Mythen des Westens

Warum die Deutschen den Medien nicht mehr trauen

Eine Besonderheit des Buches „Mainstream. Warum die Deutschen ihren Medien nicht mehr trauen“ (2016) ist vielleicht die Tatsache, dass sein Autor, der Medienwissenschaftler Uwe Krüger, die Formierung des medialen Mainstreams in Deutschland mit der Krise in der Ost-Ukraine verbunden hat.

Laut Krüge, „Medien-Mainstream“ ist ein neues Phänomen der Bewusstseinsmanipulation, das seit 2014 mit massivem Ärger über eine als unausgewogen empfundene Ukraine-Berichterstattung und ein zu negatives Russland-Bild begann und zusammen mit „Gleichschaltung“, „Systemmedien“ und „Lügenpresse“ zum Schlagwort den westlichen Massenmedien geworden ist. In seinem Buch bemüht Krüge sich, dieses Phänomen skrupulös zu untersuchen. Zwei Fragen sind für ihn besonders wichtig. Erste: Wie es in einer freiheitlichen und pluralistischen Demokratie ein medialer Gleichklang zustande kommen kann? Und zweite: Welche realen Mechanismen es gibt, die zu einer hohen Konformität der Medien führen und Journalisten zuweilen wie einen Fischschwarm in dieselbe Richtung schwimmen lassen?

Ich lasse mich einige Funde dieser Recherche kurz formulieren (fett markiert): Mainstream ist ein gleichgeschaltetes Systemmedium / Mainstream ist einseitig und präsentiert nur ein sehr enges Meinungsbild / Mainstream stellt Journalismus unter dem Druck der Politik, Wirtschaft und Machtelite / Mainstream bevorzugt Intransparenz / Mainstream vernichtet den kritischen Journalismus / Mainstream macht Journalisten aus Aufpasser zum Anpasser / Mainstream bedeutet einen Realitätsverlust / Mainstream macht den Redaktionen und Journalisten noch mehr käuflicher / Mainstream führt zu einer Nivellierung der etablierten Politik / Mainstream macht „Politkorrektheit“ zur ideologischen Waffe und spaltet dadurch tief die Gesellschaft / Mainstream ist eine moralische Instanz / Mainstream ist von doppelten Standards vergiftet / Mainstream ist „Killer“ der Vernunft, Verantwortungsethik und politischen Alternativen / Mainstream wird zur geopolitischen Waffe des Westens / Dem Mainstream ist kein „schmutziger Handel“ zu schlecht / Dem Mainstream ist es nicht fremd, Fake News und Provokationen zu verbreiten / Mainstream ist eine gut organisierte Meinungsbildungsfabrik im Dienst der Macht / Mainstream geht aus dem Atlantismus heraus und heißt „Russenfeindlichkeit“ / Mainstream ist einen Angriff auf die Grundlagen der Demokratie

Mainstream ist ein gleichgeschaltetes Systemmedium

Ein Schimpfen auf die „Mainstream-Medien“ legt nah, dass es eine Anzahl von Leitmedien gibt, die immer dasselbe schreiben und senden. Nun gibt es tatsächlich eine feste Zahl von Leitmedien, die aufgrund ihrer Reichweite und Bedeutung eine Art „Kern“ des deutschen Mediensystems ausmachen und Taktgeber auch für andere Medien sind. Laut breite Journalistenbefragung sind dies Nachrichtensendungen von ARD und ZDF (TagesschauTagesthemenheuteheute-journal), die Tageszeitungen Süddeutsche ZeitungFrankfurter AllgemeineDie WeltFrankfurter Rundschautaz und als Boulevard-Riese die Bild-Zeitung, die Wochenzeitung Die Zeit, die Nachrichtenmagazine Spiegel und Focus, die illustrierte Stern sowie großen politischen Talkshow der öffentlich-rechtlichen Sender. Das sind die Orte, an denen ablesbar ist, was im öffentlichen Raum problemlos „sagbar“ ist und was nicht.

Medialer Mainstream ist ein mehr oder weniger weitgehender medialer Konsens in bestimmten Fragen, oder auch: eine Anzahl von Themen und Meinungen, die in einem bestimmten Zeitraum in der Medienlandschaft dominiert und damit eine „Hauptströmung“ oder eine „Hauptrichtung“ bildet. Kommunikationswissenschaftler sprechen bei Übereinstimmung in den Themen von hoher „Themenfokussierung“: Zu jeder Zeit gibt es dominierte Themen und dominierte Meinungen. Da kommt Weltanschauung ins Spiel, geht es um bewusste oder unbewusste Prämissen, externe Maßstäbe, politische Wunschvorstellungen – und das vertrackte Feld der menschlichen Wahrnehmung.

Die Fragen sind aber: Wie eng ist der Meinungskorridor? Wie viel Raum blieb für Abweichendes? Und vor allem: Wie relevant sind die aus der Diskussion ausgeschlossenen Informationen und Meinungen? (1)

Mainstream ist einseitig und präsentiert nur ein sehr enges Meinungsbild

Viele Themenaspekte fielen in den „gleichgeschalteten“ Medien unter den Tisch, unter anderen: Dass der Regierungswechsel in Kiew verfassungsrechtlich tatsächlich ein Staatsstreich, ein Putsch war; Janukowitsch war durch eine einfache Abstimmung im Parlament abgewählt worden, hätte aber eigentlich durch ein Amtsenthebungsverfahren abgesetzt werden müssen; dass am Erfolg der Euromaidan-Proteste waren tatsächlich militante Radikal-Nationalisten und Rechtsextreme maßgeblich beteiligt; dass Euromaidan-Spitzen wurden vor, während und nach den Protesten massiv von Westen unterstützt (aus Steuermittel der USA kamen seit 1991 über 5 Milliarden US-Dollar für die Demokratisierung der Ukraine, wie Victoria Nuland vom US-Außenministerium auf einer Konferenz erklärte); dass es nicht geklärt wurde, wer für die Scharfschützenmorde auf dem Maidan vom 20. Februar 2014 verantwortlich ist, die dem Sturz von Janukowitsch unmittelbar vorausgingen; dass ein grausamer Gewaltexzess in der südukrainischen Hafenstadt Odessa auf das Konto von militanten Maidan-Anhänger ging.

Obwohl selbst die Presse, wie es z. B. ARD-Chefredakteur Thomas Baumann gemacht hat, wies die Kritik für einseitige Ukraine-Berichterstattung „energisch zurück“ und verwies auf zahlreiche Beiträge und Sendungen, „die in der Summe die Lage in der Ukraine und die Ursachen der Krise differenziert und unter verschiedenen Aspekten thematisiert haben“, scheint aber genau das Wesen des Mainstreams einer demokratischen Mediengesellschaft zu sein: die kritischen Perspektiven und abweichende Meinungen durchaus einmal vorkommen, aber keinen Einfluss auf die Folgeberichterstattung und die von Tag zu Tag fortgesetzte Erzählung der Geschehnisse in den Hauptnachrichtensendungen und großen Zeitungen haben. (2)

Mainstream stellt Journalismus unter dem Druck der Politik, Wirtschaft und Machtelite

Tatsächlich basiert ein großer Teil journalistischer Inhalte nicht auf eigenständigen Themenideen und Recherchen, sondern auf der Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen, Ministerien, Behörden, Parteien, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen und anderen Institutionen. Weil: Wer langfristig Themen setzen und diesen strategischen Rahmen will, der gibt auch viel Geld für Studien, Umfragen und Rankings aus, die von Medien immer gern genommen werden. So sind die Journalisten von einem allgegenwärtigen Lobbyismus umgeben. In der Anlage der wissenschaftlichen Untersuchung stecken dann freilich Interessen von Antragsgebern. Wenn z. B. die Bertelsmann-Stiftung eine Studie über die Vorteile des transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP, einen „Chancenspiegel“ über die Mangel deutscher Schulen oder „Deutschen Weiterbildungsatlas“ herausgibt, dann betreffen diese Themen auch Geschäftsfelder der Bertelsmann-Konzern und dann steht meinst ein Interesse an Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung dahinter.

Ähnliches gilt für die politische Elite. Die Mitglieder des Parlaments und der Regierung sind sachkompetente Quellen, aber sie haben auch Interessen, Ziele und Agenden. Manche Probleme, an deren Bewältigung sich ihre Kompetenz zu erweisen hätte, wollen sie vielleicht gar nicht ernst zum öffentlichen Thema werden lassen, oder sie unterschlagen bestimmte Argumente, die ihrer Position gefährlich werden könnten.

Andererseits, wie es eine „Indexing“-Theorie besagt, tendieren die großen Medien dazu, die Spanne der Meinungen und Argumente in der offiziellen politischen Debatte, also im Parlament und der Regierung anzuzeigen, zu „indexieren“. Diese treffe auf Nachrichten, Berichterstattungen und sogar auf Kommentare, in denen die Journalisten ihre eigene Haltung darlegen, denn Journalisten wichtiger Medien suchten meist Rückendeckung aus dem Establishment. Kritik stellt aus dieser Sicht keine Eigenstellung des Journalismus dar, sondern ist auf Gelegenheitsstrukturen im politisch-parlamentarischen Raum angewiesen. Gibt es dort Streit, bekommen auch die Mediennutzer eine lebhafte mediale Debatte geboten; besteht aber dort über ein Thema ein Konsens, dann unterstützen die Medien die Regierungslinie. Anderslautende Stimmen aus der Zivilgesellschaft schafften es nur dann in die Leitmedien, wenn ihre Meinungen und Ideen ohnehin schon in Eliten-Kreisen kursieren, oder in einem negativen Kontext, etwa in Berichten über Proteste, Gesetzbrüche und Gewalt.

US-amerikanischer Politikwissenschaftler W. Lance Bennett, der diese Theorie entwickelt hat, betont, dass „Indexing“ kein absolutes, mechanisches Gesetz ist, sondern eine Daumenregel, die Journalisten meist unbewusst verfolgen, eine Verhaltenstendenz, von der es Abweichungen geben kann. Doch die Abweichungen seien umso geringer, je wichtiger das Thema ist. „Erinnert Sie das an etwas? An die Ukraine-Krise vielleicht, die Finanzkrise, die Rettung „systemrelevanten“ Banken, die Euro-Rettung und die Griechenland-Debatte? An die neoliberalen Reformen unter Schröder mit Sozialabbau, Deregulierung und Privatisierung? Oder an die Kriege, in die Deutschland gezogen ist?“ (3)

Mainstream bevorzugt Intransparenz

Es gibt in Deutschland vielen Hintergrundkreisen, von Journalisten organisiert, wo sich die Profis aus Politik und Journalismus begegnen und wo nie eine Kamera mitläuft. Der älteste von ihnen ist der Berliner Presseclub, gegründet 1952 und mit über 100 Mitgliedern wohl auch der größte. Im Bankettsaal des Hotels Albrechtshof finden seine Hintergrundgespräche mit Spitzenpolitikern statt, einmal im Jahr kommt die Kanzlerin. Der intimste Zirkel ist wohl der „Wohnzimmerkreis“: Er besteht aus zehn Journalisten, die ihre Treffen mit einem jeweils wechselnden Spitzenpolitiker reihum in ihren Wohnungen abhalten, wobei der jeweilige Gastgeber kocht. Gegründet hat den Kreis 1997 der FAZ-Hauptstadtkorrespondent Günter Bannas, die anderen Mitglieder kommen aus Süddeutscher Zeitung, Spiegel, Focus, Zeit, Berliner Zeitung, Cicero, ZDF, WDR und Deutschlandradio. Der Gründungsvater der bundesdeutschen Politiker-Hintergrundkreise war Konrad Adenauer, der als Kanzler regelmäßig ausgewählte Bonner Korrespondenten zu „Teegesprächen“ ins Palais Schaumburg lud, um in vertraulicher Salon-Atmosphäre über Gott und die Welt zu plaudern.

Was nur wenige wissen: Die Bundespressekonferenz wird nicht von der Regierung veranstaltet, sondern von den Journalisten, die im gleichnamigen Verein organisiert sind. Was noch weniger bekannt ist: Von einem Moment auf den anderen können die öffentlichen Pressekonferenzen zu Orten der Vertraulichkeit und Verschwiegenheit werden. Sagt auch ein Regierungsvertreter, dass er das Folgende „unter zwei“ oder „unter drei“ sagt, müssen alle Bild- und Tonmitschnitte gestoppt werden. Dann wird die Vorderbühne der politischen Kommunikation zur Hinterbühne, zu einem „Hintergrundkreis“.

Neben diesen Zirkeln, die von Journalisten selbst organisiert werden, laden auch Politiker ausgewählte Medienvertreter zu Hintergrundgespräche. So traf Angela Merkel am 30. September 2015, als täglich 8000 bis 10 000 Flüchtlinge die deutsche Grenze überquerte, mit den Intendantinnen und Intendanten aller öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Kanzleramt. Man sprach vor allem über die Flüchtlingskrise. Laut Auskunft des Bundespresseamtes handelte es sich dabei um einen „informellen Meinungsaustausch, der seit dem Frühjahr 2015 vereinbart war.“

Als eine von den Ergebnissen der Hintergrundgespräche ist die gut gemeinte Einseitigkeit der Regierung und der Presse. In der Ukraine-Frage schien es offenbar wichtig, Putin nicht in die Hände zu spielen und russlandfreundliche Haltungen in der Bevölkerung nicht zu sehr zum Tragen kommen zu lassen. In der Flüchtlingskrise im Sommer und Herbst 2015 war zu beobachten, dass die meisten deutschen Journalisten mit ihren Berichterstattungen ein Einvernehmen der Bevölkerung mit Merkels Politik der offenen Grenzen herzustellen trachteten.

Auf dem Höhepunkt der Willkommenskultur und des „Wir schaffen das“ waren die Sorgen weiter Teile der Bevölkerung vor einem Kontrollverlust der staatlichen Strukturen, die Schwierigkeit der Kommunen bei der Unterbringung der Flüchtlinge und auch die Integrationsprobleme, die mit einer kurzfristigen, massiven Einwanderung verbunden sind, medial unterpräsentiert (mit Ausnahme von einigen konservativen Medien). Journalisten betreiben möglich verstärkt „Integration durch Konsens“ in einer als instabil wahrgenommenen Lage – begleitet von einem Parteiensystem, das auch immer weniger unterschiedliche Positionen bietet, die man abbilden könnte. (4)

Mainstream vernichtet den kritischen Journalismus

Wer auf der Suche nach Erklärungen ist, warum die Medienvertreter so abhängig vom Diskurs der politischen Eliten sind, sollte in der Radaktionsküche der Prestige-Medien angucken. Sie verstehen sich auch als Plattformen des Elitediskurses – also als Orte, wo Politiker, Wirtschaftsführer oder Kulturschaffende mit Statements, Interviews oder Gastbeiträgen die öffentliche Debatte zu beeinflussen versuchen. Wer hier arbeitet, dem ist ein funktionierten, gut gepflegten Netzwerk zu Akteuren und Insidern nützlich.

Das Verständnis zwischen Journalisten und ihren Quellen ist eine Form des Tauschgeschäftes „Information gegen Publizität“: Der Journalist bekommt Informationen und verschafft im Gegenzug seiner Quelle (oder deren Anliegen) Öffentlichkeit. Am ehesten bekommen Hintergrundwissen, Exklusiv-Information oder Interview jenen Journalisten, mit denen Insidern auf eine Wellenlänge liegen und von denen sie keine ernsthafte Gefahr für die eigene Position befürchten müssen.

Ausgegrenzt von solchen Tauschgeschäften wurden höchstwahrscheinlich diejenigen Journalisten, die mit kritischen Fragen den Insidern auf den Geist gehen. Wer es sich mit allen verdirbt, etwa indem er auf unbequemen Wahrheiten beharrt, die alle anderen ignorieren, wer Konsens herausfordert und anerkannte Glaubenssätze hinterfragt, der kann von informellen Informationsflüssen abgeschnitten werden, der ist politisch tot.

Es entsteht im Journalismus ein Mainstream-Effekt: Das eine ist problemlos sagbar im öffentlichen Raum und entspricht dem Common Sense; mit dem anderen schwimmt man gegen den Strom und geht das Risiko ein, sich zu isolieren. Bei einem kann offensiv agieren und breite Palette etablierter Argumente und bekannter Phrasen nutzen; bei anderem muss die Argumentation sorgsam aufbauen und Einwände vorweggenommen werden. Bei einem muss man wenig Sorgen um Reputation zu machen; bei anderem besteht eine Gefahr, als „Ketzer“ sanktioniert zu werden.

Es dürfte nicht selten vorkommen, dass Journalisten sich im Zuge ihrer beruflichen Sozialisation zunehmend selbst zensieren. Wie Eisenspäne richten sich manche von ihnen auf Insider und Entscheider wie auf Magneten aus, und nur wer die Zeit, das Geld, die Nerven und die Fähigkeiten für Recherche und Reflexion hat, kann Farbtupfer, Abweichungen und Alternativen in den „enormen homogenen Brei“ der Mainstream-Medien bringen.

Dass der Journalismus aufgeregter und weniger gründlich geworden zu sein scheint, liegt auch daran, dass im Zuge der digitalen Revolution sein Geschäftsmodell erodiert. Mediennutzungsgewohnheiten haben sich geändert, Aufmerksamkeit verteilt sich neu, ist in soziale Netzwerke, Blogs, Wikis und Suchmaschinen abgewandert. Die Auflagen der Tagespresse sinken kontinuierlich: Über 5000 Journalisten und Redakteure sind laut Bundesagentur für Arbeit in Deutschland arbeitslos. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist in den Redaktionen groß. Die Folgen: angepasstes Verhalten in den Redaktionskonferenzen, häufiger vorauseilender Gehorsam, Vorsicht bei der Bearbeitung von Themen. Dementsprechend finden sich heute die abweichenden Meinungen und die Hinweise auf Systemfehler und gesellschaftliche Widersprüche vor allem außerparlamentarisch und in einer internetbasierten Gegenöffentlichkeit wieder – zum großen Teil bekämpft vom politisch-medialen Establishment.

Wie es Frank-Walter Steinmeier als Außenminister in jenen Herbsttagen 2014 auf einer Medienpreis-Gala bestätigt hat: „Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blätterte, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in den deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.“ (5)

Mainstream macht Journalisten aus Aufpasser zum Anpasser

Die Ambitionen der Journalisten, Kritik und Kontrolle auszuüben, haben im Laufe der letzten Jahrzehnte abgenommen. Kurz nach Ausbruch der Finanzkrise Ende 2008 urteilte Claus Hulverscheidt, damals Leiter der Berliner Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, über seine Zunft: „Viele Journalisten sind der Themenkonjunktur und den Beschwichtigungen von Seite der Politiker und Banker zu lange gefolgt.“ Bei vielen wichtigen Themen finden sich Indizien dazu, dass sich die großen Medien oft an die Deutungsmuster klammern, die politische (und andere Eliten) vorgeben. In einer repräsentativen Umfrage von TNS Emnid vom März 2016 kam heraus, dass die Mehrheit der Befragten (55 Prozent) meint, dass die Medien die Mächtigen im Land – also Staat, Regierung, Wirtschaft und einflussreiche Interessengruppen – eher stützen denn kritisch kontrollieren. Manfried Bissinger, einst Stern-Journalist und anschließend Geschäftsführer im Hoffman und Campe Verlag, schrieb in einem Essay, der Journalismus sei dabei, „seine Wächterfunktion aufzugeben“. (6)

Mainstream bedeutet einen Realitätsverlust

Schon der Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann, der ein viel beachtetes Buch namens „Höhenrausch: Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“ (2004) über den Realitätsverlust von Politikern und Journalisten schrieb, urteilte über seine Zeit als Hauptstadt-Büroleiter: “Je länger und enger ich in Bonn das politische Geschehen und dessen journalistische Verarbeitung miterlebte, desto unbehaglicher fühlte ich mich als Teil einer professionell betriebenen Verschwörung zur Unterdrückung von Wirklichkeit“. Sowohl Politiker als auch Journalisten achteten „sorgsam darauf, dass möglichst niemand aus der selbstgeschaffenen Vakuumwelt ausbricht. (7)

Mainstream macht den Redaktionen und Journalisten noch mehr käuflicher

Dass die Unternehmen ihre Macht als Werbekunden nutzen, um Redaktionen gefügig zu machen, ist keine neue Erfindung. Der Befund besteht darin, dass die Korrumpierung der Redaktionen durch ihre Werbebudgets selbst die Konzerne für bedenklich macht. „Unternehmen können heute in einem Ausmaß redaktionelle Berichterstattung kaufen, wie das früher völlig undenkbar war. Und sie machen davon gebraucht.“ Das sagt Jürgen Gramke, der Vorsitzende des Arbeitskreises „Corporate Compliance“, dem die Antikorruptions-Beauftragten zahlreicher DAX-Konzerne angehören. Dieser Arbeitskreis hat Anfang 2015 einen Kodex für die Medienarbeit von Unternehmen erlassen, der das Ziel verfolgt, die Trennung von Werbung und unabhängiger journalistischer Berichterstattung wieder einzuführen. Denn: „Nur unabhängige Medien gelten der Öffentlichkeit als glaubwürdig, und nur glaubwürdige Medien und glaubwürdige Berichterstattung über Unternehmen erreichen auf Dauer Einfluss auf die Öffentlichkeit“. Das steht im Kodex der Konzerne. Sie wollen also die Medien vor sich selbst schützen – verkehrte Welt. Das sei so ähnlich, wie wenn die Mafia die Berufsehre der Polizisten retten wollte.

Für die Journalisten sollte eigentlich anderer Ethik-Kodex gelten: „Journalisten machen keine PR.“ Doch viele freiberufliche Journalisten verdienen nebenher Geld mit PR-Arbeit für Unternehmen, die sehr viel besser bezahlt werden. Als im Frühjahr 2014 das Allensbach-Institut 432 Zeitungsjournalisten zu Pressefreiheit und Einflussnahmen von außen befragte, sagten 86 Prozent, und 79 Prozent der Meinung waren, dass die Grenze zwischen PR und Journalismus immer mehr verschwimmt und PR-Material immer öfter ungefiltert seinen Weg in die Medien findet. Außerdem wurde es als eine von größten Gefährdungen genannt, „dass Journalisten auf die wirtschaftlichen Interessen des eigenen Medienhauses Rücksicht nehmen müssen.“ Das ist selbstverständlich, weil ansonsten kämen in den Fokus der Kritik und der Begehrlichkeiten selbst die Milliardäre aus den Verlegerfamilien Springer, Mohn, Burda, Holtzbrinckt, Schaub oder Funke, denen viele Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender gehören. (8)

Mainstream führt zu einer Nivellierung der etablierten Politik

Von manchen Intellektuellen wird das gegenwärtige politisch-mediale Klima in Deutschland als links bzw. rot-grün-lastig empfunden. Doch kaum jemand wird behaupten, Deutschlands Leitmedien zur Überwindung des Kapitalismus aufrufen oder die Eigentumsverhältnisse grundlegend infrage stellen. Dass der mediale Mainstream im klassischen Sinne links geworden ist, stimmt auch nicht mit der Untersuchung der Qualitätspresse, die zum Thema „Armut und Reichtum“ im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Jahr 2013 gemacht wurde. Dort steht: „Eine Auseinandersetzung mit der Macht privater Großvermögen, die ihre Interessen ohne Worte zur Geltung bringen können, findet nicht statt. Der riesige Reichtum in den Händen weniger wird entweder überhaupt nicht kommentiert oder selbst dann nicht genauer durchleuchtet, wenn er kritisch bewertet wird.“

De facto ist aber, dass in den letzten Jahren eine schwarz-rot-grüne Koalition erwachsen hat, die in Sachen Freihandel, Waffenexporte, Auslandseinsätze und Kampfdrohungen große Schnittmengen aufweist. Nach der Schröders-Agenda 2010 ist die deutsche Sozialdemokratie nicht mehr ganz so „links“ gewesen, gleichzeitig hat sich die CDU in Sachen Zuwanderung, Mindestlohn, Familienpolitik, Umwelt- und Klimaschutz sozialdemokratischen und grünen Positionen angenähert. (9)

Mainstream macht „Politkorrektheit“ zur ideologischen Waffe und spaltet dadurch tief die Gesellschaft

Worin der mediale Mainstream tatsächlich rot-grün ist, kann am ehesten mit „pluralistischen Relativismus“ umschrieben werden: Multikulturalität und Vielfalt, Weltoffenheit und Toleranz, Gleichstellung und Minderheitenschutz, Antidiskriminierung und Gender-Mainstreaming – und gleichzeitig mit der Ablehnung und Bekämpfung von allem, was in diesem Sinne nicht „politisch korrekt“ ist. Ein solcher Medien-Mainstream kommt nun beinahe zwangsläufig in Konflikt mit den Teilen der Bevölkerung, die traditionellere Lebensentwürfe und eine kulturell homogene Heimat bevorzugen und die den angeblichen „irren Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“, wie es in der Untertitel eines Buches des deutsch-türkischen Rechtspopulisten Akif Pirinçci steht.

Ein tiefer Graben zwischen den gesellschaftlichen Eliten und einem nicht so kleinen Teil der Bevölkerung wurde zum Jahreswechsel 2014/15 sichtbar, als in Dresden Pegida-Anhänger auf die Straße gingen. Für das politisch-mediale Establishment war klar: kein Verständnis für diese außerparlamentarische Opposition von rechts. PEGIDA wurde als fremdenfeindlich und im Kern rassistisch charakterisiert. (10)

Mainstream ist eine moralische Instanz

Das zeigt anschaulich die Abwehr, mit der die etablierte Presse auf die Kritik reagiert. Viele Nutzerkommentare, auch sachliche, wurden gelöscht, gesperrt oder tagelang abgeschaltet. Beliebt war der Vorwurf von Medienschaffenden, die Kritik an der Ukraine-Berichterstattung stamme von „Putin-Trollen“, vom Kreml bezahlten Agenten, die versuchten, die öffentliche Meinung im Sinne Russlands zu manipulieren. Schließlich erlebte in den Abwehrversuchen der etablierten Publizisten gegen die „Mainstream- und Gleichschaltungsvorwürfe“ der Gegenvorwurf „Verschwörungstheoretiker“ eine wahre Blüte.

Es kommt das Gefühl, dass Medien – offenbar aus erzieherischem Impetus heraus – berichten, um die Nutzer vor Verwirrung über die „richtige“ Interpretation der Ereignisse zu schützen oder um zu verhindern, dass unerwünschte, aber weit verbreitete Einstellungen in der Bevölkerung (etwa Russlandfreundlichkeit, Antiamerikanismus oder Euroskepsis) öffentlich sichtbar und politisch wirksam werden. (11)

Mainstream ist von doppelten Standards vergiftet

Ein Beispiel dazu lieferten Debatten in der Wochenzeitung Die Zeit anlässlich der Ukraine-Krise. Geschichtsprofessor Jörg Baberowski forderte in seinem Artikel „Der Westen kapiert es nicht“ einen realistischen Blick auf die russische Politik und stößt sich dabei auf scharfe Kritik von sogenannten „Untersteller“, die die Welt, laut Baberowski, nur als schwarz oder weiß kennen. „In Kiew werden europäische Werte verteidigt, in Moskau werden sie mit Füßen getreten“, konstatiert Professor und fügt hinzu: „Für den Aufrichtigen kann es gar keinen Zweifel geben, dass Vorstellungen, die aus der Welt der Finsternis kommen, bekämpft werden müssen.“

Ein Weg zur Doppelmoral ist frei: „Erhebt ein Kritiker Einwände gegen das Diktat des politisch Korrekten, wird er moralisch abgewertet, im schlimmsten Fall ignoriert. Wer am Sinn der europäischen Währung zweifelt, muss sich dem Vorwurf aussetzen, er sei ein Gegner Europas und gefährde das europäische Friedensprojekt. Wer den Papst kritisiert, ist im Club der Aufklärer herzlich willkommen, wer Kritik am Islam übt, den erklären die Untersteller zum Rassisten.“

In der außenpolitischen Berichterstattung sind doppelte Standards nicht zu übersehen. Die völkerrechtswidrige, aber unblutige Annexion der Krim durch Russland erregte die Medienmacher um ein Vielfaches mehr als ebenfalls völkerrechtswidrige, aber blutige Angriffskriege und Drohneneinsätze der Verbündeten. Wird in Moskau oppositionelle Politiker Boris Nemzow auf offener Straße erschossen, ist das tagelang Top-Thema in den deutschen Medien, und in der Tageschau heißt es, die Schuldigen säßen im Kreml. Wird wenig später in Kiew auf offener Straße der oppositionelle Journalist und Euromaidan-Gegner Oles Busyna erschossen, ist das vielen Medien nicht einmal eine Meldung wert – obwohl das Ereignis Teil einer ganzen Serie von Morden an pro-russischen Publizisten und Politikern kurz nach dem Machtwechsel in der Ukraine war. Wird die Passagiermaschine MH-17 über der von Separatisten kontrollierten Ostukraine abgeschossen, lasten die großen Zeitungen sofort – nicht bevor es belastbare Fakten gibt – Putin persönlich die Schuld dafür an. Bombardierten US-Kampfpiloten das Krankenhaus der Ärzte ohne Grenzen im afghanischen Kunduz, ist das ein tragischer Fehler, der erst einmal sorgfältig untersucht werden kann.

Menschenrechtsverletzungen sind nicht gleich Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen nicht gleich Kriegsverbrechen – ihre Schwere und Skandalträchtigkeit hängt davon ab, wer sie begeht. (12)

Mainstream ist „Killer“ der Vernunft, Verantwortungsethik und politischen Alternativen

Es hat sich offenbar über viele Jahre eine Enttäuschungswut der Nutzer über die Medien angestaut, die mehr Anpasser als Aufpasser, mehr Regierungsversteher als Anwalt der Regierten zu sein scheinen. Vermitteln sie doch zumeist in ihrer Berichterstattungen gewollt oder ungewollt, dass die aktuelle Politik nicht nur vernünftig und verantwortlich, sondern auch alternativlos ist: von der Deregulierung der Finanzmärkte, die direkt in die Finanzkrise 2008 mündete, über die „Rettungspolitik“ für Griechenland, die die Schuldkrise nicht löst, bis zu einer westlichen Nahost-Politik, die eine ganze Region entstaatlicht und gigantische Flüchtlingsströme (mit-)produziert hat. Das böse Erwachen kommt immer später – und die Wachhunde, teilweise eingebunden in elitäre Netzwerke, Think Tanks und Lobbyorganisationen, in denen die jeweils aktuelle Politik als vernünftig und verantwortungsbewusst diskutiert wird, scheinen fast alle geschlafen zu haben. (13)

Mainstream wird zur geopolitischen Waffe des Westens

Ein klassisches Beispiel dazu liefert die gefälschte Aussage der iranischen Präsident Mahmud Ahmadinedschad bei einer Konferenz (2005), die jahrelang in den Massenmedien mit dem Satz zitiert wurde: „Israel muss von der Landkarte radiert werden“. Nur fünf Jahre später erscheint die korrekte Übersetzung der Aussage, die lautete: „Dieses Besatzerregime muss von den Seiten der Geschichte (wörtlich: Zeiten) verschwinden.“ Oder, weniger blumig ausgedrückt: „Das Besatzerregime muss Geschichte werden.“ Das ist keine Aufforderung zum Vernichtungskrieg, sondern die Aufforderung, die Besatzung Jerusalems zu beenden. Es ist wohl kein Zufall, dass solche dramatischen „Übersetzungsfehler“ so oft zulasten politischer Gegner des Westens und seines Establishments gehen, aber fast nie auf Kosten eines US-Präsidenten oder EU-Kommissars. (14)

Dem Mainstream ist kein „schmutziger Handel“ zu schlecht

Um den Quellen des Medien-Mainstreams auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, in Amerika der 1980er Jahre zurückzugehen. Damals erschütterte die sogenannte Iran-Contra-Affäre die Glaubwürdigkeit von US-Präsident Ronald Reagan. Alles fing damit an, dass der US-Kongress im Frühjahr 1983 dem Verdacht nachzugehen begann, dass CIA verdeckte Operationen gegen die linksgerichtete sandinistische Regierung in Nicaragua durchführte: Die konterrevolutionäre Armee, die „Contras“, wurde von Reagan Administration mit Geld unterstützte, das aus geheimen Waffenverkäufen an den Iran stammte. Das war doppelt pikant, denn der Iran galt seit Islamischen Revolution von 1979 offiziell als verfeindeter Staat, und im damals laufenden Iran-Irak-Krieg unterstützen die USA den Irak Saddam Husseins.

Unter den Parlamentariern und in der amerikanischen Bevölkerung war die Unterstützung des Contras höchst umstritten. Doch im Frühjahr 1986 kollabierte der oppositionelle Block im Parlament. Was war passiert? Reagan hat eine schmutzige Kampagne gegen einige Abgeordnete geführt, die zur Wiederwahl standen – in bezahlten Fernsehspots wurde ihnen etwa vorgeworfen, sie würden dem Kommunismus in die Hände spielen. Die Kritik an Reagans Nicaragua-Politik war nun verstummt und 1986 billigte der Kongress eine militärische Unterstützung für die Contras in Höhe von 100 Millionen Dollar. (15)

Dem Mainstream ist es nicht fremd, Fake News und Provokationen zu verbreiten

Man kann an den „Hufeisenplan“ erinnern, den Verteidigungsminister Rudolf Scharping während des Kosovo-Krieges zur Legitimation der deutschen Kriegsbeteiligung präsentierte. Schon damals hat ein Insider, General Heinz von Loquali, im ARD-Politmagazin Scharping der Lüge bezichtigt. Doch die Presse interessierte sich dafür nicht: Fast alle Medien hielten die Scharpings Kriegspropaganda für plausibel und den Plan als Tatsache aus.

Als drei Jahre später der Irak-Krieg seine Schatten vorauswarf und US-Außenminister Colin Powell der UN-Vollversammlungen gefälschte Belege für die Behauptung vorlegte, Saddam Hussein versteckte Massenvernichtungswaffen, war Skepsis für viele Medien wieder ein Fremdwort.

Die Einbeziehung der Medien zur Verbreitung von Lüge (Fake-News) ist aber keine Erfindung der Neuzeit, wie es im Fall des Scharpings „Hufeisenplans“ oder bei dem Colin Powells gefälschten Belegen aussehen kann. Auch das Eingreifen der USA in den Vietnam-Krieg 1964 war mit einer provokatorischen Lüge legitimiert worden. Nordvietnamesische Schnellboote hätten im Golf von Tonkin zwei amerikanische Kriegsschiffe ohne Anlass beschossen – ein Angriff, der laut den 1971 enthüllten „Pentagon-Papieren“ gezielt vorgetäuscht worden war. (16)

Mainstream ist eine gut organisierte Meinungsbildungsfabrik im Dienst der Macht

Ein gutes Beispiel dazu ist die fast schon legendäre Rede von damaligem Bundespräsident Joachim Gauck „Deutschlands Rolle in der Welt: Anmerkungen zu Verantwortung, Normen und Bündnissen“ (2014). Die Bundesrepublik werde zwar „nie rein militärische Lösungen unterstützen“, dürfte aber zu Militäreinsätzen nicht „aus Prinzip ‚Nein’“ sagen. Denn „das Konzept der Schutzverantwortung … überträgt der internationalen Gemeinschaft den Schutz der Bevölkerung vor Massenverbrechen, wenn der eigene Staat diese Verantwortung nicht übernimmt.“ Auf der Konferenz stießen auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und Außenminister Frank-Walter Steinmeier in dasselbe Horn. Das geschah gerade im Vergleich zur repräsentativen Bevölkerungsumfrage von TNS Infratest im Auftrag der Körber-Stiftung, die feststellt hat, dass nur 37 Prozent den Befragten der Ansicht waren, Deutschland sich bei internationalen Krisen stärker engagieren sollte, und nur 13 Prozent mehr Militär-Einsätze der Bundeswehr wollten.

Eine „ziemliche Sensation“ sei das gewesen, urteilte wenige Tage nach der Gauck-Rede die Wochenzeitung Die Zeit und meinte anerkennend, Deutschland nehme endlich „Kurs auf die Welt“. In der danach entfalteten Diskussion äußerten einige deutsche Journalisten noch deutlicher für die neue Rolle Deutschlands in der Welt. So erläuterte Josef Joffe in der Zeit: „War of chice lautet der englische Begriff, wenn ein Staat seine Soldaten einsetzt, ohne dass eine unmittelbare Gefahr droht. Das tut er dann im Namen eines ‚erweiterten Sicherheitsbegriffes’, der einst Raub und Expansion begünstigte, aber heute, zumal im deutschen Kontext, nicht als zynische Maskerade verhöhnt werden sollte.“ „Sicherheit reicht mittlerweile geografisch bis zum Hindukusch und wirtschaftlich bis zu den Ursachen des Terrorismus“, erführen auch die Welt-Leser durch Michael Stürmer.

Er wurde gleichzeitig von den Zeit-Journalisten die Vorgeschichte der drei Redner an der Sicherheitskonferenz rekonstruiert. Dabei wiesen die Journalisten eine Schlüsselrolle dem Projekt „Neue Macht – neue Verantwortung“, das vom German Marshall Fund of the United States und der Stiftung Wissenschaft und Politik von November 2012 bis Oktober 2013 durchgeführt worden war. Eine Arbeitsgruppe mit der Beteiligung von Vertretern von Denkfabriken, Völkerrechtsprofessoren, Journalisten sowie den führenden Außenpolitikern trifft sich in Berlin, um über eine außenpolitische Strategie für Deutschland zu sprechen. Das Projekt wurde direkt aus Washington bestellt, von Chef des German Marshall Fund. Das war damals Thomas Kleine-Brockhoff, der vor seiner Tätigkeit beim German Marshall Fund als Washington-Korrespondent der Zeit gearbeitet hatte und kurz danach Planungschef des Bundespräsidenten wurde; über seinen Schreibtisch ging auch die Rede von Gauck, wo der Geist des Abschlusspapiers zum Projekt „Neue Macht – neue Verantwortung“ wiederfand.

Von außen sieht die Gaucks Rede als eine geschickt inszenierte Lobbykampagne aus, um das Meinungsklima in der Bevölkerung – prinzipiell friedlich – zu drehen. Von Innerem ist das noch ein Zeichnen der tiefen Verflechtung des deutschen Journalismus und internationalen Machteliten. Für die Teilnahme an den vertraulichen Maßnahmen sind nur anpassende Journalisten als „strategische Partner“ einbezogen, nach Prinzip: Eliten suchen sich ihre Mitläufer aus, auch die Journalisten, und treiben eine hervorragende Personal- und Ausbildungspolitik. Als Beispiel könnte Nokolas Busse genannt werden, der als FAZ und lange Jahre als Nato- und EU-Korrespondent in Brüssel gearbeitet hat, bevor er 2014 zum stellvertretenden Außenpolitik-Ressortleiter aufstieg. Busse beteiligte am Projekt „Neue Macht – neue Verantwortung“, beim Irakkrieg 2003 unterzeichnete er mit vielen anderen Mitgliedern und Freunden des Vereins Atlantik-Brücke eine Zeitungsanzeige, in der es hieß: „Heute, da die Welt sich gegen Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wehren muss, bekräftigen wir die Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten“. Zwei Jahre zuvor hatte er bereits seine Verbundenheit zu Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping gezeigt, als der wegen des Einsatzes von Uranmunition auf dem Balkan ins Kreuzfeuer der Kritik geriet.

Zu den „ausgewählten“ – sogenannten Alpha-Journalisten – gehört Theo Sommer, der während seiner Zeit als Chefredakteur Die Zeit im Beirat der Bertelsmann-Stiftung, des Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr und des German Marshall Fund of the United States saß. Besonders eng in Kontakt war er mit Spitzenpolitikern, Konzernchefs, Bankern und Militärs durch seine Tätigkeit bei der Bilderberg-Konferenz.

Die Bilderberg-Konferenz war 1954 gegründet worden als ein vertrauliches Forum für Eliten aus Westeuropa und Nordamerika, den beiden Weltregionen, die damals den unangefochtenen Kern des kapitalistischen Weltsystems darstellten. Aufstieg Japans schien es zu Beginn der 1970 Jahre dem US-Bankier David Rockefeller angebracht, den Kreis der Beratungen und Vertreter aus Ostasien zu erweitern. Als Ableger von Bilderberg wurde daher 1973 die Trilaterale Kommission gegründet, ebenfalls ein privater, elitärer Zirkel für Außenpolitik, ebenfalls mit Theo Sommer als Mitglied.

Es könnte viele andere Journalisten genannt werden, die „aus staatsbürgerlicher Pflicht“ in den verschiedenen Gremien sitzen und die Öffentlichkeit gegebenenfalls beeinflussen. Zu solchen Gremien gehört z. B. der Beirat des Vereines „Atlantische Initiative“, der die Verständigung zwischen Deutschland und den USA fördert; oder Präsidium der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, die sich als gemeinnützige Verein zur Aufgabe gemacht, „das Verständnis für die Ziele des Atlantischen Bündnisses zu vertiefen und über die Politik der Nato zu informieren“ – also Lobbyarbeit für das stärkste Militärbündnis der Welt zu machen; oder Atlantik-Brücke, dieser 500 Mitglieder starken elitären Verein, der den deutschen und amerikanische Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik, den Streitkräften, der Wissenschaft, den Medien und Kultur die Rahmen für vertrauliche Gespräche anbietet, aber auch Nachwuchsführungskräfte unterstützt, die auf den ‚Young Leaders’ – Konferenzen Netzwerke schmieden und den transatlantischen Dialog in der kommenden Generationen lebendig halten sollen.

Konferenzen und regelmäßige Treffen dienen vor allem der Pflege der transatlantischen Beziehungen und der vertraulichen Diskussionen aktueller weltpolitischer Probleme. In manches Dienen will man zu einem Konsens kommen, bevor man sich in der Öffentlichkeit gegenseitig zerfleischt. Dieser Konsensfindung wohnen stets auch ausgewählte Alpha-Journalisten bei. „Ich darf zwar nicht berichten über die Tagung, habe aber als Journalist durchaus meinen Nutzen davon“, erzählte Theo Sommer in einem Interview. „In diesen zwei, drei Tagen habe ich doch so viel gehört, dass ich als Leitartikel in den nächsten sechs Monaten irgendwo unterbringen kann.“ Und: „Das ist Networking auf sehr hohem Niveau.“

Als eine Kabarettnummer in der ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ vom April 2014 diese transatlantischen Netzwerke einem breiten Publikum bekannt machte und die Vertrauenskrise der Medien damit erheblich befeuerte, reagierten die angegriffenen Journalisten empfindlich. Doch vieles weist darauf hin, dass ihre Position in den wichtigen Diskursen an den offiziellen Dokumenten von Bundesregierung, EU, NATO und USA ähneln, u. a. bei Sicherheitspolitik. Alle sind sich einig, dass Deutschland das Bündnis mit den USA pflegen muss, um den Bedrohungen angemessen begegnen zu können. Stefan Kornelius (Süddeutsche Zeitung): „Wer nach der Alternative zur Nato Ausschau hält, der wird schnell enttäuscht werden: Es gibt keine bessere.“ Josef Joffe (Zeit): „Tante Nato ist nicht sexy, aber nützlich.“ Michael Stürmer (Welt): „Deutschlands Sicherheit bleibt eine Ableitung aus der europäischen Architektur, diese eine Ableitung aus der amerikanischen ‚Grand Strategy’“. Angesichts der Tatsache, dass die Deutschen mehrheitlich skeptisch gegenüber Nato-Militäreinsätzen, insbesondere dem in Afghanistan, eingestellt sind, forderten sie alle die deutsche Politik zu verstärkter Überzeugungsarbeit und mehr Führung auf.

Offensichtlich bewegten sich die Journalisten weitgehend innerhalb der Grenzen des außen- und sicherheitspolitischen Elitendiskurses, der von westlichen Regierungen, transatlantischen Denkfabriken und elitären Netzwerken geführt und mitgestaltet wird. (17)

Mainstream geht aus dem Atlantismus heraus und heißt „Russenfeindlichkeit“

Die außenpolitischen Debatten in Deutschland haben „einen merkwürdigen amerikanischen Akzent“. Diese amerikanische Perspektive ist aber legitim, weil sie eine von vielen möglichen Sichtweisen auf die Welt ist. Vielleicht sind die Verbindungen der Journalisten zu den Denkfabriken, Eliten-Konferenzen, Vereinen und Lobbyorganisationen auch deshalb erst entstanden, weil schon vorher eine geistige Nähe und gemeinsame Wertvorstellungen vorhanden waren. SZ-Ressortleiter Kornelius war jahrelang Washington-Korrespondent, Zeit-Mitherausgeber Joffe hat in Amerika studiert, promoviert und gelehrt. FAZ-Außenpolitikchef Frankenberger hat in jungen Jahren Amerikanistik studiert und bei einem Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus gearbeitet.

In Politik und Presse galten Ludwig Erhard, Gerhard Schröder und Kai-Uwe von Hassel, Der Spiegelder SternDie Zeitdas Sonntagsblatt und Christ und Welt als atlantische Größen. Die Welt und die Bild legen ihren Mitarbeitern als Bestandteil der Axel Springer SE sogar ein Bekenntnis zu deren Grundsätzen auf, darunter die „Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.“

Der Kalte Krieg ist vorbei, die „gemeinsamen langfristigen Interessen“ sind aber geblieben. In Sachen Ukraine-Berichterstattung erklärt sich z.B. die Sorge transatlantisch eingestellte Politiker und Journalisten, dass für ihr Empfinden ohnehin viel zu russlandfreundliche deutsche Publikum könne durch Argumente, die Verständnis für Russlands Politik wecken, von einer „korrekten“ bzw. politisch gewünschten Interpretation der Ereignisse abgebracht werden. So fürchtete die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, dass Putins Propaganda bei der deutschen Bevölkerung „offene Türen einrennt“ – denn die sei dafür empfänglich. Zum einen durch das „berechtigte Gefühl einer historischen Schuld gegenüber Sowjetunion, die aber wahrgenommen wird als Schuld gegenüber Russland“, und zum zweiten, weil „der politische Blick bei Teilen der Bevölkerung durch einen heftigen Antiamerikanismus überlagert wird“. Offenbar wollten in der Ukraine-Frage viele Politiker und Journalisten pro-russischen Argumenten wenig Raum geben, um ein Gegengewicht zu der vermuteten „Russophilie“ der deutschen Bevölkerung zu schaffen.

Die emeritierte Politik-Professorin Maria Huber, ehemalige Moskau-Korrespondentin der Zeit, urteilt über die amerikanischen Bemühungen des Demokratie-Exports in die Ukraine, es gehe Grundsätzlich um Geopolitik und Einflusszonen, vor allem um die Eindämmung Russlands. (18)

Mainstream ist einen Angriff auf die Grundlagen der Demokratie

Solche Schlussfolgerung lässt sich ohne Zweifel aus der von Uwe Krüger vorgenommene Untersuchung machen. Besonders beeindruckend ist der mediale Angriff auf die Meinungsfreiheit – auf dem Fundament der Demokratie in einer Informationsgesellschaft. Dabei handelt es sich nicht nur um die Presse, die ein fester Spitzname „Lügenpresse“ bekommen hat, sondern um ein ganzes politisches System, das die freien Äußerungen unter dem Druck einsetzt: in der Öffentlichkeit und in der Schule, im Parlament und in den Universitäten. Die Freiheit als Freiheit des uneingeschränkten Denkens – diesen höchsten Ausdruck der Demokratie – gilt nicht mehr als Ausdruck der politischen Kultur. Sogar in den Universitäten, die traditionell als Hochburg der Meinungsfreiheit betrachtet sind, sinkt die Toleranz gegenüber den Andersdenkenden. „Ob in Siegen, Frankfurt oder Köln: An den Universitäten werden zunehmend missliebige Meinungen unterdrückt und Professoren an den Pranger gestellt. Die Hochschulen verlieren damit nicht nur ihre Funktion als Orte der kritischen Auseinandersetzung, auch die demokratische Kultur geht verloren“, stellt z. B. Cicero im Beitrag vom 27. Mai 2019 „Der Kampf um den Kanon“. (19)

Die Meinungsfreiheit wird sich also aus dem offenen Raum allmählich ausrotten, mithilfe der Formel: Meinung ist frei, aber nur nach bestimmtem Vorbild. In einer Allensbach-Umfrage (Mai 2019) äußern fast zwei Drittel der Befragten das Gefühl, man müsse im öffentlichen Raum „sehr aufpassen“, was man sagt. Im Cicero-Beitrag „Der kategorische Imperativ neospießiger Shitstormmoral“ (Juni 2019) hat Dr. Stefan Grüll gerade gezeigt, wie groß die Angst eines Normalbürgers vor sonst einsetzender gesellschaftlicher Ächtung ist. „Manche Kreise tolerieren nur noch ‚linkes‘ Sprechen und Handeln, schreibt Autor, und fragt: Ist das die vielgepriesene Freiheit?“ (20)

1. Krüger; Uwe: MAINSTREAM. Warum wir den Medien nicht mehr trauen, Verlag C.H. Beck, München, 2016, S. 29-32, 41.

2. Ebenda, S. 10-14.

3. Ebenda, S. 18, 49, 50. 51. 52, 60-62, 69.

4. Ebenda, S. 105-110, 122-123.

5. Ebenda, S. 17, 26-27, 49, 85-86, 110-111, 130.

6. Ebenda, S. 18, 21-22, 38-39, 65.

7. Ebenda, S. 110-111.

8. Ebenda, S. 49, 54-56, 71-72.

9. Ebenda, S. 71-74.

10. Ebenda, S. 71-74.

11. Ebenda, S. 15-16, 138.

12. Ebenda, S. 25-26, 138-140.

13. Ebenda, S. 137-138.

14. Ebenda, S. 44.

15. Ebenda, S. 58-59.

16. Ebenda, S. 12, 58-59, 67.

17. Ebenda, S. 66-67, 87-100.

18. Ebenda, S. 11, 34-36, 100-101.

19. https://www.cicero.de/kultur/political-correctness-linke-rechte-universitaet-diskussion

20. https://www.cicero.de/innenpolitik/meinungsfreiheit-fdp-gesellschaft-rezo-boris-palmer