echtesten ein Ende machte.“ (5)
„Das konnte nicht der damalige deutsche Luthertum sein“, behauptet Schmitt. „Dieses ging eher mit einer Tendenz zum Territorialismus und zu einer allgemeinen Verlandung zusammen.“ Das erklärt sich auch nicht daraus, „dass die Lutheraner sich im allgemeinen praktisch mehr an den Grundsatz der Unterwerfung unter die Obrigkeit halten als die weit aktivieren Calvinisten“. Er schreibt: „Der eigentliche Grund liegt darin, dass Deutschland damals von der europäischen Landnahme der Neuen Welt abgedrängt worden war und von außen her in die Weltauseinandersetzung der landnehmenden europäischen westlichen Mächte hineingezerrt wurde.“ (6)
Wie es Schmitt ausdrücklich unterstreicht: „ Deutschland war zwar die Heimat Luther und das Ursprungsland der Reformation. Aber der Kampf der weltnehmenden Mächte hatte den Ausgangsgegensatz von Katholizismus und Protestantismus längst überholt – weit über die innerdeutschen Fragen hinweg, den viel tieferen und präzisierten Gegensatz von Jesuitismus und Calvinismus erreicht. Das war jetzt die weltpolitisch maßgebende Freund-Feind-Unterscheidung.“ Natürlich suchten nicht-jesuitische katholische und nicht-calvinistische lutherische deutsche Fürsten und Stände „dem innerlich fremden Streit zu entgehen“. Schmitt schreibt: „Aber dazu hätte eine gewaltige eigene Kraft und Bestimmtheit gehört. Mangels einer solchen gerieten sie in einer Lage, die man treffend als „neutropassiv“ gekennzeichnet hat. Die Folge war, dass Deutschland zum Schlachtfeld eines ihm innerlich fremden, überseeischen Landnahmekrieges wurde, ohne selbst an der Landnahme beteiligt zu sein.“ (7)
Es ist kein Zufall, dass sich der Calvinismus in Deutschland nie durchgesetzt hat. Schmitt schreibt: „Der Hass der Lutheraner gegen die Calvinisten war nicht geringer als ihr Hass gegen die Papisten, auch nicht geringer als der Hass der Katholischen gegen die Calvinisten. … Alle Nicht-Calvinisten erschraken vor dem calvinistischen Glauben, vor allem vor dem harten Glauben an die Auserwähltheit des Menschen von Ewigkeit her, an die „Prädestination“. Weltlich gesprochen ist der Prädestinationsglaube aber nur die äußerste Steigerung des Bewusstseins, ein anderen als einer zum Untergang verdammten, korrupten Welt anzugehören. Er ist, in der Sprechweise der modernen Soziologie, der höchster Grad des Selbstbewusstseins einer Elite, die ihres Ranges und ihrer geschichtlichen Stunde sicher ist. Einfacher, menschlicher gesprochen ist es die Gewissheit, gerettet zu sein, und Rettung ist nun einmal der gegen jeden Begriff entscheidende Sinn aller Weltgeschichte.“ (8)
Ein geschichtlicher Streit zwischen Luther und Calvin bleibt bis heute aktuell, wie es in ihrem Buch „Deutschland, Lutherland“ (2015) Christine Eichel hervorragend gezeigt hat. Eine christlich-protestantische, lutherische Haltung setzt doch einen anderen Schwerpunkt als die calvinistisch-puritanische. Offen bleibt auch das rein deutsche Problem, das auf der maßgebenden Unterscheidung zwischen Freund und Feind in der Weltpolitik beruht und das Schmitt auf das Schicksal Deutschlands als Landmacht im Verhältnis zu den transatlantischen Seemächten bezieht: zum Schlachtfeld eines ihm innerlich fremden, von außen her gesteuerten Weltauseinandersetzungen hineingezerrt zu werden.
1. Schmitt, Carl: Land und Meer, S. 82-83.
2. Ebenda, S. 77.
3. Ebenda, S. 77-78.
4. Ebenda, S. 79.
5.Ebenda, S. 84.
6. Ebenda, S. 82.